Diskussion:Wohltemperierte Stimmung

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Hypothesen zur Wohltemperierten Stimmung bei J.S. Bach (Version bis 23. November 2011)[Quelltext bearbeiten]

Mit der Entwicklung von wohltemperierten Stimmungen konnte Bach für besaitete Tasteninstrumente in allen Tonarten des gesamten Quintenzirkels komponieren, was bisher mit den mitteltönigen Stimmungen unmöglich war. Bachs Leipziger Kirchenmusik scheint hingegen weiterhin von mitteltönig gestimmten Orgeln begleitet worden zu sein.[1] Johann Nikolaus Forkel berichtet, dass Bach sein Clavichord in weniger als 15 Minuten stimmte.[2] Wie Bach genau gestimmt hat, lässt sich aus dem kontroversen Streit zwischen dem Bach-Schüler Kirnberger und Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795) nicht sicher erschließen. Jedoch besteht in der Forschung Einigkeit darüber, dass Bach nicht die gleichstufige Stimmung zugrunde gelegt hat.

Eine neue Hypothese wurde von Herbert Anton Kellner anhand von Bachs Siegel entwickelt. Kellner sah in den verschlungenen Buchstaben und der Krone eine verborgene Stimmungsanweisung.[3]

Deutung der Girlande des Titelblattes

Andreas Sparschuh legte eine eigene Deutung des Siegels vor, gelangte im Jahr 1998 aber zu einem alternativen Erklärungsversuch[4] über Vermutungen, was Bach möglicherweise unter wohltemperiert in absoluten Frequenzen verstanden haben könnte. Nach dieser Hypothese kann die Girlande auf dem Titelblatt von Bachs Wohltemperiertem Klavier, I. Teil, 1722, als Vorschrift zum Stimmen des Quintenzirkels gedeutet werden, da es damals üblich war, die Quinten, die im Quintenzirkel angepasst werden müssen, durch Auszählung der Schwebungen zu ermitteln. Hierzu sollen die Schleifen in den Kringeln Hinweise geben. Mittlerweile hat Sparschuh die Wahl der Kammertonhöhe von ursprünglich ~420Hz [1] (1999) auf die zu Bachs Zeiten eher übliche Ausgangs-Frequenz von etwa 406Hz [2] (2008) herunterkorrigiert, um eine Kompatibilität zum absoluten Chorton seiner Werckmeister-III (2008) Interpretation von exakt 456 Hz [3] zu erzielen, mit in etwa einem Ganzton Abstand (~ 9/8, ca. ~204 Cent) zwischen seinen beiden aktuellen Rekonstruktionen [2,3], die somit in enger Beziehung zueinander stehen. Auf diese Weise hat Sparschuh unabhängig von spekulativen Hypothesen bezüglich der Girlande, ob und was sich 1722 Bach bei der Niederschrift des „dekorativen Ornamentes“ gedacht haben mag, zwei Varianten entwickelt.


Noten-Frequenzen innerhalb der eingestrichenen Oktave mittleres c' cis' d es' e' f' fis' g' gis' a'=Stimm-Ton b' h' Sopran-c"
Obsolete Version {Girlande} (1999)[5] in Hz 250 264 280 297 314 333,5 352 374 396 420 445 470 500
Terzen c'-e' etc. in Cent
Quinten c'-g' etc. in Cent
395
697
405
702
396
702
399
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402
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406
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396
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404
702
396
696
398
701
405
699
395
697
Aktueller Vorschlag {Clavier} (2008)[6] in Hz 243 256 272 288 304 324 342 364 384 406 432 456 486
Terzen c'-e' etc. in Cent
Quinten c'-g' etc. in Cent
388
700
408
702
396
693
405
702
404
702
391
702
404
699
390
696
408
702
402
699
399
702
404
702
388
700
Sparschuhs Werckmeister-III {Orgel} (2008)[7] in Hz 273,375 288 306 324 342 364,5 384 410 432 456 486 512.5 546.75
Terzen c'-e' etc. in Cent
Quinten c'-g' etc. in Cent
395
702
405
702
396
691
399
702
402
700
399
702
406
702
396
693
404
702
396
702
398
702
405
702
395
702

Gegenwärtig erlaubt der Forschungsstand keine wissenschaftlich haltbaren Rückschlüsse zu ziehen, ob uns Bach mit seiner Girlande überhaupt eine Stimmanweisung hinterlassen hat. Möglicherweise erklärt gerade dieser Aspekt an Ungewissheit die immense Flut an (Re-)Interpretationsversuchen, die wohl eher den persönlichen Temperatur-Vorlieben des jeweiligen Interpreten widerspiegeln, als ernsthaft in Übereinstimmung mit den historisch belegbaren Quellen aus Bachs Umgebung abgeglichen zu sein.[8]

Quinten und Terzen in der J.S. Bach-Stimmung (nach Bradley Lehmann)

(Zum Vergleich: reine große Terz=386 Cent, pytagoreische Terz=408 Cent, reine Quinte=702 Cent).

Dreiklang c-e-g des-f-as
cis-f-gis
d-fis-a es-g-b e-gis-h f-a-c fis-ais-cis
ges-b-des
g-h-d as-c-es
gis-c-dis
a-cis-e b-d-f h-dis-fis c-e-g
Große Terz (c-e usw.) in Cent 396 404 400 400 402 392 402 396 402 404 398 404 396
Quinte (c-g u.s.w.) in Cent 698 700 698 700 698 698 702 698 700 702 704 702 698
026bachstimmung.gif Anhören:
Kadenz F-Dur, Es-Dur und G-Dur

Bradley Lehmann/?
Werkmeister III/?
gleichstufig/?

