Die Anomalie

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Die Anomalie (Originaltitel L’Anomalie) ist ein Roman von Hervé Le Tellier, der am 20. August 2020 von den Éditions Gallimard veröffentlicht wurde. Im selben Jahr erhielt der Roman mit dem Prix Goncourt den prestigeträchtigsten französischen Literaturpreis. Der Rowohlt-Verlag veröffentlichte die erste deutschsprachige Ausgabe im September 2021 in der Übersetzung von Jürgen und Romy Ritte.

Inhalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Dieser oulipotische Roman gliedert sich in drei Abschnitte: Schwarz wie der Himmel, Das Leben ist ein Traum, heisst es und Das Lied vom Nichts, drei Auszüge aus Gedichten von Raymond Queneau. Eine ausgeklügelte zeitliche Konstruktion rund um die Landedaten zweier Flüge derselben Boeing am 10. März bzw. 24. Juni 2021 setzt den Rahmen, um die Bedeutung von Ereignissen aufzuzeigen, die sich in den 106 Tagen dazwischen abspielen können. Der Roman wirft Fragen zur Realität der Welt und zur Fiktion auf.

Stilistische Merkmale[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Anomalie beginnt mit der Vorstellung einiger Personen in jeweils einem Kapitel, die jeweils in eigenem Stil geschrieben sind, wie etwa Thriller, psychologischer Roman oder introspektive Erzählung. In den Beschreibungen wird dem Lesenden relativ rasch klar, dass ein Ereignis – die Anomalie eines Fluges von Paris nach New York – diese Personen miteinander verknüpft. Darüber hinaus, in einer Andeutung von Selbstbezüglichkeit, ist der Titel des Buches, welches einer der Protagonisten schreibt, „Die Anomalie“.

Le Telliers Roman ist inhaltlich beeinflusst von postmodernem Science-Fiction, die in Richtung Cyberpunk geht.[1] Weiterhin findet sich ein Einfluss von Fernsehserien.[1] Der Roman ist gespickt mit literarischen Anspielungen[2] und einer Reihe kritischer Einlassungen, die insbesondere die Verlagswelt betreffen[3], die Gewalt der US-amerikanischen Kriege[4] und den homophoben Hass in Afrika.[5]

Le Tellier selbst bezeichnet seinen Roman als „Scoubidou“,[6] eine anschauliche Metapher zur Struktur des Buches mit seiner Verflechtung von zehn ungleich ausgestalteten Figuren, die in einen gemeinsamen Kontext eingebunden sind, nämlich den ursprünglichen Flug, der sie zusammengeführt hat.

Hauptfiguren[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im ersten Abschnitt stellt der Roman neben dem Piloten der Boeing sieben Protagonisten vor, die alle nach der ersten Landung ihr Leben stark verändern, sowie zwei Mathematiker, die dazu beitragen sollen, das Rätsel der beiden aufeinanderfolgenden Flüge zu lösen. In der Reihenfolge ihres Auftretens werden dem Leser zehn Personen vorgestellt, deren Verflechtungen er nach und nach versteht.

Blake[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ruchloser, penibler und vorsichtiger Auftragskiller: „jemanden umzulegen, das ist doch gar nichts. Man muss beobachten, überwachen, sehr viel nachdenken, und im entscheidenden Augenblick eine Leere schaffen.“[7]. Er ist Franzose und führt ein Doppelleben. Mit einer Frau und seinen zwei Kindern lebt er in Paris, wenn er nicht unter falschem Namen zur Ausführung seiner Aufträge reisen muss. Er muss seinen Doppelgänger ermorden, um seine gespaltene Existenz fortsetzen zu können.

Victor Miesel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Erfolgloser Schriftsteller, der Selbstmord begeht, bevor er seinen letzten Roman mit dem Titel Die Anomalie veröffentlicht, der zum Kultbuch wird. Die Figur soll von zwei toten Schriftstellern, darunter Édouard Levé, und zwei befreundeten lebenden Schriftstellern inspiriert worden sein.[8]

Lucie Bogaert[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Filmeditorin, Französin. Ihre Beziehung zu André Vannier, einem dreißig Jahre älteren Architekten, ist nicht mehr harmonisch.

David Markle[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

US-amerikanischer Pilot, an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, der zu spät erkannt wurde.

