Collectio Quesnelliana

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Die Collectio Quesnelliana ist eine der frühesten kanonischen Sammlungen aus Westeuropa, die wahrscheinlich um das Jahr 500 entstand. Die Sammlung enthält vor allem dogmatische Texte, darunter viele Schreiben Leos des Großen. Die umfangreiche Sammlung hatte im frühen Mittelalter einigen Einfluss, vor allem in Gallien. Sie wird nach Pasquier Quesnel, dem Herausgeber der editio princeps, als Quesnelliana bezeichnet und bis heute in der Ausgabe der Ballerini verwendet.

Quellen, Inhalt und Gliederung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Sammlung ist in 98 Kapitel (capitula) gegliedert, von denen jedes mehrere Kanones enthält und deren Titel durch ein Inhaltsverzeichnis erschlossen sind. Die ersten fünf Kapitel stammen von ökumenischen sowie afrikanischen Konzilien (Kap. 1 enthält das Bekenntnis von Nicäa, die Bischofsliste, die Vorrede und die 27 Kanones, die das Konzil beschlossen hat; Kap. 2 enthält das Breviarium Hipponense). Der Mittelteil der Quesnelliana (Kapitel 6–57) besteht aus Konzilsbeschlüssen, Dekretalen, kaiserlichen Konstitutionen und Edikten, bischöflichen Schreiben und Auszügen aus den Kirchenvätern zu dogmatischen Fragen (Christologie, Konzil von Chalcedon, Akakianische Schisma, Pelagianismus). Die Kapitel 58–98 sind Schreiben Leos des Großen zu Fragen des Dogmas und der Disziplin, darunter der sogenannte Tomus (Jaffé-Nummer JK 423).

Die einzelnen Kapitel sind einem Thema gewidmet oder einer Quelle entnommen, sind aber selbst weder thematisch noch chronologisch angeordnet. Überwiegend enthält die Quesnelliana Materialien, die die Position von Leo I. in den Konflikten rund um das Akakianische Schisma stärken sollten.

Das jüngste Stück ist das Generale decretum (Jaffé-Nummer JK 636) Gelasius’ I. aus dem Jahr 494. Es wird allgemein angenommen, dass die Quesnelliana noch zu Lebzeiten dieses Papstes entstand. Falls die Sammlung von Dionysius Exiguus verwendet wurde,[1] ist die Fertigstellung der Dionysiana als terminus ante quem anzunehmen.

Die Quesnelliana nutzt lateinische Übersetzungen der griechischen Konzilsbeschlüsse, die älter als die des Dionysius Exiguus und die von ihm Prisca genannte Übersetzung sind.

Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die erhaltenen Handschriften stammen alle aus Gallien und wurden im achten und neunten Jahrhundert angelegt. Auch im fränkischen Reich wurde die Sammlung benutzt, insbesondere auf dem Konzil von Verneuil im Jahr 755.

Forschungsgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Sammlung wurde erstmals von Pierre Pithou beschrieben und 1675 durch Quesnel gedruckt. Auch wenn die editio princeps auf den Index gesetzt wurde,[2] war die Quesnelliana dadurch sehr früher bekannt und im Druck verfügbar als die meisten kanonischen Sammlungen. Sie ist eine der wichtigsten lateinischen Quellen für die Dogmengeschichte des fünften Jahrhunderts.

Wo die Quesnelliana entstanden ist, ist unsicher. Quesnel behauptete ohne überzeugende Gründe, die Sammlung sei als Rechtsbuch der römischen Kirche zu verstehen und deshalb in Rom entstanden; er gab ihr daher den Titel Codex canonum ecclesiasticorum et constitutorum sanctae sedis apostolicae. Die Ballerini und Maassen vermuteten aufgrund der Herkunft der Handschriften, die Quesnelliana sei in Gallien entstanden. Die Ballerini wandten sich dabei aus dogmatischen und politischen Gründen scharf gegen Quesnel und dessen Gallikanismus.

Duchesne (gefolgt von Turner) nahm Arles als Heimat der Sammlung an. Van der Speeten hat auf Parallelen zur Dionysiana hingewiesen und eine Abhängigkeit dieser Sammlung von der Quesnelliana als möglich nachgewiesen; in diesem Fall wäre eine italienische (römische) Heimat der Sammlung wahrscheinlich.

Auch die genaue Datierung ist unsicher. Der terminus post quem ist 494; die moderne Forschung folgt weitgehend den Gebrüdern Ballerini, die eine Entstehung kurz nach diesem Datum, noch vor dem Tod des Gelasius 496, annehmen. Eine spätere Datierung kann aber nicht ausgeschlossen werden.

Editionen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Codex canonum ecclesiasticorum et constitutorum sanctae sedis apostolicae. In: Pasquier Quesnel (Hrsg.): Ad sancti Leonis Magni Opera appendix, seu Codex canonum et constitutorum Sedis apostolicae [...] Tomus II. Paris 1675, S. 13–242. (Editio princeps; Digitalisat der 2. Auflage (Paris 1700) [abgerufen am 10. Juli 2022]).
  • Codex canonum ecclesiasticorum et constitutorum sanctae sedis apostolicae. In: Pietro Ballerini, Girolamo Ballerini (Hrsg.): Sancti Leonis Magni Romani pontificis opera [...] Tomus tertius. Venedig 1757, Sp. 1–472 (archive.org [abgerufen am 10. Juli 2022]). Nachdruck in PL 56, hg. von Jacques-Paul Migne, Sp. 360–756 (Digitalisat [abgerufen am 10. Juli 2022]). (Die bis heute verwendete Ausgabe.)

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Michael D. Elliot: Canon Law Collections in England ca 600–1066: The Manuscript Evidence. 2013 (academia.edu [abgerufen am 12. Mai 2022]).
  • Detlev Jasper: The Beginning of the Decretal Tradition: Papal Letters from the Origin of the Genre Through the Pontificate of Stephen V. In: idem, Horst Fuhrmann (Hrsg.): Papal Letters in the Early Middle Ages (= History of Medieval Canon Law). Catholic University of America Press, Washington, D.C. 2001, ISBN 0-8132-0919-6, S. 3–133, 41-64 (google.co.uk [abgerufen am 10. Juli 2022]).
  • Lotte Kéry: Canonical Collections of the Early Middle Ages (ca. 400–1140): A Bibliographical Guide to the Manuscripts and Literature (= History of Medieval Canon Law). Catholic University of America Press, Washington, D.C. 1999, ISBN 0-8132-0918-8, S. 27–29 (google.de [abgerufen am 30. Mai 2022]).
  • Friedrich Maassen: Geschichte der Quellen und der Literatur des canonischen Rechts im Abendlande bis zum Ausgange des Mittelalters. Vol. 1: Die Rechtssammlungen bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts. Leuschner & Lubensky, Graz 1870, S. 490–500 (digitale-sammlungen.de [abgerufen am 12. Mai 2022]).

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Joseph van der Speeten: Le dossier de Nicée dans la Quesnelliana. In: Sacris erudiri. Band 28, 1985, S. 383–450.
  2. Jesús Martínez De Bujanda, Marcella Richter: Index librorum prohibitorum 1600–1966 (= Index des livres interdits Band 11). Médiaspaul, Montréal 2002, ISBN 2600008187, S. 736 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche)