Benutzer:MonsieurRoi/Metaphysische Dichtung

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John Donne

Als Metaphysische Dichtung (engl.: metaphysical poetry) werden die lyrischen Werke einiger englischer Dichter des siebzehnten Jahrhunderts bezeichnet. Es handelte sich dabei in der Regel um Liebes- oder religiöse Lyrik, deren Diktion, Bildersprache und Formen mit vielen elisabethanischen und petrarkistischen Konventionen brachen. Die bekanntesten und bedeutendsten Metaphysischen Dichter sind John Donne, George Herbert und Andrew Marvell, als weitere Vertreter gelten Thomas Carew, Richard Crashaw, John Cleveland, Richard Lovelace, Henry Vaughan und Thomas Traherne.

Die Metaphysischen Dichter bildeten jedoch keine bewusste Dichterschule und wurden erst seit dem achtzehnten Jahrhundert so bezeichnet und im zwanzigsten Jahrhundert kanonisiert.[1] Zudem bezieht sich das Adjektiv „metaphysisch“ nicht auf die Inhalte sondern auf den Stil ihrer Werke, d. h. vor allem auf die semantische Dichte, die erreicht wird durch geistreiche und verrätselte Gedankenfiguren wie concetti, die inhaltlich auf zahlreiche Gebiete wie Alchemie, Biologie, Astronomie, Geographie, Philosophie (insbesondere Neuplatonismus), Mythologie, Theologie oder Kriegsführung zurückgreifen. Metaphysische Dichtung handelt also nicht eigentlich von Metaphysik, sondern meist von persönlichen Liebes- und Glaubensangelegenheiten.

Begriffs- und Rezeptionsgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Erstbeleg für das Adjektiv „metaphysisch“ im Zusammenhang mit dieser Dichtung stammt aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Der schottische Autor William Drummond schrieb in einem Brief von „metaphysischen Gedanken und gelehrten Washeiten“ einiger zeitgenössischer Autoren.[2] John Dryden legte 1693 in einem Essay über John Donne sein Missfallen dar: „Er tangiert die Metaphysik, nicht nur in seinen Satiren sondern auch in seinen Liebesversen, in denen die Natur vorherrschen sollte, und er verwirrt die Gemüter des schönen Geschlechts mit anmutigen philosophischen Spekulationen, wo er ihre Herzen ergreifen und sie mit der Sanftheit der Liebe unterhalten sollte.“[3]

Seitdem wurde der Begriff „metaphysisch“ häufiger, und in der Regel negativ konnotiert, vor allem auf John Donne bezogen. Im Jahr 1728 schrieb John Oldmixon über Donnes „metaphysische Liebesgedichte“[4] und im späten achtzehnten Jahrhundert sprach Samuel Johnson von „einer Gattung von Schriftstellern, die als Metaphysische Dichter bezeichnet werden können“[5] und prägte somit endgültig den Begriff.

Im achtzehnten Jahrhundert wurde der Metaphysischen Dichtung zumeist vorgeworfen, Diktion und Komposition zugunsten von Witz und Metaphorik zu sehr zu vernachlässigen.[6] Erst im neunzehnten Jahrhundert begann man, die Metaphysische Dichtung wertzuschätzen. Dabei standen wieder die außergewöhnliche Wortgewandtheit und Bildersprache im Fokus. Zu den Bewunderern zählten Samuel Taylor Coleridge[7] und Thomas De Quincey[8]

Im zwanzigsten Jahrhundert erfuhr die Metaphysische Dichtung ihre endgültige Aufwertung durch J. C. Grierson und T. S. Eliot. Grierson veröffentlichte 1906 eine Studie zur englischen Lyrik des siebzehnten Jahrhunderts und widmete 1909 in seiner Cambridge History of English Literature John Donne ein Kapitel. Im Jahr 1921 veröffentlichte er eine Anthologie Metaphysischer Dichtung[9] und T. S. Eliots Rezension dieser Ausgabe blieb nachhaltig bekannt. Darin bewertete er neu, was zuvor oft kritisiert wurde: „Die Dichter des siebzehnten Jahrhunderts besaßen ein mechanistisches Empfindungsvermögen, das jede Art von Erfahrung verschlingen konnte. Sie sind einfach, künstlich, schwierig oder fantastisch.“[10] Er lobte neben den ungewöhnlichen rhetorischen Mitteln vor allem die Einheit von Gedanken und Gefühlen, die er polemisch auch für die moderne Literatur einforderte.

