Benutzer:Simon Mariacher

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Judenplatz 1010 - Eine Rede an Europa 2019[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Timothy Snyder, Rede an Europa. 9. Mai 2019

Timothy D. Snyder (*18. August 1969) hielt am Europatag, dem 09.Mai, am Judenplatz in Wien die Rede "Judenplatz 1010 - Eine Rede an Europa 2019"[1] (engl. Judenplatz 1010 - A Speech to Europe 2019[2]). Der amerikanische Historiker ging auf die Diskrepanz zwischen Nationalen Mythen und einer gemeinsamen europäischen Geschichte ein, zeigte die Triebkräfte und Gefahren von Imperien in Europa und weltweit auf und nahm Stellung zu Klimaerwärmung, Digitalisierung, Souveränität und modernen Populismus. Die Veranstaltung wurde von den Wiener Festwochen, ERSTE Stiftung und dem IWM initiiert.


Veranstaltung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Veranstalter[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Veranstaltung wurde in Kooperation zwischen den Wiener Festwochen, der ERSTE Stiftung und dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) organisiert.[3] Die Rede von Timothy Snyder eröffnete die Wiener Festwochen 2019 und war die zweite Veranstaltung von "Tipping Point Talks", welche die ERSTE Stiftung bezüglich des 200 jährigen Jubiläums der Sparkassen in Österreich organisierte. Der Redner Timothy Snyder ist zudem Permanent Fellow des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM).

Datum[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Holocaust Mahnmal am Judenplatz, Wien

Die Rede fand am Europatag, dem 09. Mai 2019 statt. Robert Schuman, der damalige französische Außenminister verlas an diesem Datum im Jahr 1950 den Schuman-Plan, wonach Frankreich und Deutschland ihre Stahlproduktion an eine Hohe Behörde übergeben würde. Daraus entstand schließlich die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) und damit ein wichtiger Schritt hin zur europäischen Integration getan.

Austragungsort[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Vortragsort wurde der Judenplatz im 1. Gemeindebezirk in Wien gewählt. An diesem Ort wird ab 2019 jährlich eine vom ERSTE Stiftung organisierte öffentliche Vorlesung stattfinden. Der Platz, welcher in früheren Zeiten einfach nur Schulhof hieß,[1] weißt auf die verlorenen jüdischen Leben im Holocaust/Shoa hin. Die Bedeutung des Platzes wurde in der Rede selbst mehrfach thematisiert.

Timothy Snyder[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Timothy Snyder bei "Historiske Dage 2019" in Dänemark, 2019

Der amerikanische Historiker Timothy David Snyder (*18. August 1969) studierte Europäische Geschichte und Politikwissenschaft an der Brown Universität in Rhode Island und promovierte 1997 an der University of Oxford. Nach Forschungsaufenthalten in Paris und Harvard arbeitete er drei Jahre lang als Academy Scholar am Center of International Affairs an der Harvard Universität. Seit 2001 lehrt er als Professor der Geschichte an der Yale University.

Nach mehreren Forschungsaufenthalten wurde Snyder 2008 Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und tritt dort bei öffentlichen Veranstaltungen auf. Er hat sich in den Schwerpunkten Osteuropäische Geschichte und Holocaustforschung spezialisiert und darüber mehrere Bücher verfasst. [4][5][6] Er spricht sich für eine überregionale Geschichtsschreibung und das Miteinbeziehen zeitgleicher Regime in Geschichtsforschung aus.

Inhalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

"Mein Name ist Timothy Snyder. Ich bin ein amerikanischer Historiker und wurde gebeten, eine Nachricht an Europa zu überbringen. Das hier ist sie. Ihr seid mehr als eure Mythen. Für uns Außenstehende seid ihr auch ein Quell der Hoffnung; vielleicht sogar der einzige Quell der Hoffnung für die Zukunft."[1]

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein Europa der Imperien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zu Beginn erläutert Timothy Snyder seine eigene Auffassung zur Gründung der Europäischen Union. Dafür stellt er zwei unterschiedliche Geschichtskonzepte gegenüber.

a) Nationale Mythen

b) Geschichte als gemeinsames Konstrukt

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Chronologische Erweiterung des Europäischen Integrationsprozesses

Die Nationalen Mythen erzählen Europäische Geschichte als Entscheidung zu Kooperation und Wohlstand durch kleine, weise Nationalstaaten als Folge der Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Die gemeinsame europäische Geschichte erzähle von "gescheiterten oder vom Scheitern begriffenen Imperien"[1] durch Niederlagen in Kolonialkriegen. Weder die Gründungsstaaten noch die ersten Beitrittsländer seien jemals Nationalstaaten gewesen.

Europa sei der Ersatz für Imperium, ein Ort für sich zurückziehende- oder zurückgedrängte Europäische Imperien. Die Geschichte der frühen Europäischen Integration verlaufe simultan mit dem Niedergang der Meer-basierten Imperien ab. [7] In den Fällen von Spanien findet das Ende von Imperium, die Einführung von Demokratie und die Integration in Europa zeitgleich statt. Die in den 1990er und 2000er Jahren hinzugekommenen Staaten in Zentral- und Osteuropa waren allesamt erst 1918 entstanden, hatten nicht lange bestanden[8] und der Großteil befand sich für lange Zeit an der Peripherie des Sowjet-Imperiums.

"Die Europäische Union ist ein Verbund von zwei Arten von Staaten: solchen, die im Zentrum von Imperien standen, und solchen, die sich an der Peripherie von Imperien befanden." [1]

Snyder führte in seiner Rede selbst einige Beispiele dieser Integration aus Kolonialmacht nach Europa an. In diesem neuen Gebilde namens Europäischen Gemeinschaften und schließlich Europäische Union hatte man wirtschaftlich die Macht eines Imperiums behalten können, allerdings durch die Betonung Nationaler Mythen in den Mitgliedsstaaten die Verantwortung eines solchen abgeben können.


Holocaust - Mahnmal eines europäischen Imperiums[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Zweiten geschichtlichen Abschnitt geht Snyder auf seine Auffassung des Holocausts als Teil einer größeren, transnationalen Geschichte von Imperium ein. Das sich am Austragungsort befindende Mahnmal zeige deutlich, dass die Dimension schier zu groß für Nationale Mythen sei. Österreichische Juden seien nämlich großteils außerhalb von Österreich gestorben. Der Grund dafür sei Imperium und lasse sich auf drei Ursachen zurückzuführen.

a) Ökologische Panik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Land und Ressourcen seien knapp und müssten im natürlichen Rassenkampf[9] genommen werden, bevor dies andere täten. Laut Hitler war es Ziel des Weltjudentums mit den Mitteln der Wissenschaft und Technik über diesen Fakt hinwegzutäuschen.[4]

b) Entmenschlichung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Holocaust wurden Menschen im industriellen Sinne quantifiziert. Menschlichkeit als menschliche Kategorie wurde ausgesetzt und das Überleben wurde ausschließlich mit Zahlen bestimmt: Verbrauchte ein russischer Kriegsgefangener mehr Kalorien als seine Arbeitskraft wert war, starb dieser. Solidarische Prinzipien wie Sozialismus, Rechtsstaatlichkeit oder selbst die christliche Nächstenliebe seien allesamt Mittel der Juden, um über die Wahrheit des Rassenkampfes hinwegzutäuschen. [1]

c) Staatszerstörung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Die Vernichtungslager befanden sich allesamt außerhalb Deutschlands.

