Industrielles Erbe

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Der Begriff Industrielles Erbe steht für die breite Auseinandersetzung mit den Orten, Relikten und Prägungen durch das Industriezeitalter. Während sich Industriekultur und Industriedenkmal schon seit den 1980er Jahren etabliert haben, hat der industrielle Erbebegriff über Diskussionen und Programme zum kulturellen Erbe bzw. baukulturellem Erbe und maßgeblich durch die Einflüsse der Heritage Studies in jüngerer Zeit an Bedeutung zugenommen. Maßgeblich ist, dass der Begriff des Erbes auch die Machtfragen einschließt, die verbunden sind mit der Deutungshoheit über Geschichte, Identität und gesellschaftliche Werte.[1]

Industrielles Erbe ist par excellence Teil lokaler und globaler Bezugssysteme, es ist Last und Chance gleichermaßen.[2] Es erfordert wirtschaftliche und gesellschaftliche Anpassungsleistungen und bietet als kulturelles Gedächtnis der Arbeit und sozialer Gemeinschaft Raum für Erinnerung. Definition und Umgang mit dem industriellen Erbe bleibt von unterschiedlichen Interessen und Akteuren geprägt, die Konflikte miteinander ausfechten müssen.[3][4]

Begriffsverständnis[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weniger abgegrenzt von einem abgeschlossenen Zeitalter wie ein Industriedenkmal, werden geschichtliche und gegenwärtige Transformationsprozesse in den Blick genommen. Nicht nur die Stilllegung, sondern auch die Veränderung von Produktion, der Wechsel von Standorten, oder Firmenfusionen erzeugen Orte und Relikte eines industriellen Erbes. Adaption und Innovation sind Kennzeichen der geschichtlichen Entwicklung und können für den Umgang mit dem industriellen Erbe fruchtbar gemacht werden.[5]

In den ersten Jahrzehnten des großen Strukturwandels der Nachkriegszeit, wo Produktionen vielfach raus aus den Städten zogen, wurden niedergehende industrielle Standorte und Regionen als Altlast und Abfall eben dieser Dynamiken verstanden.[6][7] Abriss und darauffolge Neuentwicklung war die gängige Antwort von Planung und Politik. Erst mit dem Verständnis dieses Erbes als Chance für geschichtliche Vermittlung und Identifikationsangebote durch Museen wuchs eine Anerkennung. Industrielles Erbe bietet als kulturelles Gedächtnis der Arbeit und sozialer Gemeinschaft Raum für Erinnerung. Atmosphärisch aufgeladen zog es kreative und künstlerische Akteure und Interventionen an, temporäre Nutzungen oder Orte des Abenteuers und der Freizeit entstanden und wurden als Möglichkeitsorte des Städtischen bezeichnet. Die mit der Zeit sich entwickelnde Fauna und Flora konnten als Biotope geschützt werden und die sogenannte Industrienatur dient der Naherholung. Industrielles Erbe als räumlich-bauliche Infrastrukturen zu verstehen, die angepasst und genutzt werden können ohne auf Abriss und Neubau zu setzen, heißt auch einen Beitrag zur Reduzierung des Klimawandels zu leisten.

Die Integration von Denkmalpflege und Stadtentwicklung ist ein wichtiger Ansatz, der es ermöglicht vielfache Orte und Relikte des Erbes zu erhalten und umzunutzen. Vielfache Beispiele,[8] insbesondere in der Textilindustrie,[9] zeigen gute Beispiele der Erhaltung und Entwicklung der Produktionsorte der Textilindustrie in Europa.

Nicht nur Industriedenkmäler, sondern auch Industrielle Kulturlandschaften sind mittlerweile als UNESCO-Weltkulturerbestätten anerkannt.[10] In diesem Kontext stellt sich explizit die Frage nach Authentisierung und Authentifikation des industriellen Erbes,[11] steht doch das Kriterium der Authentizität zentral in Weltkulturerbe-Nominierungsprozessen und Erhaltung.