Stil[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Esprit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein oft genanntes Stilmerkmal der Metaphysischen Dichtung ist ihr Esprit oder Witz (wit), der aus dem Spiel mit Vorstellungen und Bildern und aus der Verquickung von Gefühlen und Gedanken besteht. Während die Thematik meist der Liebe oder der Religion verhaftet bleibt, ist deren dichterische Verarbeitung umso erfindungsreicher. Die Inspirationsquellen für Tropen und Sprachbilder waren unter anderem Alchemie, Naturwissenschaft, Mythologie und Philosophie und damit für die Zeitgenossen neu, überraschend – also metaphysisch im Sinne von komplex und rätselhaft. Daraus resultierten Hyperbeln, Oxymora, Paradoxa und die metaphysical conceits, die scharfsinnigen Vergleiche disparater Wirklichkeitsbereiche, welche die Dichter oft für ausgefallene Argumentationen und Beweisführungen fruchtbar machten.

Andrew Marvell

In der Metaphysischen Dichtung herrscht also in dem Sinne die von Eliot gelobte Einheit von Gedanken und Gefühlen, dass das lyrische Ich eines Metaphysischen Gedichts seine Emotionen geistreich und intellektuell darlegt, dass der intellektuelle Scharfsinn mit der emotionalen Entwicklung Schritt hält.[11] Die Absicht dieser Haltung ist dabei weder mit Wissen zu beeindrucken (denn die concetti sind meist wenig realitätsnah), noch eine Art Ästhetizismus; es geht vielmehr um die Überzeugungkraft und um die Gefühlsvermittlung.[12] So versucht das lyrische Ich in Andrew Marvells „To His Coy Mistress“ die Geliebte sowohl durch Schmeichelei als auch durch logische Beweisführung zu verführen. Die eigentliche Thematik des Gedichts bleibt dabei einfach, doch das Carpe-diem-Motiv (d. h. die Überzeugung) wird auf 46 Verse ausgedehnt – und mit einer Affektiertheit und Sinnlichkeit dargestellt, die der elisabethanischen und petrarkistischen Poetik nicht entspricht. Zudem wird die Zeit, die der Sprecher für das Werben um die Angebetete aufbringen würde („bis zur Bekehrung der Juden“), so übertrieben dargestellt wie das Ausmaß seiner Liebe („größer als Kaiserreiche“). Doch die Zeit dränge und bevor es keine Gelegenheit mehr gebe, müssen die Liebenden ein Risiko eingehen und sich wie „verliebte Raubvögel“ verhalten.[13]

Donnes „Holy Sonnet 14“ verwendet paradoxe Bilder des Kampfes und der Belagerung sinnstiftend in einem religiösen Gedicht. Eine unangenehme Macht besitzt das lyrische Ich. Das darunter leidende lyrische Ich und diese Macht müssen von Gott zerstört werden, damit jener das lyrische Ich wieder aufbauen kann und so zur treibenden Kraft in seinem Leben werden kann.[14] In „A Valediction: Forbidding Mourning“ bringt Donne alchemistische Konzepte ins Spiel, um zu beweisen, dass die Seelen zweier Liebender nicht voneinander getrennt werden können. Räumliche Distanz ist nicht emotionale Distanz; sie vergrößert nur die Verbindung der Seelen miteinander. Wenn Gold zu Blattgold geschlagen wird, wird es nicht zerstört sondern ebenso ausgedehnt, und darum verbittet sich das lyrische Ich jegliche Melancholie angesichts eines Abschieds.[15]

Privatheit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Earl Miner zufolge ist die Privatheit das prägende Charakteristikum der Metaphysischen Dichtung, denn auch andere Schriftsteller, Strömungen und Epochen verfügen über Esprit und verwenden concetti.[16] Dieses Charakteristikum soll laut Miner dazu dienen können, Metaphysische Dichtung des siebzehnten Jahrhunderts von nicht-Metaphysischer zu unterscheiden.

