Marin-Bericht

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Der Marin-Bericht, französisch rapport Marin, ist ein unter anderem von dem königlichen Notar Roch Étienne Marin unterschriebenes französisches Protokoll (procès-verbal) über morphologische Merkmale und die Sektion eines angeblich menschenfressenden Raubtiers. Außerdem enthält es Aussagen der Zeugen von Raubtierangriffen. Den Verfassern zufolge wurde es am 20. Juni 1767 geschrieben, ein Datum, das mit einer im Bericht protokollierten Zeugenaussage nicht vereinbar ist.

Der dreiseitige Marin-Bericht beginnt mit den Worten: „Heute, am 20. Juni 1767 …“ und endet mit den Unterschriften von fünf Unterzeichnern

Am 19. Juni 1767 erschoss der Gastwirt Jean Chastel während einer vom Marquis d’Apcher im südfranzösischen Zentralmassiv organisierten Treibjagd an einem waldbestandenen Nordhang des Mont Mouchet ein männliches Raubtier, bei dem es sich Zeugenaussagen zufolge um die sogenannte Bestie des Gévaudan gehandelt haben soll, der seit 1764 etwa einhundert Menschen zum Opfer gefallen waren. Das Tier wurde in das nördlich der Gemeinde Saugues gelegene Schloss Besques des Marquis transportiert, wo es am Folgetag von den Chirurgen Court-Damien Boulanger und Antoine Boulanger (Vater und Sohn) und dem Mediziner Jean-Baptiste Aiguillon de Lamothe untersucht und seziert wurde.

Der dreiseitige Bericht über diese Ereignisse wurde von den drei Untersuchern sowie von Marin und einem Brigadier Desgrignard unterschrieben. Von dem etwa 2500 Wörter umfassenden Bericht existierten vier handschriftliche Exemplare, von denen nur eines erhalten ist, das die Historikerin Élise Seguin 1952 in den Archives nationales in Paris entdeckte.[1] Der teilweise verblasste, schwer lesbare Text wurde unter anderem vom Geschichtsprofessor Jean-Marc Moriceau transkribiert.[2]

Inhalt des Berichts[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Bericht lässt sich im Wesentlichen in drei Teile gliedern: (1) Jagd auf das Raubtier; (2) Beschreibung des erlegten Tieres; (3) Zeugenaussagen.

Die Jagd[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In La Besseyre-Saint-Mary erinnert ein Relief daran, dass Jean Chastel unweit dieses Ortes den im Marin-Bericht beschriebenen Wolf erschoss

Im ersten Teil ihres Berichts schreiben die Autoren, es sei gelungen, „eine wilde Bestie“ (« une Bête féroce ») zu erschießen, die seit mehreren Jahren in den Provinzen Auvergne und Gévaudan „schreckliche Zerstörungen“ (« ravages affreux ») angerichtet habe und auf die zahllose erfolglose Jagden durchgeführt worden seien. Dieses Tier sei in den Gemeinden Nozeyrolles und Desges erschienen und habe am 18. Juni ein Kind „verschlungen“ (« dévoré »). Der Marquis d’Apcher sei daraufhin am Abend desselben Tages gegen 23 Uhr mit zwölf Jägern aufgebrochen und habe Wälder im Bergland der Margeride „geschlagen“ (man schlug auf die Vegetation, um Tiere aufzuscheuchen). Am nächsten Morgen gegen Viertel nach zehn Uhr sei das gesuchte Tier im Wald von Ténezère aufgetaucht; es sei von Jean Chastel erschossen und ins Schloss Besques transportiert worden.

