Die Vergeltung (Droste-Hülshoff)

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Annette von Droste-Hülshoff, Gemälde von Johann Joseph Sprick (1838)

Die Vergeltung ist der Titel einer Ballade der Schriftstellerin und Komponistin Annette von Droste-Hülshoff.

Entstehung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Vergeltung entstand während Annette von Droste-Hülshoffs zweijährigem Aufenthalt auf Schloss Meersburg ab 1841, wo sie bei der Familie ihrer Schwester wohnte. In dieser Zeit kamen mit Die Vendetta, Der Fundator und Die Schwestern drei weitere Balladen zustande, die heute mit Die Vergeltung zu den sogenannten Meersburger Balladen zusammengefasst werden. Erschienen ist die Ballade erstmals 1844 in Droste-Hülshoffs Gedichte-Werk.

Struktur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Ballade ist in zwei Teile mit acht bzw. fünf Strophen gegliedert. Die Strophen bestehen aus je acht Versen im jambischen Vierheber. Das Reimschema ist ein Kreuzreim mit wechselnder Kadenz.

Inhalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Teil I[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auf einem Segelschiff befinden sich zwei Passagiere, ein „schwarzgelockter Franke“ (Franzose) und ein weiterer Mann, der fieberkrank auf einem morschen Balkenrest liegt, in den die Worte: „Batavia. Fünfhundertzehn“ eingraviert sind. In einem Sturm geht das Schiff unter, nur die beiden genannten Männer überleben vorerst. Der Franzose kann sich zunächst in einer morschen Kiste vor dem Ertrinken retten, die ihn aber absehbar nicht dauerhaft wird tragen können. Der Kranke hingegen hält sich an seinem besagten Balkenrest fest, welcher sich als ausreichend tragfähig erweist. Als der Franzose sichtlich zu kämpfen hat, sich über Wasser zu halten, lädt ihn der Kranke ein, sich auch an seinem Balken festzuhalten. Der Franzose jedoch vergilt die Hilfsbereitschaft mit Grausamkeit: Er stößt den Helfer von seinem Balken und überlässt ihn so dem sicheren Tod in den Wellen. Der Mörder wird später durch ein vorbeikommendes Schiff gerettet.

Teil II[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Segler, dem der Franzose seine Rettung verdankt, hat sich als Korsarenschiff entpuppt. Drei Monate später wird es aufgebracht und die gesamte Besatzung verhaftet und wegen Piraterie zum Tode verurteilt. Von den Besatzungsangehörigen ist der Franzose als einer der ihren bezeichnet worden, was auch für ihn das Todesurteil bedeutet, da das Gericht ihm seine Unschuldsbeteuerungen nicht glaubt. Noch unter dem Galgen versucht er sein Schicksal zu wenden, indem er die Piraten flehentlich darum bittet, seine Unschuld zu bestätigen. Als er feststellen muss, dass all sein Bemühen vergeblich ist, verliert er den Glauben an ein himmlisches Walten; doch just in diesem Moment blickt er nach oben und sieht, dass der Balken mit der Inschrift „Batavia. Fünfhundertzehn“ für seinen eigenen Galgen Verwendung gefunden hat.

Deutung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ursprünglich hatte Droste-Hülshoff der Ballade den längeren Titel „Gottes Hand – die Vergeltung“ zugedacht. Hierin liegt ein Schlüssel zum Verständnis des Gedichtes: Es thematisiert den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der beschränkten Wirklichkeitswahrnehmung des Menschen und der allumfassenden, transzendenten Wirklichkeit Gottes. Das scheinbar bedeutungslose Stück Holz symbolisiert die einzige Verbindung zwischen diesen beiden Welten: Es wird auf einer höheren Ebene zum Werkzeug in der Hand Gottes, der mit seiner Hilfe Gerechtigkeit schafft.

Die Ballade soll dem Leser also vor Augen führen, dass eine höhere – göttliche – Ordnung das von Menschen begangene Unrecht vergelten kann, ohne dass dies für Außenstehende immer nachvollziehbar ist. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet der menschliche Justizirrtum der göttlichen Gerechtigkeit zum Durchbruch verhilft. Im vorliegenden Falle ist der einzige, dem diese Zusammenhänge überhaupt klar werden, der Delinquent selbst; und auch ihm geht dieses Licht – aufgrund seiner Selbstgerechtigkeit – erst ganz am Schluss auf.

