Die ertrunkene Frau

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La Femme noyée (Illustration von Jean-Jacques Grandville)

Die ertrunkene Frau (franz. La Femme noyée) ist die sechzehnte Fabel aus dem dritten Buch der Fabelsammlung von Jean de La Fontaine, die 1668 zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Der Fabulist greift hier auf einen seit dem Mittelalter bekannten antifeministischen Scherz über die Widerspenstigkeit der Frau zurück, den er aber dazu verwendet, um sich ausdrücklich von dieser Haltung zu distanzieren. Das älteste bekannte Analogon ist Marie de France’ Fabel D’un Hume qui aveit une Fame tencheresse (altfranzösisch; deutsch: Von einem Mann, der eine launische Frau hatte).[1]

Hintergrund[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im 14. Jahrhundert war es kein ungewöhnlicher Umstand, dass Frauen von maskierten Attentätern erwürgt, oder wenn sie am Flussufer entlang gingen, hineingestoßen wurden – was entweder der Liederlichkeit einiger weiblicher Wesen oder aber der rücksichtslosen Tyrannei der Ehemänner geschuldet war. Dieses Ertränken von Frauen führte zu einem populären Sprichwort: „Es ist nichts – nur eine Frau ertrinkt“. La Fontaine hat das Sprichwort in seiner Fabel La Femme noyée bewahrt, möglicherweise ohne sich der Anspielung auf die grausame Praxis des 14. Jahrhunderts bewusst zu sein.[2] Und dieser Zustand bildete das häusliche Leben Englands vom 12. Jahrhundert bis zum ersten Bürgerkrieg ab, als die Blutrünstigkeit der Männer noch weiter zunahm und sie von der Ermordung von Frauen zur Praxis übergingen, sich gegenseitig die Kehlen aufzuschneiden. Ein Pferd oder sonstiges Haustier bekam mehr Anerkennung als eine Hausfrau.[3]

Handlung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Geschichte in La Fontaines Fabel La Femme noyée ist die gleiche wie schon in Poggios Version: Ein Mann erfährt vom Ertrinken seiner Frau und sucht das Flussufer nach ihrem Leichnam ab. Auf die Frage der Passanten, warum er sie stromaufwärts statt -abwärts sucht, antwortet er, dass er sie so nie finden würde, denn während sie lebte, war sie immer übermäßig schwierig und schlecht gelaunt, und tat immer das Gegenteil von allen anderen, sodass sie auch nach ihrem Tod nur gegen den Strom schwimmen würde.

Bei Geoffrey Whitney (1548–1601) raten die Nachbarn sogar, die Suche nach dem Leichnam der Frau abzubrechen:[4]

„Then leave, quoth they, and let her still be drown’d, for such a wife is better loste then founde?“

„Dann geh, rieten sie, und lass sie doch ertrinken, eine solche Frau ist besser verloren als gefunden zu sein?“

Geoffrey Whitney

La Fontaine jedoch sieht das weibliche Geschlecht in einem kontrastierend positiven Licht und fordert Verständnis für die Frau, die offensichtlich Selbstmord begangen hat.[5]

Text[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

„Ich bin nicht einer, der da sagt: »Ach, Kleinigkeit!

Nur eine Frau, die sich ertränkt!«

Ich sage, das ist viel, und bin bereit

Um sie zu trauern, weil das Weib uns Freude schenkt. –

Das Vorgesagte ist nicht überflüssig

Für meine Fabel, denn sie meldet dies,

Dass eine Frau, des Lebens überdrüssig,

Sich eines Tages in die Fluten fallen ließ.

Ihr Gatte wollte wenigstens die Leiche retten,

Um sie mit Kirchenehren einzubetten.

Doch von den Leuten, die zur Unfallzeit

Am Ufer gingen, hatte keiner wahrgenommen,

Wo ihre Leiche hingeschwommen.

Mit Rat jedoch war jeder gern bereit.

»Es liegt,« sprach einer, »wohl in der Natur

Der Dinge, dass sie mit der Strömung nur

Flußabwärts treiben konnte.« Sprach ein andrer: »Nein!

Daß man sie aufwärts sucht, scheint richtiger mir zu sein.

Wie stark auch das Gefälle und die Kraft,

Mit der das Wasser alles vorwärts schafft,

Der Geist des Widerspruches wird das Weib bestimmen,

Gegen die Strömung anzuschwimmen.«

Der Mann trieb seinen Spott wohl nicht zur rechten Zeit,

Auch weiß ich nicht, ob’s allen richtig scheint,

Was er vom Widerspruch gemeint.

Doch sei die Eigenschaft, der er die Frauen zeiht,

Ein Fehler oder nur ein böser Hang,

So geht doch die Behauptung nicht zu weit:

Wer widerspricht, der widerspricht sein Leben lang!

Und nicht nur von der Wiege bis zum Grabe,

Nein, noch im Tode übt er diese Gabe“

Jean de La Fontaine, Theodor Etzel (Übersetzer)

[6][7]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Barbara C. Bowen: One Hundred Renaissance Jokes An Anthology. Summa Publications, Inc., 1988, S. 7 (google.de [abgerufen am 14. Juni 2020]).
  2. Isaak D’Israeli: Amenities of literature, consisting of sketches and characters of English literature. 2. Auflage. Band 1. J. & H. G. Langley, New York 1841, S. 86–87 (archive.org [abgerufen am 26. Juni 2020]).
  3. Matilda Joslyn Gage: Woman, church and state : a historical account of the status of woman through the Christian ages, with reminiscences of the matriarchate. Hrsg.: University of California Libraries. New York : The Truth Seeker Company, 1893, S. 304 (archive.org [abgerufen am 26. Juni 2020]).
  4. Post fata: uxor morosa, etiam discors. In: Whitney’s Choice of Emblemes 158. Memorial University of Newfoundland, abgerufen am 14. Juni 2020.
  5. Randolph Paul Runyon, Randolph Runyon: In La Fontaine’s Labyrinth: A Thread Through the Fables. Rookwood Press, 2000, ISBN 978-1-886365-16-2, S. 45–47 (google.de [abgerufen am 14. Juni 2020]).
  6. Theodor Etzel: Jean de La Fontaine - Fabeln. 2015, ISBN 978-3-8430-7584-8 (google.de [abgerufen am 14. Juni 2020]).
  7. Theodor Etzel, Guth, Karl-Maria: Jean de La Fontaine - Fabeln. 1. Auflage. Berlin, ISBN 978-3-8430-7584-8, S. 41.