Industrielles Erbe sind nicht nur die großartigen Bauten, Technik und Unternehmen, sondern der Begriff schließt auch die dunklen Facetten des Erbes ein: Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft sowie Umweltbelastung und Zerstörung.[12] Das industrielle Erbe ist bislang wenig verknüpft mit den zentralen Aufgaben der Verminderung des Klimawandels und Erhaltung der Biodiversität, obwohl gerade hier in der Geschichte und Gegenwart von Industrie und Produktion die Ursachen, aber auch soziale (Protest) Bewegungen und Umweltstandards verortet sind.

Die Arbeiterbewegung und Fragen nach sozialer und politischer Identität gerade auch innerhalb der Transformationsprozesse der Deindustrialisierung werden in den jüngeren Forschungen bearbeitet,[13] vielfach am Institut für soziale Bewegungen, Bochum. Die Rolle der Frauen ist in der Industrie- und Technikgeschichte und Stadt- bzw. Regionalgeschichte unterbeleuchtet und damit auch in den Quellen, die für das Verständnis des industriellen Erbes herangezogen werden. Hier hat die Alltags- und Sozialgeschichte, gerade auch in der Betrachtung des Ruhrgebiets, wie u. a. von Dagmar Kift geleistet, einen wichtigen Weg hin zu einer umfassenden und divers geprägten Geschichtsschreibung gelegt. Die Verknüpfung zur Migrationsgeschichte und der Perspektive eingewanderter Menschen und sogenannter Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter auf das industrielle Erbe beginnt gerade erst.[14]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • James Douet: Industrial Heritage Re-tooled – The TICCIH guide to Industrial Heritage Conservation. Carnegie, Lancaster 2012. ISBN 978-1-85936-218-1.
  • Michael Farrenkopf, Thorsten Meyer: Authentizität und industriekulturelles Erbe. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2020, ISBN 978-3-11-068300-4.
  • Susanne Hauser: Metamorphosen des Abfalls. Konzepte für alte Industrieareale. Campus Verlag, Frankfurt a. M./New York 2001, ISBN 978-3-593-36756-9.
  • Nationalkomitee der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Industrielle Kulturlandschaften im Welterbe-Kontext (ICOMOS - Hefte des Deutschen Nationalkomitees, Bd. LXII). Berlin 2016, ISBN 978-3-945880-11-1, im Netz unter [1], PDF (17,1 MB, 154 Seiten), ICOMOS.
  • Ela Kaçel, Barbara Engelbach (Hrsg.): Vor Ort: Fotogeschichten zur Migration. - In Situ: Photo Stories on Migration. Ausst. Kat. Museum Ludwig. Verlag König, Köln 2021, ISBN 978-3-7533-0038-2.
  • Hans-Rudolf Meier, Marion Steiner: Denkmal - Erbe - Heritage. Begriffshorizonte am Beispiel der Industriekultur, in: Simone Bogner u. a. (Hrsg.): Denkmal - Erbe - Heritage. Begriffshorizonte am Beispiel der Industriekultur (Veröffentlichungen des Arbeitskreises Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V., Bd. 27). Verlag Jörn Mitzkat, Holzminden 2018, S. 16–35, ISBN 978-3-95954-061-2, im Netz unter [2], PDF (38 MB, 269 Seiten), Universität Heidelberg.
  • Harald A. Mieg, Heike Oevermann, Hans-Peter Noll: Conserve and Innovate Simultaneously? Good Management of European UNESCO Industrial World Heritage Sites in the Context of Urban and Regional Planning, in: DISP 56(3), S. 20–33, im Netz unter [3], PDF (2,1 MB, 15 Seiten), ResearchGate.
  • Heike Oevermann: Über den Umgang mit dem industriellen Erbe. Eine diskursanalytische Untersuchung städtischer Transformationsprozesse am Beispiel der Zeche Zollverein. Klartext-Verlag, Essen 2012, ISBN 978-3-8375-0834-5.
