Benutzer:Kassander der Minoer/Amerikanismus

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Blick von außen nach innen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Lesenswertes Fundstück über den Amerikanismus

Auszug aus einem Buch von H.L.Mencken, „Kommentare und Kolumnen 1909-1935“


Als vor einigen Wochen in Berlin die Clans zusammenkamen, um den sechsten Jahrestag der Deutschen Republik (1924) zu feiern, gelangte der Redner des Tages mit folgendem Satz zum Höhepunkt seiner Ansprache:

„Die Amerikanisierung unseres nationalen Lebens ist eine verderbliche Tendenz, von der wir uns emanzipieren müssen!“

Diese bemerkenswere Aussage wurde von der amerikanischen Presse relativ wenig beachtet; wenn sie überhaupt erwaöhnt wurde, dann meist mit der Erläuterung, daß die Deutschen immer noch an ihren Kreigswunden leiden würden und auf unseren ungeheuren Reichtum neidisch seien. Dies halte ich jedoch für eine oberflächliche Interpretation. In Wahrheit denken die Deutschen nur sehr wenig an ihre Kriegswunden, die ja schießlich nicht tödlich waren, vielmehr kümmern sie sich hauptsächlich um die Zukunft. Und unser Wohlstand macht ihnen keine großen Sorgen, weil sie darin die Garantie ihres eigenen sehen; was wir, mit dem Vorteil ganz auf unserer Seite, heute leisten, nehmen sie sich für morgen vor, für die Zeit, in der de Chancen sich aneinander angenähert haben werden.

Sie sind genauso hiner dem Dollar her wie wir und ebenso entschlossen, ihn sich zu holen, sei es mit fairen oder unfairen Mitteln. Nicht dieses in der modernen Welt nahezu universelle Streben haben sie im Sinn, wenn sie von den Gefahren der Amerikanisierung reden. Vielmehr denken sie an etwas ganz anderes. Allgemein könnte man darunter den Verfall geistiger Werte verstehen, der sich bei uns während der letzten beiden Generationen vollzogen hat. Im besonderen handelt es sich um unsere besondere Unduldsamkeit gegenüber den freien Spiel der Ideen, unsere um sich greifende Neigung, alle Tugenden auf eine einzigen, nämlich die Anpassung, zu reduzieren, unsere rücksichtslose und alles erfassende Tendenz zur Vereinheitlichung. Das ist es, was Europa fürchtet, wenn es über die wachsende Macht und Bedeutung der Vereinigten Staaten nachdenkt. Es denkt weder an J.P. Morgan noch an General Pershing, sondern an Henry Ford. Mit Amerikanisierung ist Fordisierung gemeint - und nicht nur in der Industrie, sondern auch in Politik, Kunst und Religion.

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Wer wissen will, wie sich die Vereinigten Staaten von heute einem nachdenklichen Europäer darbieten, verschafft sich am besten das kleine Buch „Americanization: A World´s Menace“; der Verfasser, W.T. Colyer, ist Mitglied der britischen Labour-Partei. Das Buch ist bei der britischen Labour Publishing Company erschienen; es gibt auch eine amerikanische Ausgabe, aber der Name des Verlags ist mir entfallen. Jedenfalls scheint es kaum beachtet worden zu sein und hat keinerlei Eindruck hinterlassen. Gleichwohl ist es ein bemerkenswertes Buch, und zwar aus zwei Gründen: erstens ist es mit sehr viel Anmut und Charme geschrieben - undenkbar auf unserer Seite des großen Teiches, wo Labour-Führer nahezu Analphabeten sind. Zweitens ist es das Werk eines Mannes, der die Vereinigten Staaten sehr genau kennt und jede seiner Behauptungen mit Namen und Daten untermauert.