Die Kernaussage lautet also: Durch sein Walten kann Gott für Gerechtigkeit sorgen, selbst wenn genau dies in den Augen der Menschen als schreiendes Unrecht erscheinen mag, und zwar eben deshalb, weil sie nicht die übergeordneten Zusammenhänge kennen (können). „Der Mensch ist fehlbar und letztlich nicht dazu in der Lage, ein Urteil zu fällen, geschweige denn Gerechtigkeit zu schaffen. Letzteres obliegt ganz dem Wirken Gottes, der allein alle Zusammenhänge kennt - und dessen Vergeltung daher unbeirrbar den Richtigen trifft.“ (Josua Handerer)[1]

Hierin liegt der Wesensunterschied zu Schillers Die Kraniche des Ibykus, zu dem das Gedicht ansonsten deutliche Parallelen aufweist: Bei Droste ist „nicht vom Walten des Schicksals und Zusammenhang von Schuld und Sühne die Rede“[2], sondern Gottes Hand, die sich sogar der Unzulänglichkeiten des menschlichen Urteilsvermögens gezielt bedient, führt den Täter unerbittlich der gerechten Strafe zu.

In diesem Sinne verkündet „Die Vergeltung“ eine ähnliche Botschaft wie die Novelle Die Judenbuche derselben Autorin, worin sie gleich zu Beginn unter Bezugnahme auf das Neue Testament auf die zwangsläufig unzureichende Urteilsfähigkeit des Menschen hinweist, weil ihm die ganze Wahrheit letztlich unzugänglich bleibt.

Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als eines der bekanntesten Werke Droste-Hülshoffs erfreute sich das Gedicht seit seiner Erstveröffentlichung epochenübergreifend einer ungebrochenen Beliebtheit, woran auch weder Nationalsozialismus noch DDR-Sozialismus etwas änderten. Noch heute wird das Gedicht vielfach geradezu als Musterbeispiel einer Ballade im Schulunterricht gelesen[3] und findet auch im Deutschunterricht im Ausland Verwendung, z. B. in China.[4]

Börries von Münchhausen zählte „Die Vergeltung“ zu den deutschen „Meisterballaden“ und nahm sie mit einer ausführlichen Besprechung in sein gleichnamiges Buch auf.[5]

Anmerkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Droste benutzt den Begriff „die Trümmer“ – abweichend vom allgemeinen Sprachgebrauch – in der Einzahl; die korrekte (nahezu ausgestorbene) Einzahl wäre „das Trumm“.
  • Zur Zeit Droste-Hülshoffs war die Bezeichnung „Franken“ für Franzosen weit verbreitet.[6]
  • Die Zahl fünfhundertzehn erinnert symbolisch an das fünfte der Zehn Gebote aus dem Alten Testament: „Du sollst nicht töten.“ (2. Mose 20,13 EU)
  • Bei dem Balkenrest handelt es sich offenbar um ein Überbleibsel einer Frachtkiste, die einmal für die Hauptstadt von Niederländisch-Indien, Batavia (heute: Jakarta, Indonesien), bestimmt war.
  • Droste macht in ihrer Ballade keinen Unterschied zwischen Korsaren und Piraten und verwendet die Begriffe wechselweise.
  • Die im Gedicht genannten Namen zweier Piraten (Frei, Hessel) entsprechen denen von historisch belegten Räubern, die im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland ihr Unwesen trieben.[7]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Josua Handerer: Das Prinzip der Vergeltung in der gleichnamigen Ballade und der „Judenbuche“. Hrsg.: Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt. GRIN Verlag, München, ISBN 978-3-656-05899-1 (grin.com).
  2. Bernd Kortländer: Annette von Droste-Hülshoff und die deutsche Literatur. In: Historische Kommission für Westfalen (Hrsg.): Geschichtliche Arbeiten zur Meinungsbildung und zu den Kommunikationsmitteln in Westfalen. Band 3, S. 135.
  3. Marcel Haldenwang: Unterrichtseinheit: Balladen (9. Klasse). GRIN Verlag, München 2005 (grin.com).
  4. Winfried Woesler: Eindrücke eines deutschen Literaturwissenschaftlers in China. 2018, abgerufen am 27. Juli 2021.
  5. Börries von Münchhausen: Meisterballaden. Ein Führer zur Freude. 5. und 6. Tausend Auflage. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart / Berlin / Leipzig 1925.
  6. Matthias Heine: Wie aus Franzosen Gallier wurden. In: Die Welt. 21. Juli 2017, abgerufen am 26. Juli 2021.
  7. Die Vergeltung. In: Droste-Portal. Abgerufen am 26. Juli 2021.