Durch das Zerschlagen von Staaten wurden große, rechtsfreie Zonen gebildet, in welchem ansonsten unmögliche Dinge durchgeführt werden konnten. Durch Auflösung von Staaten waren dessen Bewohner keine Staatsbürger mehr und wurden demnach von keinerlei Instanzen oder Struktur geschützt. Die Gruppe, die als Erstes und am Stärksten unter dem Aussetzen grundlegender Rechte litten, war die Jüdische Bevölkerung. Dies lasse sich besonders im direkten Vergleich der Überlebenschance zwischen den von den Deutschen okkupierten Staaten und den vorsätzlich zerschlagenen Staaten beobachten. [9]


Der Holocaust sei das Produkt eines besonders grausamen Versuches zur Gründung eines Imperiums. Frantz Fanon, Aimé Césaire, Hannah Arendt und freilich Timothy Snyder sahen den Holocaust als Teil einer größeren Geschichte europäischer Imperien. Laut Snyder seien die drei Triebkräfte von Imperium allerdings nicht mit dem Holocaust gestorben, sondern prägten noch heute die Welt.

Gegenwart[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In diesem Abschnitt behandelt Snyder die Europäische Frage im internationalen Kontext von Souveränität und Imperium, die Folgen von globaler Erwärmung sowie der Digitalisierung und die Herkunft und Gefahr des modernen Populismus. Diese Ausführungen ordnet er wiederum in seine drei Triebkräfte von Imperien ein.

Die drei Triebkräfte in der Moderne[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

a) Ökologische Panik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Darstellung von NASA der klimatischen Veränderung von 1950-2013

"Wenn ihr nichts gegen die globale Erwärmung tut, dann wird es zu unkontrollierter Einwanderung kommen, weil die Klimaerwärmung den globalen Süden viel härter trifft als den globalen Norden. Das ist ökologische Panik. Und die Europäische Union ist eine der wenigen Stellen auf der Welt, die etwas dagegen tut."[1]

Das Leugnen der globalen Erwärmung gewisser Parteien zeigt laut Snyder drei grundlegende Wahrheiten über diese auf: Sie lügen potenziell über alles, sie kümmern sich nicht um die nachkommenden Generationen und, zumindest in Europa, offenbaren sie sich als Werk von ausländischen CO2-Oligarchen. [1] Dabei würde die Problematik der sich anbahnenden klimatischen Veränderung geleugnet und die Aufmerksamkeit stattdessen auf Migration gelenkt.

b) Staatszerstörung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Für die Zerstörung eines Staates gebe es in der heutigen Welt laut Snyder mehrere Ursachen. Zum Teil liegen diese in ökologischen Krisen begründet, andere werden durch gedankenlose oder vorsätzliche Intervention von außen durch moderne Großmächte verursacht.

In Europa befinden sich die einzelnen Mitgliedsstaaten nicht in der Gefahr einer solchen Zerstörung. Tatsächlich gibt es im 21. Jahrhundert mehr stabile nebeneinander existierende Staaten auf dem Kontinent als jemals zuvor. Snyder sieht den Grund dafür in dem Schutzschild der Europäischen Union.

"Was innerhalb der europäischen Union nicht sichtbar ist, doch von draußen betrachtet so klar vor Augen liegt, ist, dass die Europäische Union den europäischen Staat stärkt. Diese ganze Diskussion, die ihr innerhalb der EU über Souveränität führt, ergibt keinen Sinn."[1]

c) Entmenschlichung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auf diesen Punkt baut der offizielle Titel der Rede an Europa, Judenplatz 1010, tatsächlich auf. Judenplatz bezieht sich auf die industrielle Quantifizierung von Menschenleben im Holocaust, 1010 auf die digitale Quantifizierung von Menschenleben der digitalen Imperien des 21. Jahrhundert. Als Beispiele führt er das Sozialkredit-System in China, die vielfältigen Manipulationsmöglichkeiten durch das amerikanische Silicon Valley und die Cyber-Wahlbeeinflussung der Russischen Föderation.

Im digitalen Zeitalter würde der Mensch auf das reine "Wie" reduziert werden, ohne das "Warum" zu beachten. Es geht darum, die Entscheidung einer gesichtslosen Gruppe von Benutzern in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dabei geht allerdings die menschliche Kategorie der Menschlichkeit verloren. Die digitalen Menschenrechte zu bewahren kann laut Snyder nur der Europäischen Union gelingen, weil sie selbst kein national-politisches System ist und demnach weniger anfällig für digitale Beeinflussung sei.