Aus diesem Grund kann es nicht als der übliche Reiseeindruck, als Ergebnis flüchtigen Hinsehens und falscher Schlüsse abgetan werden. Mr. Colyer hat mehrere Jahre hier gelebt und das Land von einem Ende zum anderen bereist. Und alles hat er mit offenen Augen und stets gespitztem Bleistift beobachtet. Das Ergebnis ist eine beeindruckende Faktensammlung über das Leben der Amerikaner in diesem dritten Halbjahrhundert dieser Republik, ergänzt durch eine Reihe außerordentlich scharfsinniger und niederschmetternder Bemerkungen dazu. Mr. Colyer ist nicht blind für das, was wir erreicht haben. Er sieht eine Wildnis, die für Pflugschar und Automobil erschlosen wurde. Er sieht aber auch ein Volk, das ins Joch gespannt wurde.

Dieser gnadenlosen Einebnung des Individuums gilt seine Aufmerksamkeit, und er stellt sie seinen Landsleuten als warnendes Beispiel hin. Die Amerikaner, sagt er, haben es in der Welt zu etwas gebracht, weil sie einfach alles andere dafür aufgeopfert haben. Am Anfang ihres Daseins als Nation haben sie einen Kodex unveräußerlicher Menschenrechte aufgestellt, dann aber ist eins dieser Rechte nach dem anderen über Bord gegangen. Keine andere Nation ist so streng reglementiert. Die Gier, zu standardisieren und regulieren, erstreckt sich bis in die banalsten Einzelheiten des Privatlebens hinein.

Und sie geht sogar noch weiter, erfaßt über das Handeln hinaus auch die Gedanken. Diese oder jene Idee ist tugendhaft und „amerikanisch“; ihr Gegenteil ist sündig. Mr. Colyer hält ein solches Denken für unerträglich gefährlich - auf lange Sicht, so glaubt er, wird es jegliche Intelligenz ersticken und einer kriecherischen und entwürdigenden Dummheit zum Durchbruch verhelfen. Ja, er ist der Ansicht, dass das Volk der Vereinigten Staaten bereits weit auf diesem deprimierenden Weg vorangeschritten sei.

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Würde sein Buch nur die Meinung eines einzelnen zum Ausdruck bringen, könnte man es für interessant und vielleicht sogar lehrreich halten, aber wichtig wäre es nicht. Es stellt jedoch weit mehr als nur die Meinung eines einzelnen dar. Wenn Sie Fremdsprachen beherrschen, kaufen Sie sich einen Stoß franösischer, deutscher und italienischer Zeitungen. Fast überall wird Ihnen ein Widerhall dieser Meinung begegnen. Und wenn Sie als guter Amerikaner nur eine Sprache beherrschen, kaufen Sie sich einen Stoß bitischer Zeitungen: in mindestens zwei Dritteln davon werden Sie ebenfalls dieser Ansicht begegnen.

Kurz, Europa sieht im Amerikanismus eine Art philisterhaften Aufstand gegen den freien Menschengeist - eine Verschwörung dummer, phantasieloser Menschen, die durch Zufall an die Macht gelangt sind, gegen alle Ideen und Ideale, mit denen es diejenigen halten, die ihnen überlegen sind. Henry Ford mit seiner Entdeckung, daß Geschichte Unsinn und Wissenschaft Betrug ist, erscheint den Europäern als der typische Amerikaner schlechthin. Er ist, auf seinem Gebiet, ein Mann von großer Tatkraft und sehr respektablen Talenten. Er hat nützliche Arbeit geleistet und vielleicht einen Teil seiner ungeheuren Einnahmen tatsächlich verdient. Aber er will sein Gebiet unbedingt verlassen und sich auf solchen tummeln, die ihm fremd und unzugänglich sind, und er will den Regierungen der Bewohner dieser Gebiete Vorschriften machen. Das ist es, was Europa unter Amerikanismus versteht, unter Amerikanisierung. Und davor hat es Angst.