Metaphysische Dichtung drückt die Gefühle und subjektiven Erfahrungen des lyrischen Ichs aus, welches sich nahe an der dargestellten Welt und in einer konkreten Situation befindet.[17] Liebe, Melancholie oder Anbetung resultieren aus diesen Situationen, die von einem oft ringenden, flehenden oder sich sehnenden lyrischen Ich impulsiv, geistreich, hermetisch und somit originell verhandelt werden. Vielfach werden eine Geliebte oder Gott in dramatischen Monologen apostrophiert, wobei Ausdruck und Stil trotz der Dichte und Fülle an Bildern oft umgangsprachlich sind, um die Subjektivität und Privatheit zu unterstreichen.[18]

George Herbert

Das lyrische Ich in Marvells „To His Coy Mistress“ ist besorgt wegen der Schüchternheit der Geliebten; diese wird direkt angesprochen und die ausschweifenden Überzeugungsbemühungen zeigen die Privatheit der Situation. Mit der hyperbolischen Schmeichelei gibt das lyrische Ich Einblick in sein Gefühlsleben und seine sexuellen Bedürfnisse. In Donnes „The Canonization“ verteidigt das lyrische Ich seine Liebe energisch gegenüber einem stummen Adressaten: „Um Himmels willen, halt den Mund und lass mich lieben“.[19] – und setzt sie gar einer Heiligsprechung gleich. In Donnes „Holy Sonnet 14“ betet das lyrische Ich zu Gott. Es ist charakteristisch für religiöse Metaphysische Dichtung, dass dabei nicht ein abstraktes theologisches Problem verhandelt wird, sondern persönliche spirituelle Bedürfnisse.[20] Solche Bedürfnisse oder sogar Krisen sind besonders kennzeichnend für George Herberts Werke. In „The Collar“, das ähnlich impulsiv beginnt wie Donnes „The Canonization“ – „Ich schlug auf die Tafel und schrie: Nicht mehr.“[21] –, reflektiert und beklagt das lyrische Ich sein Elend bis Gott besänftigt. Ein skeptischer und verzweifelnder Christ mit individuellen Problemen ersucht aus einer spezifischen Situation heraus um Gnade.[22] Das Gedicht spielt also mit den Homophonen collar (für den Kollar stehend; Herbert war anglikanischer Rektor) und choler (für den Zorn des lyrischen Ichs stehend). Die emotionale Bewegung des lyrischen Ichs wird durch die für Metaphysische Dichtung oft typische elliptische Syntax, energische Rhythmik, die unkonventionelle Strophenform und Metrik unterstrichen.[23]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Anthologien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Burrow, Colin (Hrsg.): Metaphysical Poetry. Harmondsworth: Penguin, 2006.
  • Dawson, Terence/Dupree, Robert Scott (Hrsg.): Seventeenth-Century English Poetry. The Annotated Anthology. London et al.: Harvester Wheatsheaf, 1994.
  • Gardner, Helen (Hrsg.): The Metaphysical Poets. Harmondsworth: Penguin, ³1972.

