Deregulierter Krieg

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Deregulierter Krieg ist ein Begriff für Kriege im 21. Jahrhundert, die ohne Anerkennung von kriegsvölkerrechtlichen Regeln, humanitären Rücksichten und Vereinbarungen zum Schutz von Zivilisten, Verwundeten und Gefangenen geführt werden.[1][2] Oft handelt es sich dabei um Aufstände, Bürgerkriege oder internationale Kriege ohne völkerrechtliche Legitimation. Die Kriegführenden befinden sich zumindest zum Teil außerhalb staatlicher Kontrolle, handeln aber teils mit staatlicher Billigung oder Unterstützung. Akteure sind dabei Soldaten zerfallender Armeen in failed states, paramilitärische Verbände in Ressourcenkriegen, international agierende Militärunternehmen, Söldnertruppen und marodierende Banden oder gar Kindersoldaten ohne Bindung außer der an ihre Anführer. Während die Zahl klassischer Kriege seit dem Ende des Kalten Krieges zurückgeht, steigt die Zahl der deregulierten Kriege vor allem im globalen Süden. Nach 2000 spielten private Sicherheits- und Militärunternehmen eine immer größere Rolle in den wichtigsten militärischen Konflikten.

Merkmale[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wichtigstes Merkmal deregulierter Konflikte ist der Verlust des staatlichen Gewaltmonopols, das normalerweise in Form der organisierten, legitimierten staatlichen Gewalt auf dem eigenen Territorium ausgeübt wird. Dieses Monopol wird in vielen Regionen der Welt in Frage gestellt, wodurch die Unterscheidung zwischen Soldat und Zivilist häufig nicht eindeutig ist. Unter anderem deshalb handelt es sich bei einem Großteil der Opfer bei deregulierten Kriegen um Zivilisten.[3]

Zu unterscheiden ist eine Deregulierung der Gewalt von unten und von oben. Die erste Form findet sich beim Kampf um lokale Rohstoffe, beim Waffen-, Drogen- und Menschenhandel des organisierten Verbrechens. Die Deregulierung von unten wird möglich durch die systematische Selbstfinanzierung von Kriegsparteien, die in der Beteiligung an den Konflikten ein profitables Geschäft sehen.[4] Wirtschaftliche Gründe wie die Versuche der Monopolisierung der Ressourcen in Gewaltökonomien bzw. die Unzufriedenheit mit der Verteilung der Erlöse werden als Konfliktmotiv immer wichtiger.[5] Aber auch der Einsatz von privaten Sicherheitsfirmen durch private Investoren angesichts unzureichenden staatlichen Schutzes ist eine solche Form der Deregulierung der Gewalt von unten.

Die Privatisierung der Gewalt von oben vollzieht sich durch die Beauftragung privater Militärfirmen, das Outsourcing oder die Privatisierung der Kriegsführungen, wie es zurzeit vor allem in den USA, Großbritannien, Russland und anderen Ländern praktiziert wird.[6] Der Einsatz von Militärunternehmen bietet für Staaten den Vorteil, geringere diplomatische Verwicklungen zu provozieren und die eigenen Verluste zu verschleiern. Außerdem können so Beschränkungen der Truppenzahlen umgangen werden. Auch im Rahmen von Entwicklungsstrategien spielen Sicherheitsaspekte einer immer größere Rolle; private Akteure der Entwicklungszusammenarbeit oder auch Träger humanitärer Hilfe im globalen Süden werden immer öfter von privaten Sicherheitsdiensten geschützt.[7]

Insbesondere für die USA war es angesichts einer schrumpfenden Armee nicht mehr möglich, bei allen Konflikteinsätzen reguläre Soldaten einzusetzen. So verließ man sich bei der Ausbildung, Transport und Versorgung der Soldaten oder beim Verhör von Kriegsgefangenen, aber auch bei Kampfeinsätzen immer stärker auf private Sicherheitsdienste, vor allem im Irakkrieg und in Afghanistan. Zunehmend fühlt sich Armeen durch die vielfältigen Einsätze im Kampf gegen den Terrorismus überfordert. Im Golfkrieg 1991 hatte das US-Heer noch 711.000 aktive Soldaten zur Verfügung, während des Irakkriegs 2003 waren es nur noch 487.000. Ermöglicht wurde die Privatisierung durch die nach Ende des Kalten Krieges zahlreichen militärischen Experten, die nach einer neuen Beschäftigung suchten, sowie durch die erhöhte Nachfrage nach militärisch gestützten UN-Friedensmissionen, die immer größer war als das Angebot an Truppen.[8]

Einen weiteren Schritt der Deregulierung des Krieges von oben, der auch Konzepte des Partisanenkriegs und des zivilen Widerstand beinhaltet, stellen Strategien wie das Resistance Operating Concept oder die sogenannte totale Verteidigung dar, wobei die gesamte Zivilgesellschaft und Wirtschaft unterlegener Staaten als Teil eines konzertierten Widerstands gegen die Armee eines Aggressors einbezogen und mobilisiert werden.[9] Diese Strategie wirft schwierige rechtliche Fragen hinsichtlich des Kombattantenstatus der zivilen Kämpfer gemäß der Haager Landkriegsordnung,[10] auf. Erforderlich für die Anerkennung von Söldnern oder Zivilisten als Kombattanten sind demnach die Eingliederung in reguläre Truppen, die Existenz verantwortlicher Vorgesetzte, weithin sichtbare Abzeichen und das offene Tragen von Waffen.[11]