Die „Entdeckung“ der Girlande wurde von Bradley Lehmann als „Stein von Rosette“ für die Entschlüsselung der Bach-Stimmung bezeichnet[9] und inzwischen mehrfach modifiziert.[10] Ihr wurde von den meisten Musikwissenschaftlern jedoch widersprochen.[11] Die Kringel in der Girlande könnten keine ausreichende Grundlage für irgendein Stimmungssystem darstellen. Zudem sei davon auszugehen, dass Bach je nach Gelegenheit oder Komposition seine Instrumente unterschiedlich gestimmt habe.[11] Gustav Leonhardt bezeichnete die Deutung der Girlande als „amerikanische Schnörkelakrobatik zur Bachschen Temperatur“[12] Sparschuh selbst wies im Jahr 2004 im Anschluss an Wegscheider darauf hin, dass seine Idee auch als Scherz gewertet werden könne, um auf evidente Schwächen in Kellners Argumentationskette hinzuweisen.[13] Ähnlich äußerte sich bereits der Orgelbauer Kristian Wegscheider in seinem „Weihnachts-Brief“[14] und sich im Juni 2003 indirekt auf Kellners Behauptungen bezog und für seinen alternativen Vorschlag absolute Frequenzen mit der Begründung angab: „Das ganze Gerede um die wohltemperierte Bach-Stimmung geht mir seit langem auf die Nerven. Seit Jahren stimme ich mein Cembalo nach der originalen Bach-Stimmung, die ich hiermit für jedermann freigebe.“[15]

Noten-Frequenzen innerhalb der eingestrichenen Oktave mittleres c' cis' d es' e' f' fis' g' gis' Stimm-Ton a' b' h' Sopran c"
Kristian Wegscheider Bach nach 'H.C. Snerha' (2003)[16] in Hz 248,7 262,279688 278 295,111111 311,25 332 349,70625 372,05 393,419531 416 442,666667 466,275 497.4
Terzen c'-e' etc. in Cent
Quinten c'-g' etc. in Cent
388
697
408
702
397
698
401
702
406
700
390
700
408
702
391
696
406
702
401
698
395
702
408
702
388
697
  1. Herbert Kelletat: Zur musikalischen Temperatur: I. Johann Sebastian Bach und seine Zeit. 2. Auflage. Merseburger, Berlin und Kassel 1981, ISBN 3-87537-156-9, S. 24.
  2. "Auch stimmte er so wohl den Flügel als sein Clavichord selbst, und war so geübt in dieser Arbeit, daß sie ihm nie mehr als eine Viertelstunde kostete." In: Johann Nicolaus Forkel: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig 1802. Nachdruck Kassel-Basel 1974, S. 17 (online).
  3. Weiterentwickelt wurde diese These von John Charles Francis: Tuning Interpretation of Bach’s ‘1722 Seal’ as Beats Per Second (online; PDF-Datei; 231 kB) (gesehen 24. August 2010), mit einer Bibliografie zu Kellner.
  4. Andreas Sparschuh hielt darüber bei der Jahrestagung der Deutschen Mathematikervereinigung 1999 in Mainz einen Vortrag.
  5. [1]
  6. [2]
  7. [3]
  8. Vgl. z.B. den stark zur Vereinfachung neigenden Versuch von Ross W. Duffin: How Equal Temperament Ruined Harmony (And Why You should Care), Verlag W.W. Norton&Company, New York und London 2007, S. 148 (Exzerpt), gesehen 26. Oktober 2010.
  9. Bradley Lehmann: Bach's extraordinary temperament: Our Rosetta Stone, 2005 (PDF-Datei; 662 kB) (gesehen 24. August 2010).
  10. Siehe zur These von Sparschuh und anderen Deutungen Keyboard Tuning of Johann Sebastian Bach und Jencka: Bachtuning, gesehen 26. Oktober 2010.
  11. a b Siehe die Diskussion auf der englischen Wikipedia unter WellTempered Clavier, gesehen 26. Oktober 2010.
  12. Gustav Leonhardt: Zum Geleit. In: Bach-Handbuch. Bd. 4/1: Bachs Klavier- und Orgelwerke. Laaber, Laaber 2007, ISBN 978-3-89007-454-2, S. 16.
  13. Lehman: Other „Bach“ temperaments (gesehen 24. August 2010).
  14. [4]
  15. [5], gesehen 26. Oktober 2010.
  16. Wegscheider: Bachstimmung nach H.C. Snerha, gesehen 26. Oktober 2010.

Stimmungs-Korrekturen[Quelltext bearbeiten]

Die Werckmeister III-CentZahlen für die terzen und Quinten sind nicht kongruent. Die Summe bei den Quinten (=7 Oktaven) müsste 8400 ergeben, ist aber 8401. Offensichtlich ist die f-Angabe falsch und muss 702 statt 703 lauten. Wenn man die Terzen summiert, müsste 4800 herauskommen (4 Oktaven). Tatsächlich erscheint 4802, weil d und a um 1 zu hoch sind. Das ergibt sich, wenn man nach den angegebenen Quinten stimmt und dann die Terzen entsprechend draufsetzt. Bei d kommt dann nur 396, bei a 390 heraus.

Verwunderlich ist auch der forsche Beitrag desjenigen, der sein Cembalo nach der angeblichen Bachstimmung stimmt: die Terzen ergeben nur 4799, die Quinten 8401. So wird kein Schuh draus. --Arps (Diskussion) 00:23, 20. Mai 2013 (CEST)Beantworten