Lutz Unterseher

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Lutz Unterseher

Lutz Unterseher (* 1942 in Greifswald) ist ein deutscher Soziologe, Militärexperte, sicherheitspolitischer Berater und Schriftsteller.[1]

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Er studierte von 1962 bis 1968 Soziologie und Jurisprudenz an der Universität Frankfurt am Main. Während dieser Zeit war er Mitglied im Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) und 1963/64 Vorsitzender der Gruppe Frankfurt. Im Jahr 1964 wurde er zum Landesvorsitzendes des SHB in Hessen gewählt und hatte dieses Amt ein Jahr inne. 1968/69 war Unterseher Mitherausgeber der Studentenzeitung DISKUS. Im Studium spezialisierte er sich auf die Fachrichtungen Rechts- und Militärsoziologie. Die Diplomarbeit behandelte die juristische Dogmengeschichte des Arbeitsvertrages mit gesellschaftspolitischen Bezügen.[2] Von 1968 bis 1971 war Unterseher Forschungsassistent am Institut für Sozialforschung, wo er ein Projekt betreute, das die Funktion der Gewerkschaften im Spätkapitalismus untersuchte. In dieser Zeit begann Unterseher mit seiner Dissertation, die ab 1971 mit einem Leistungsstipendium der hessischen Landesregierung unterstützt wurde. 1975 folgte die Promotion mit einer Studie über die soziale Funktion des Kollektiven Arbeitsrechts.[3]

Ab 1963 verbrachte er zahlreiche Aufenthalte in Israel und wurde in eine israelische Familie aufgenommen. Diese „Wahlverwandtschaft“ blieb bestehen. Er lernte das Genossenschaftswesen und die militärischen Organisation kennen. 1994 bis 1995 übernahm er eine Explorationstätigkeit im Rahmen eines EU-geförderten Projektes über die Nutzung erneuerbarer Energien im Kontext des Oslo-Prozesses.[4] Das Projekt endete mit der Ermordung von Premierminister Jitzchak Rabin. Dies vertiefte Untersehers wachsende Entfremdung vom politischen System des Landes.

Als einer der jüngeren Unterstützer von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer war Unterseher als einer von vier Redakteuren Mitbegründer und Autor der Vierteljahresschrift Kritische Justiz 1968.[5] Nach politischen Auseinandersetzungen mit der Redaktion verließ er 1971 die Redaktion.

Nach seinem Umzug von Frankfurt am Main nach Bad Godesberg übernahm er 1973 die Öffentlichkeitsarbeit für DATUM e. V. (Regional- und Stadtplanung), Vorsitzender des Vereins war Hans Koschnick. 1974 wurde er Redenschreiber des Bundesministers für Forschung und Technologie Hans Matthöfer. Von 1975 bis 1983 leitete er die Abteilung Organisationsforschung im Institut für angewandte Sozialwissenschaft (Infas). Forschungsgebiete waren Medienwirkung, Image und innerorganisatorische Willensbildung von Gewerkschaften, Ansehen der Streitkräfte und Wehrmotivation, öffentliche Relevanz der Verteidigungspolitik.

Von 1975 bis 1979 hatte er die Konzeption und Redaktion der Jahreszeitschrift Transfer inne, Schwerpunkthefte waren Chancengleichheit im Sozialstaat, Wahlforschung, Planung in Öffentlicher Hand, Stadt- und Regionalforschung sowie Jugendkultur.[6]

1983 bis 2000 war Unterseher Partner im Sozialforschungsinstitut SALSS mit den Forschungsgebieten Medienwirkung, Gesundheitsverhalten, Suchtproblematik in großen Organisationen, Krankenhäuser: Patienten- und Mitarbeiterzufriedenheit, Berufszufriedenheit ehemaliger Zeitsoldaten.

1980 gehörte er zu den Gründern und war dann langjähriger Vorsitzender der Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik (SAS). Kritik der Verteidigungsplanung: national und bündnisbezogen, Erkundung von Strukturalternativen zur Erhöhung sicherheitspolitischer Stabilität, Leistung: Entwicklung und Optimierung des „Spinne-im-Netz“-Modells: einer systematischen Verknüpfung quasi-stationärer, dezentraler leichter Komponenten mit schweren Interventionskräften, die sich durch die Synergie beider Komponenten verkleinern und an den zu verteidigenden Raum binden lassen (confidence-building defense).[7] Übertragung des terrestrischen Ansatzes auch auf Luft und See. Enge Kooperation mit dem Commonwealth Institute in Cambridge, MA (Project on Defense Alternatives).

1983 bis 1991 war Unterseher beratendes Mitglied der Kommission Sicherheitspolitik beim SPD-Parteivorstand und einer der Wortführer der Unilateralisten („selbständige Schritte zur Abrüstung“) gegen die Bilateralisten (Egon Bahr).[8] 1984 trat er als Sachverständiger vor dem Verteidigungsausschuss des Bundestages zum Thema „Alternative Strategien“ auf. Von 1983 bis 1991 und von 1998 bis 2006 war er sicherheitspolitischer Berater von SPD-Bundestagsabgeordneten.

Nach Erkenntnis von Matthew Evangelista (The Transnational Movement to End the Cold War, Ithaca, N. Y. 1999): konzeptueller Einfluss auf Andrej Kokoschin, den Berater Gorbatschows, der dessen selbständige Maßnahmen der Abrüstung und defensiven Umrüstung wesentlich mitprägte.[9]

1998 habilitierte er an der Universität Münster mit einer politikwissenschaftlichen Studie über die Umsetzung des Kategorischen Imperativs in die Verteidigungsplanung.[10]

Im Jahr zog Unterseher nach Berlin um und war von 2001 bis 2007 Partner im Sozialforschungsinstitut UP/Team (Unterseher/Palm) mit den Forschungsgebieten Schulungsbedarf von Personal- und Betriebsräten, Baustoffverwendung und Umweltschutz sowie Resonanz von öffentlichen Aufklärungskampagnen.[11]

Zwischen 1988 und 2017 hatte Unterseher Lehraufträge an deutschen Universitäten (Konstanz, Münster, Oldenburg und Osnabrück) zu sicherheitspolitischen und kultursoziologischen Themen. Hinzu kamen Vorträge an Militärakademien auch außerhalb Deutschlands. Vor dem Hintergrund des russischer Überfalls auf die Ukraine seit 2022 nahm er frühere Arbeiten zur Panzerkriegführung wieder auf[12] und analysierte die Ursachen dieses Krieges.[13] Darauf aufbauend skizzierte Unterseher eine mögliche künftige Verteidigung der Ukraine.[14]