Der Prozeß gegen den gottlosen Scopes hat, glaube ich, viel zu diesen Ängsten beigetragen. Er hat in den europäischen Zeitungen mehr Furore gemacht als die Wahl Coolidges, sogar mehr als der Tod Hardings. Tagelang hat er die Schlagzeilen beherrscht. Und welche Lehre hat man daraus abgeleitet? Erstens, daß dem amerikanischen Volk jeglicher normale intellektuelle Anstand abhanden gekommen sei - daß die Amerikaner willens, ja schier erpicht darauf seien, ihre Verachtung für jedes solide Wissen und jeden gesunden Menschenverstand vor aller Welt zur Schau zu stellen. Zweitens, daß man recht daran tue, eine Nation, die solche Ansichten und Gefühle hege und die über das Geld und die Menschen verfüge, diese anderen aufzuzwingen, sehr sorgfältig zu beobachten.

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Europa erfährt relativ wenig von dem, was von amerikanischen Künstlern und Wissenschaftlern, Philosophen und Journalisten, oft gegen beträchtliche Widerstände, geleistet wird. Es besitzt selbst eine hinreichende Anzahl solcher Menschen, und naturgemäß gilt seine Aufmerksamkeit zunächst einmal ihnen. Sie genießen dort drüben enormes Ansehen, nicht zu vergleichen mit den hiesigen Verhältnissen. Ein Anatole France ist in Frnakreich ein Prominenter, der von jedermann, ja selbst von Politikern, geachtet wird. Ein Richard Strauss ist in Deutschland mehr als bloß ein Musikmacher, er ist eine öffentliche Institution und hat als solche bedeutenden Einfluß, Wir stellen solche Männer sehr viel tiefer, und daher haben wir auch weniger von ihnen; und Europa, das mehr und bessere besitzt, erfährt umso weniger von den wenigen, die wir haben.

Andererseits hat Europa keine Männer wie Henry Ford, William Jennings Bryan, Gimlet-Eye Butler, Major Hylan oder Wilbur Volivas, und daher faßt es an ihnen ein augenblickliches und starkes Interesse, sobald sie in Amerika auf den Plan treten. Es bemerkt, daß das amerikanische Volk, oder jedenfalls die große Mehrheit des amerikanischen Volks, diese Männer sehr ernst nimmt, und schließt daraus nicht ohne Grund, daß genau sie die wahren Repräsentanten Amerikas sind. Es hört, Bryan sei dreimal beinahe ins Weiße Haus gelangt - und dann hört es, er sei ein heftiger Gegner der Theorie, nach welcher der Mensch ein Säugetier ist. Es hört, Butler sei ein Offizier und trage die amerikanische Uniform - und dann hört es von seinem possenhaften Engagement für die Sache der Prohibitionisten. Es hört, Ford sei der reichste Mann eines Landes, in dem Reichtum mehr gilt als jeder anderer Wert - und dann hört es, daß er die Gelehrten schmäht wie ein Bauer in der tiefsten Provinz.

Solche Phänomene überraschen Europa - und schockieren es. Sie verletzten alle seine Begriffe von Schicklichkeit und Anstand. Es kann sich auch nicht vorstellen, daß ein zivilisiertes Volk dergleichen hinnimmt, ohne sofort wütend auf die Barrikaden zu gehen. Und es folgert daraus, daß die Amerikaner trotz ihres enormen Erfolges, was das Anhäufen von Dollars betrifft, noch einen weiten Weg vor sich haben, bis sie als vollkommen zivilisiertes Volk gelten können. Europa schaudert, wenn es das Wort „Amerikanisierung“ hört.

Kolumne in „The Chicago Sunday Tribune“, 30. August 1925. Deutsch von Werner Schmitz. Nachdruck bei Manufactum.


(..und warum es hier steht? Ersetzt mal jeweils sinnentsprechend „Amerikanismus“ durch "Wikipedia-DE“ , "Web 2.0" oder "Wikipedisierung". Passt das?)