Sekundärliteratur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Bennett, Joan: Four Metaphysical Poets. Cambridge: CUP, ²1953.
  • Eliot, T. S.: „The Metaphysical Poets“, in: Frank Kermode (Hrsg.): Selected Prose of T. S. Eliot. London: Faber and Faber, 1975, S.59–67.
  • Esch, Arno: Englische religiöse Lyrik des 17. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer, 1955.
  • Hühn, Peter: Geschichte der englischen Lyrik I. Tübingen: Francke, 1995, S.101–157.
  • Miner, Earl: The Metaphysical Mode from Donne to Cowley. Princeton: PUP, 1969.
  • Reid, David: The Metaphysical Poets. Harlow: Longman, 2000.
  • Smith, A. J.: Metaphysical Wit. Cambridge: CUP, 1991.
  • Williamson, George: Six Metaphysical Poets: A Reader’s Guide. Syracuse: SUP, 2001.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. So ist es auch zu erklären, dass in Anthologien Gedichte vertreten sind, deren Verfasser nicht vornehmlich als Metaphysische Dichter bekannt sind, so z. B. Walter Raleigh, William Shakespeare, Ben Jonson, John Milton oder Abraham Cowley, vgl. Helen Gardner (Hrsg.): The Metaphysical Poets. Harmondsworth: Penguin, ³1972, S.7–14.
  2. „Metaphysical Idea’s, and Scholastical Quiddities“, William Drummond: „To his much honoured Friend Dr. Arthur Johnston, Physician to the King“, in: William Drummond: The Works. Hildesheim: Olms, 1970, S.143.
  3. „He affects the Metaphysicks, not only in his Satires, but in his Amorous Verses, where nature only shou’d reign; and perplexes the Minds of the Fair Sex with nice Speculations of Philosophy, when he shou’d ingage their hearts, and entertain them with the softness of Love.“, John Dryden: „Discourse concerning the Original and Progress of Satire“, in: H. T. Swedenborg (Hrsg.): The Works of John Dryden, Bd.4. Berkeley: UCP, 1974, S.7.
  4. „Metaphysical Love-verses“, John Oldmixon: „The Arts of Logick and Rhetorick“ (gekürzt), in: Gerald Hammond (Hrsg.): The Metaphysical Poets. London: Macmillan, 1974, S.47f.
  5. „a race of writers that may be termed the metaphysical poets“, Samuel Johnson: „Abraham Cowley“, in: Samuel Johnson: Lives of the English Poets, Bd.1. London: Dent, 1968, S.11.
  6. Vgl. A. J. Smith (Hrsg.): John Donne: The Critical Heritage. London: Routledge, 1975, S.185
  7. Roberta Florence Brinkley (Hrsg.): Coleridge on the Seventeenth Century. Cambridge: CUP, 1955, S.533.
  8. Thomas De Quincey: „Rhetoric“ (gekürzt), in: Gerald Hammond (Hrsg.): The Metaphysical Poets. London: Macmillan, 1974, S.65.
  9. Herbert J. C. Grierson (Hrsg.): Metaphysical Lyrics & Poems of the Seventeenth Century. Donne to Butler. Oxford: Clarendon, 1921.
  10. „The poets of the seventeenth century […] possessed a mechanism of sensibility which could devour any kind of experience. They are simple, artificial, difficult, or fantastic […].“, T. S. Eliot: „The Metaphysical Poets“, in: Frank Kermode (Hrsg.): Selected Prose of T. S. Eliot. London: Faber and Faber, 1975, S.64.
  11. Vgl. Joan Bennett: Four Metaphysical Poets. Cambridge: CUP, 21953, S.18.
  12. Vgl. Helen Gardner (Hrsg.): The Metaphysical Poets. Harmondsworth: Penguin, ³1972, S.21.
  13. Andrew Marvell: „To His Coy Mistress“, in: H. M. Margoliouth (Hrsg.): The Poems and Letters of Andrew Marvell, Bd.1. Oxford: Clarendon, 1971, S.27f.
  14. John Donne: „Holy Sonnet 14“, in: A. J. Smith (Hrsg.): John Donne: The Complete English Poems. Harmondsworth: Penguin, 1971, S.314.
  15. John Donne: „A Valediction: Forbidding Mourning“, in: A. J. Smith (Hrsg.): John Donne: The Complete English Poems. Harmondsworth: Penguin, 1971, S.84f.
  16. Vgl. Earl Miner: The Metaphysical Mode from Donne to Cowley. Princeton: PUP, 1969, S.3.
  17. Vgl. Earl Miner: The Metaphysical Mode from Donne to Cowley. Princeton: PUP, 1969, S.4.
  18. Vgl. Helen Gardner (Hrsg.): The Metaphysical Poets. Harmondsworth: Penguin, ³1972, S.24.
  19. „For God’s sake hold your tongue, and let me love“, John Donne: „The Canonization“, in: A. J. Smith (Hrsg.): John Donne: The Complete English Poems. Harmondsworth: Penguin, 1971, S.47.
  20. Vgl. Helen Gardner (Hrsg.): The Metaphysical Poets. Harmondsworth: Penguin, ³1972, S.22–24.
  21. „I struck the board, and cry’d, No more.“, George Herbert: „The Collar“, in: Ann Pasternak Slater (Hrsg.): George Herbert: The Complete English Works. New York: Knopf, 1995, S.149.
  22. Vgl. Helen Gardner (Hrsg.): The Metaphysical Poets. Harmondsworth: Penguin, ³1972, S.27.
  23. Vgl. Helen Gardner (Hrsg.): The Metaphysical Poets. Harmondsworth: Penguin, ³1972, S.18–19.