Zukunft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Bewahrung der Menschlichkeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Macht der digitalen Imperien ist schwer zu erkennen, deren Techniken schwer zu verstehen und dessen Gesetze nicht durch Staaten bestimmt. Für Timothy Snyder geht diese digitale Quantifizierung von Menschenleben Hand in Hand mit dem Verlust von Menschlichkeit in qualitivem Sinne. Die Europäische Union sei strukturell und geistig in der Lage, die digitalen Menschenrechte zu erhalten. Snyder zeigt seine vier Möglichkeiten auf, diesem globalen Trend in Europa entgegenzuwirken.

1) Antimonopolismus[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Schutz gegen monopolistische Großkonzerne

2) Bildung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vermeiden von Nicht-Menschlicher Bildung in den Klassenzimmern

3) Faktentreue[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ermöglichung und Unterstützung von journalistischer Arbeit zur Schaffung von Fakten.

4) Souveränität[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Geschichtliche Ehrlichkeit, um die Schwachstelle des Glaubens an eigenständig existenzfähige Nationalstaaten zu beheben.


"You are more than your Myths" Timothy Snyder 2019

In einer Serie von direkten, rhetorischen Fragen geht Snyder der Frage nach Feinden auf den Grund. Aus seinen Ausführungen ist ersichtlich, dass er eine deutliche Verbindung zwischen dem Leugnen der globalen Erwärmung, dem Geschick mit den digitalen Werkzeugen und fragwürdigen Einstellungen zum Staat sieht. In diesem Abschnitt spielt die Zukunft eine wichtige Rolle, welche aus seiner Sicht beinahe völlig aus der gegenwärtigen Politik verschwunden ist.

"Ihr habt Feinde, weil ihr eine Zukunft habt."[1]

Laut Snyder sei es das Ziel dieser Feinde, einen unhaltbaren Status quo zu erhalten sowie einer erschöpften Erde weiterhin Ressourcen zu entnehmen. Die Europäische Bevölkerung werde von diesen zudem an ihrer schwächsten Stelle angegriffen, nämlich ihrem Glauben an Nationale Mythen. Timothy Snyder beendet schließlich seine Rede mit denselben Worten, mit denen er Sie begann:

"Ihr seid mehr als eure Mythen. Für uns Außenstehende seid ihr auch ein Quell der Hoffnung für die Zukunft."[1]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e f g h i j k Timothy Snyder: Judenplatz 1010. 14. Mai 2019, abgerufen am 25. Juli 2019 (deutsch).
  2. Timothy Snyder: Judenplatz 1010. 14. Mai 2019, abgerufen am 25. Juli 2019 (amerikanisches Englisch).
  3. "Judenplatz 1010" - Timothy Snyders "Rede an Europa". Abgerufen am 25. Juli 2019.
  4. a b Snyder, Timothy.: Bloodlands : Europa zwischen Hitler und Stalin. 2. Auflage. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-62184-0 (OCLC: 750832450 [abgerufen am 25. Juli 2019]).
  5. Snyder, Timothy. Übersetzung aus dem Englischen von Ulla Höber, Karl Heinz Siber, Andreas Wirthensohn.: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. C. H. Beck, München 2015, ISBN 978-3-406-68414-2.
  6. Snyder, Timothy: Der Weg in die Unfreiheit : Russland - Europa - Amerika. C.H. Beck, München 2018, ISBN 978-3-406-72501-2 (oclc: 1054397378 [abgerufen am 25. Juli 2019]).
  7. Fritt Ord: Timothy Snyder - Nations, Empires, Unions: European Integration and Disintegration Since 1914. 10. Februar 2014, abgerufen am 25. Juli 2019.
  8. IWMVienna: Timothy Snyder: Ukrainian History as World History: 1917-2017. 16. Oktober 2017, abgerufen am 25. Juli 2019.
  9. a b IWMVienna: Timothy Snyder: Black Earth. 21. Oktober 2015, abgerufen am 25. Juli 2019.