  • Heike Oevermann: Urban Textile Mills: Conservation and Conversion. Bebra, Berlin 2021, ISBN 978-3-95410-277-8.
  • Michael Petzet, Uta Hassler (Hrsg.): Das Denkmal als Altlast? Auf dem Weg in die Reparaturgesellschaft (ICOMOS - Hefte des Deutschen Nationalkomitees, Bd. XXI). München 1996, ISBN 978-3-87490-629-6.
  • Simone Bogner u. a. (Hrsg.): Denkmal - Erbe - Heritage. Begriffshorizonte am Beispiel der Industriekultur (Veröffentlichungen des Arbeitskreises Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V., Bd. 27). Verlag Jörn Mitzkat, Holzminden 2018, ISBN 978-3-95954-061-2, im Netz unter [4], PDF (38 MB, 269 Seiten), Universität Heidelberg.
  • Dietrich Soyez: Europeanizing Industrial Heritage in Europe: Addressing its Transboundary and Dark Sides, in: Geographische Zeitschrift 97(1), S. 43–55.
  • Gerhard Vinken: Vom Denkmal zum Erbe. Ein Plädoyer, in: Simone Bogner u. a. (Hrsg.): Denkmal - Erbe - Heritage. Begriffshorizonte am Beispiel der Industriekultur (Veröffentlichungen des Arbeitskreises Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V., Bd. 27). Verlag Jörn Mitzkat, Holzminden 2018, ISBN 978-3-95954-061-2. S. 238–241, im Netz unter [5], PDF (38 MB, 269 Seiten), Universität Heidelberg.
  • Christian Wicke, Stefan Berger, Jana Golombeck (Hrsg.): Industrial Heritage and Regional Identities. Routledge, London/New York 2018, ISBN 978-1-138-24116-9.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Gerhard Vinken: Vom Denkmal zum Erbe. Ein Plädoyer. Holzminden 2018, S. 238–241.
  2. Hans-Rudolf Meier, Marion Steiner: Denkmal - Erbe - Heritage. Begriffshorizonte am Beispiel der Industriekultur. Holzminden 2018, S. 16–35.
  3. Simone Bogner u. a. (Hrsg.): Denkmal - Erbe - Heritage. Begriffshorizonte am Beispiel der Industriekultur. Holzminden 2018.
  4. Heike Oevermann: Über den Umgang mit dem industriellen Erbe. Eine diskursanalytische Untersuchung städtischer Transformationsprozesse am Beispiel der Zeche Zollverein. Essen 2012.
  5. Harald A. Mieg, Heike Oevermann, Hans-Peter Noll: Conserve and innovate simultaneously? Good management of European industrial world heritage sites in the context of urban and regional planning. In: DISP 56(3). S. 20–33.
  6. Michael Petzet, Uta Hassler (Hrsg.): Das Denkmal als Altlast? Auf dem Weg in die Reparaturgesellschaft (ICOMOS - Hefte des Deutschen Nationalkomitees, Bd. XXI). München 1996.
  7. Susanne Hauser: Metamorphosen des Abfalls. Konzepte für alte Industrieareale. Frankfurt a. M./New York 2001.
  8. James Douet: Industrial Heritage Re-tooled – The TICCIH guide to Industrial Heritage Conservation. Lancaster 2012.
  9. Heike Oevermann: Urban Textile Mills - Conservation and Conversion. Berlin 2021.
  10. Nationalkomitee der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Industrielle Kulturlandschaften im Welterbe-Kontext (ICOMOS - Hefte des Deutschen Nationalkomitees, Bd. LXII). Berlin 2016.
  11. Michael Farrenkopf, Thorsten Meyer: Authentizität und industriekulturelles Erbe. Berlin/Boston 2020, S. 1–4.
  12. Dietrich Soyez: Europeanizing Industrial Heritage in Europe: Addressing its Transboundary and Dark Sides. In: Geographische Zeitschrift 97(1). S. 43–55.
  13. Christian Wicke, Stefan Berger, Jana Golombeck (Hrsg.): Industrial Heritage and Regional Identities. Routledge 2018.
  14. Ela Kaçel, Barbara Engelbach (Hrsg.): Vor Ort: Fotogeschichten zur Migration - In Situ: Photo Stories on Migration. Köln 2021.