Verwandte Begriffe[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Viele dieser Kriege sind zugleich asymmetrische Kriege, d. h. einer regulären Armee steht eine waffentechnisch unterlegene, aber auf eigenem Gebiet kämpfende irreguläre Truppe gegenüber,[12] die oft von lokalen Warlords geführt wird. Diese rekrutieren oft zwangsweise Kämpfer, welche von Nichtkombattanten kaum zu unterscheiden sind.[13] Ob der Begriff „Neue Kriege“ (New Wars)[14] für diesen Gestaltwandel des Krieges angemessen ist, wird kontrovers diskutiert.[15] Charakterisiert werden die „Neuen Kriege“ wie folgt: Das Ziel der meisten aktuellen Gewaltkonflikte sei nicht länger die Zerschlagung oder Vernichtung der gegnerischen Streitkräfte. Diese sei häufig unmöglich, da die unterlegene Partei sich selten in größeren Formationen zur Schlacht stelle, sondern Überraschungsangriffe aus dem Hinterhalt starte oder versuche, lokale Ressourcen für sich zu sichern und auf globalen Schattenmärkten zu vermarkten.

Diese Charakteristika der „neuen“ Kriege und auch deren Brutalisierung mit dem Anstieg der zivilen Opfer sind nach Ansicht der Kritiker des Begriffs jedoch nicht neu, sondern für viele Kriege typisch, die schon vor dem Ende des Ost-West-Konflikts ausgetragen wurden, z. B. für Guerillakriege oder den Partisanenkampf.[16] Auch schon in der französischen Levée en masse, der spanischen Guerilla gegen Napoleon, dem Vaterländischen Krieg Russlands und im Befreiungskrieg Deutschlands 1813 wurde die Bevölkerung der beteiligten Staaten in einem größeren Ausmaß in das militärische Geschehen einbezogen. Während der Partisanenkrieg jedoch die defensive Variante einer Asymmetrierung des Krieges aus der Position des Schwächeren heraus ist, agiert der moderne Terrorismus auch offensiv im Ausland.[17]

Die Kehrseite der Deregulierung der Kriegsführung ist die „Verpolizeilichung“ des Krieges in Form der Legitimierung militärischer Gewalt durch Entsendung multinationaler Streitkräfte mit dem Auftrag der Friedenserzwingung oder -sicherung.[18]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Peter W. Singer: Corporate Warriors. The Rise of the Privatized Military Industry. Cornell University Press, Ithaka 2003.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Herfried Münkler: Die neuen Kriege. In: Der Bürger im Staat. 54. Jahrgang (2004) H. 4, S. 180.
  2. Herbert Wulf: Triebkräfte der Privatisierung: Der deregulierte Krieg. In: Westfälisches Dampfboot, 8. Februar 2006.
  3. Herfried Münkler: Die neuen Kriege. In: Der Bürger im Staat. 54. Jahrgang (2004) H. 4, S. 179–184.
  4. Karen Ballentine, Jake Sherman (Hrsg.): The Political Economy of Armed Conflict. Boulder, London 2003.
  5. Mats Berdal, David M. Malone (Hrsg.): Greed and Grievances: Economic Agendas in Civil Wars. Boulder, London 2000.
  6. Deborah D. Avant: The Market for Force: The Consequences of Privatizing Security. Cambridge University Press, 2005.
  7. Mark Duffield: Global Governance and New Wars: The Merging of Development and Security. London 2001.
  8. Singer 2003
  9. Otto Fiala: Resistance Operating Concept (ROC). In: Homeland Security Digital Library. Joint Special Operations University (U.S.), 1. April 2020 (hsdl.org [abgerufen am 1. September 2022]).
  10. Herfried Münkler: Die neuen Kriege. In: Siegfried Frech, Peter Trummer (Hrsg.): Neue Kriege: Akteure, Gewaltmärkte, Ökonomie. Schwalbach 2005, S. 17.
  11. Dario Azzellini: Die neuen Söldner. In: Kritische Justiz (= Sonderheft 40 Jahre Kritische Justiz). Heft 3/2008.
  12. Herfried Münkler: Der Wandel des Krieges: Von der Symmetrie zur Asymmetrie. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2006.
  13. Kristof Krahl: Neue Kriege – Neue Krieger: Kindersoldaten in Norduganda. München 2014.
  14. Kritisch: Mary Kaldor: Neue und alte Kriege: Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt/M. 2000.
  15. Neue Kriege, Themenheft von: Aus Politik und Zeitgeschichte 46/2009.
  16. Monika Heupel: Die Gewaltökonomien der «Neuen Kriege». In: Neue Kriege, Themenheft von: Aus Politik und Zeitgeschichte 46/2009.
  17. Münkler 2004, S. 184.
  18. Münkler 2004, S. 180.