Sophia Kleffman[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

7-jähriges Mädchen, Tochter eines US-Soldaten, der in Afghanistan und im Irak diente.

Joanna Woods[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Schwarze US-amerikanische Anwältin, die eine große Pharmafirma vertritt.

Slimboy[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Homosexueller nigerianischer Sänger, der es leid ist, mit einer Lügengeschichte zu leben. Er wird durch eines seiner Lieder bekannt, das er auf seinem Flug nach New York schrieb.

Adrian Miller[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

US-Amerikaner, Wahrscheinlichkeitstheoretiker, Lehrer in Princeton.

Meredith Harper[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Britin, Mathematikerin in Topologie, Lehrerin in Princeton.

Jamy Pudlowski[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Offizier des FBI, Leiter der Abteilung „Psychologische Operationen“, PsyOp.

André Vannier[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Französischer Architekt, Leiter von Vannier & Edelman. Seine Beziehung mit Lucie, die dreißig Jahre jünger ist als er, ist vom Scheitern bedroht.

Das abschließende Rätsel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Schlussseite des Romans ist in Form eines Kalligramms gestaltet.[9] Der letzte Satz überlässt dem Leser die Aufgabe der Interpretation. Die Buchstaben verschwinden in abnehmender Zahl von der Seite, während die Zeilenbreite schrumpft, bis sie nur noch aus einem einzigen Zeichen besteht, eine Herausforderung, einen abwesenden Text wiederzugeben.

Die Fortsetzung ist schwieriger. Hier findet sich unter anderem (im frz. Originaltext) die Buchstabenfolge W.u.c.h.e.r.u.n.g (im frz. u.l.c.e.r.a.t.i.o.n.s.), eine offensichtliche Anspielung auf die Schrift Ulcérations von Georges Perec, die 1974 die erste Veröffentlichung in der oulipotischen Bibliothek war. Die letzten drei Buchstaben können so gelesen werden, dass sie in vertikaler Richtung das Wort „Ende“ bilden (im frz. „Fin“). Aber wenn diese letzten sanduhrförmigen Zeilen einen Schlüssel zum Roman liefern, dann ist es ein absichtlich unvollständiger Schlüssel. Bei einem Rundtischgespräch am 14. Mai 2021 im Maison de la Poésie (Paris) sprachen Hervé Le Tellier und neun der Übersetzer von L'Anomalie ausführlich über diese letzte Seite[10]. Der Autor bestätigt zwar die Existenz eines zugrunde liegenden Textes, weigert sich aber, diesen bekannt zu machen, und überlässt es lieber den Lesern und Übersetzern, diesen zu rekonstruieren.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b Annick Geille: Autant en emporte le temps. Atlantico, 4. Oktober 2020, abgerufen am 25. Oktober 2022 (französisch).
  2. C. Bini, L’Anomalie : Peut-on défaire et améliorer ce qui a été raté?, La règle du jeu (19 août 2020).
  3. À travers la publicité médiatique du suicide d'un auteur, opportunité dont l'exploitation éditoriale conduit au succès inattendu du livre de Miesel titré L'anomalie, S. 79–83, pagination se référant à l'édition Gallimard de 2020.
  4. Précisée lors des évocations des traumatismes malmenant le père de Sophia, soldat des USA engagé en Afghanistan, cf. Gallimard S. 60–63.
  5. Bien illustrée par la situation et la révolte inspirant le chanteur nigérian Slimboy, cf. Gallimard S. 92–94.
  6. P. Petit, Hervé Le Tellier obtient le Goncourt 2020 pour "L'Anomalie", fusion de tous les romans de genre, France culture (30. November 2020).
  7. Seite 9, cf. Rowohlt-Ausgabe 2021.
  8. Claire Devarrieux, « Goncourt de la fusée éditoriale : L'Anomalie, un tirage à 820 000 exemplaires » (Memento des Originals vom 19. Januar 2021 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/next.liberation.fr, Libération, 1. Januar 2021.
  9. L. Houot, Prix Goncourt 2020 : L'Anomalie de Hervé Le Tellier, un roman « oulipien » rythmé comme une série télé, franceinfo (30 novembre 2020).
  10. maisondelapoesieparis.com (Memento des Originals vom 18. Januar 2022 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.maisondelapoesieparis.com (entre la 24e et la 34e minute de l'enregistrement vidéo).