Werke (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Volker Kröning, Lutz Unterseher, Günter Verheugen (Hrsg.): Defensive und Intervention: Die Zukunft vertrauensbildender Verteidigung. Edition Temmen, Bremen 1998, ISBN 3-86108-730-8.
  • Defensive ohne Alternative: Kategorischer Imperativ und militärische Macht. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden 1999, ISBN 3-8244-4351-1.
  • Volker Kröning, Lutz Unterseher, Günter Verheugen: Hegemonie oder Stabilität: Alternativen zur Militarisierung der Politik. Edition Temmen, Bremen 2002, ISBN 3-86108-368-X.
  • Frieden schaffen mit anderen Waffen? Alternativen zum militärischen Muskelspiel. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-17951-3.
  • Tiefschläge; Dem Feind in den weichen Unterleib: Zur Kritik militärischer Bedrohung gegnerischen Hinterlandes. LIT Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-643-12113-4.
  • Das Dilemma militärischer Sicherheit: Kritische Berichte aus drei Jahrzehnten. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-658-08006-8.
  • Der Erste Weltkrieg: Trauma des 20. Jahrhunderts. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-658-05043-6.
  • Der Erste Weltkrieg. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-658-05229-4.
  • Hitlers System oder die Zerstörung der Gesellschaft (= Geschichte. Bd. 2). LIT Verlag, Berlin 2015, ISBN 978-3-643-13656-5.
  • Antifritz: Hommage an Prinz Heinrich von Preußen. LIT Verlag, Berlin 2015, ISBN 978-3-643-13151-5.
  • Eisenbahn und Krieg: Theorie und Praxis von Friedrich Engels, Helmuth von Moltke, William Sherman. LIT Verlag, Berlin 2017, ISBN 978-3-643-13882-8.
  • Über die konzeptionelle Armut deutscher Sozialdemokraten, Sicherheitspolitische und andere Perspektiven. LIT Verlag, Berlin 2017, ISBN 978-3-643-13800-2.
  • Militärtheoretiker im Fadenkreuz: Liddell Hart und das Gewicht der Kritik. LIT Verlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-643-14110-1.
  • Sascha Lange, Lutz Unterseher: Kriege unserer Zeit: eine Typologie und der Brennpunkt Syrien. LIT Verlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-643-14268-9.
  • Gesichter des Krieges: Schlaglichter und Visionen. LIT Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-643-14462-1.
  • Krieg und Kriegsvermeidung: Theoretisch-praktische Schriften. Tectum, Baden-Baden 2019, ISBN 978-3-8288-4412-4.
  • Militärmacht China. Auf dem Weg zur Hegemonie? Tectum, Baden-Baden 2020, ISBN 978-3-8288-4550-3.
  • Carl Zuckmayer und Ernst Udet – Freundschaft als Missverständnis: Literaturgeschichte und Nationalsozialismus. LIT Verlag, Berlin 2021, ISBN 978-3-643-25033-9.
  • Kopflose Rüstung – Waffentechnik im Dritten Reich. LIT Verlag, Berlin 2021, ISBN 978-3-643-25021-6.
  • Über Panzer. Historisch-Kritisch-Aktuell (= Reihe Militärgeschichte, Band 15). LIT Verlag, Berlin 2023, ISBN 978-3-643-25112-1.
  • Lutz Unterseher (Hrsg.): Russland und die Ukraine. Krieg mit Ansage. LIT Verlag, Berlin 2023, ISBN 978-3-643-25093-3.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Bjørn Møller: Dictionary of Alternative Defense. L. Rienner Publishers, Boulder 1995, ISBN 1-55587-386-3, S. 346.
  2. Lutz Unterseher: Arbeitsvertrag und innerbetriebliche Herrschaft. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1969.
  3. Lutz Unterseher: Kollektives Arbeitsrecht und Tarifsystem. Frankfurt am Main 1975.
  4. G. Carmel, J. Kleinwächter, L. Unterseher: European-Israeli Cooperation on Renewable Energies. EUROSOLAR-Report, Bonn 1994.
  5. Lutz Unterseher: Bürgerliches Arbeitsrecht oder die Zerstörung der formalen Rationalität. In: Kritische Justiz. Heft 2, 1968.
  6. K. Schacht, L. Unterseher: Einführung zu transfer 1: Gleiche Chancen im Sozialstaat? Westdeutscher Verlag, Opladen 1975.
  7. SAS (Hrsg.): Strukturwandel der Verteidigung. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994, ISBN 3-531-11698-3.
    J. Grin, L. Unterseher: The Spiderweb Defense. In: Bulletin of the Atomic Scientists. Vol. 44, No 7, 1988.
  8. Lutz Unterseher: Für ein selbständiges Abkoppeln vom Rüstungswettlauf. In: DGB-Bundesvorstand (Hrsg.): Nie wieder Krieg? Düsseldorf 1985.
  9. M. Evangelista: Unarmed Forces – The Transnational Movement to End the Cold War. Cornell University Press, Ithaca 1999, ISBN 0-8014-3628-1.
  10. Lutz Unterseher: Defensive ohne Alternative: Kategorischer Imperativ und militärische Macht. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden 1999, ISBN 3-8244-4351-1 (Habilitationsschrift).
  11. B. Palm, L. Unterseher: Weiterbildungsangebote für Betriebsräte: Konkurrenz und Präferenz. Arbeitspapier Nr. 105, Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2005.
  12. Lutz Unterseher, Malcolm Chalmers: Is there a Tank Gap? Comparing NATO and Warsaw Pact Tank Fleets. In: International Security. Vol. 13, No. 1, Summer 1988, ISSN 0162-2889, S. 5–49.
    Lutz Unterseher: Über Panzer. Historisch-Kritisch-Aktuell (= Reihe Militärgeschichte, Band 15). LIT Verlag, Berlin 2023, ISBN 978-3-643-25112-1.
  13. Lutz Unterseher (Hrsg.): Russland und die Ukraine. Krieg mit Ansage. LIT Verlag, Berlin 2023, ISBN 978-3-643-25093-3, S. 14–42 (= II Hintergründe).
  14. Lutz Unterseher: Vertrauensbildende Verteidigung für die Ukraine. Grundlagen und Programm. LIT Verlag, Berlin 2023, ISBN 978-3-643-25104-6, S. 59–70 (= IV Militärische Sicherung).