Das Raubtier[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Tier schien den Autoren „ein Wolf zu sein, aber ein außergewöhnlicher und hinsichtlich seiner Gestalt und seiner Proportionen recht verschieden von den Wölfen, die man in diesem Land kennt. Dies haben uns mehr als 300 Personen bestätigt, die aus den umliegenden Gegenden gekommen sind, um das Tier zu sehen“ (« … nous a paru être un loup, mais extraordinaire et bien différent par sa figure et ses proportions des loups que l’on voit dans ce pays. C’est ce que nous ont certifié plus de 300 personnes de tous les environs qui sont venues le voir »). Allerdings habe das Tier Jägern und Sachkundigen zufolge nur hinsichtlich Schwanz und Hinterleib Ähnlichkeit mit einem Wolf. „Sein Kopf ist monströs, wie man den folgenden Proportionen entnehmen kann; seine Augen haben eine einzigartige Membran, … mit der das Tier willkürlich den Augapfel bedecken kann“ (« Sa tête, comme on le verra par les proportions suivantes, est monstrueuse: ses yeux ont une membrane singulière … venant au gré de l’animal recouvrir le globe de l'œil »).

„Das sehr dichte, rötlich graue Fell am Hals ist von einigen schwarzen Bändern durchzogen. Auf der Brust hat das Tier einen herzförmigen, großen, weißen Fleck. Seine Pfoten haben vier Zehen, die mit großen Krallen bewaffnet sind, die sich viel weiter erstrecken als die von gewöhnlichen Wölfen. Sie haben, wie die Beine, die sehr groß sind, vor allem die Vorderbeine, die Farbe eines Rehs. Dies scheint uns eine bemerkenswerte Beobachtung zu sein, denn nach dem Urteil dieser Fachleute und aller Jäger wurden niemals Wölfe mit solchen Farben gesehen“ (« Son col est recouvert d’un poil très épais d’un gris roussâtre traversé de quelques bandes noires. Il a, sur le poitrail, une grande marque blanche en forme de cœur. Ses pattes ont quatre doigts armés de gros ongles qui s’étendent beaucoup plus que celles des loups ordinaires. Elles ont, ainsi que les jambes qui sont fort grosses, surtout celles du devant, la couleur de celles du chevreuil. Cela nous a paru une observation remarquable parce que, de l’avis de ce mêmes chasseurs personnes connaisseuses et de tous les chasseurs, on n’a jamais vu aux loups de pareilles couleurs »).

Die Untersucher maßen zahlreiche Körperteile des Raubtiers, auch seine Zähne, und „… entnahmen dem Magen einen Knochen, von dem sie sagten, er sei der Oberschenkelkopf eines Kindes mittleren Alters“ (« … ont tiré de l’estomac un os qu’ils ont dit être la tête du fémur d’un enfant de moyen âge »).

Zeugenaussagen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Bericht werden Aussagen der Zeugen von Raubtierangriffen aufgeführt sowie von Personen, die auf das erlegte Tier geschossen oder gegen es gekämpft haben wollten. Zeugen werden meist mit Namen, Alter und Wohnort genannt, auch Angriffsszenarien werden umrissen. 28 namentlich genannte Personen gaben laut Marin-Bericht an, das Raubtier wiederzuerkennen. Im Kadaver gefundener Bleischrot sowie Narben an Beinen und Kopf wurden denjenigen Zeugen zugeordnet, die angaben, das Tier, zum Teil Jahre früher, durch Schüsse beziehungsweise einen Hieb mit einem Bajonett verletzt zu haben.

Weitere Berichte über die Ereignisse[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Außer den Autoren des Marin-Berichts hinterließen weitere Personen schriftliche Aufzeichnungen über die Ereignisse. Eine namentlich nicht bekannte Person aus dem Gefolge des Comte de la Tour d’Auvergne traf am Sonntag, dem 21. Juni, gegen Mittag in Schloss Besques ein und verfasste am 6. Juli einen Text, der von Marin „gelesen und bestätigt“ und nach behördlicher Freigabe gedruckt wurde (« Lu et approuvé, ce 25 juillet 1767. Marin »).[3] In diesem Text wird unter anderem über die Ankunft der Zeugin Marie Reboul an diesem Sonntag berichtet; Marie war einige Monate zuvor durch einen Bestienangriff schwer verletzt worden. Ihr Erscheinen erregte Aufmerksamkeit, weil sie einen Schwächeanfall erlitt, als sie den (durch unsachgemäße Autopsieversuche zerfetzten) Kadaver erblickte. Dem Text zufolge wurden im Wolfsmagen Knochen eines Schafes und Eingeweide von Tieren gefunden – eine im Marin-Bericht fehlende Information. Eine ebenfalls namentlich unbekannte Person, nach Bonet wahrscheinlich ein Mediziner (« un praticien »), beschrieb den ausgestopften Kadaver und ergänzte im Marin-Bericht nicht enthaltene Beobachtungen, etwa zur Rückenfärbung des Tieres und verwies – im Widerspruch zum Marin-Bericht – auf kurze, abgenutzte Zähne. Diesem Untersucher waren weder die im Marin-Bericht erwähnte „rötliche“ Fellfärbung aufgefallen noch ungewöhnlich große Vorderbeine noch außergewöhnlich große Krallen.[4] Gibert, ein Angestellter des Marquis d’Apcher, berichtete Jahrzehnte später, er sei im August 1767 mit dem verwesenden Tierpräparat nach Paris geschickt worden, wo der renommierte Naturforscher Comte de Buffon das Präparat sorgfältig untersucht habe und zu dem Schluss gekommen sei, es sei „nur ein großer Wolf“ (« ce n’était qu’un gros loup »).[5]

Quellenkritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Moriceau ordnet den Marin-Bericht als Dokument ein, das eine für die Zeit des Ancien Régime mustergültige Präzision offenbare (« Il est difficile de demander à un document historique de l’Ancien Régime davantage de précisions »). Der Bericht beweise aufgrund des gefundenen menschlichen Knochenfragments, dass das erlegte Tier „ein großer Canide mit abweichendem Verhalten“ gewesen sei (« un grand canidé au comportement déviant »).[6]

Der Geschichtsprofessor Smith wertet den Marin-Bericht dagegen als „Gegen-Narrativ“ (“counternarrative”) zu einem 1765 entworfenen Narrativ. François Antoine, der persönliche Waffenträger des Königs, hatte im September 1765 in der Margeride einen Wolf erschossen, der in Versailles als „Bestie des Gévaudan“ präsentiert worden war. In einem procès-verbal waren zahlreiche Details über die Morphologie dieses Tieres aufgelistet worden, herbeizitierte Angriffszeugen hatten diesem Bericht zufolge die Identität des Tieres als Bestie bestätigt. Diese Zeugen hatten jedoch laut Smith kaum eine andere Wahl, als den erschossenen Wolf als Bestie zu identifizieren. Kritische Äußerungen zur Identität des Wolfs als Bestie wären nach Smiths Einschätzung nicht protokolliert worden. Nicht nur der procès-verbal vom September 1765, auch der gesamte Ablauf der Ereignisse nach dem Erschießen des Wolfs weist so eindeutige Parallelen zu dem Geschehen vom Juni 1767 auf, dass Smith letzteres als „bewusste Nachahmung“ desjenigen von 1765 bezeichnet (“locals … consciously mimicked the procedures of late September 1765”). Ziel der Ereignisse vom Juni 1767 sei es gewesen, so Smith, „Antoine durch lokale Helden zu ersetzen“ (“[they] put local heroes in the place of Antoine”).[7]

Der Zoologe Taake verweist auf logische Widersprüche im Marin-Bericht. Anders als im Bericht behauptet, lassen die Beschreibungen und Maße des Tieres auf einen normalen Wolfsrüden ohne besondere Merkmale in Körperbau und Fellfärbung schließen. So entsprechen die angegebenen Dimensionen des als „monströs“ bezeichneten Kopfes denen eines normalen Wolfskopfes, die angeblich einzigartige Membran am Auge ist die Nickhaut. Der Wolf hatte offenbar keine besonderen Kennzeichen, die es den im Bericht zitierten Zeugen ermöglicht haben könnten, das Tier unter der Vielzahl anderer Wölfe wiederzuerkennen; ein weißer Brustfleck etwa und eine dunkle Bänderung treten im Fell Eurasischer Wölfe regelmäßig auf. Fraglich ist Taake zufolge auch, ob im Wolfsmagen neben Schafsknochen tatsächlich ein menschliches Knochenfragment gefunden wurde, denn die Untersucher hätten den angeblichen Femurkopf eines Kindes nur anhand seiner Knochenstruktur vom Femurkopf eines Schafes unterscheiden können.[8]

Zu den Ungereimtheiten des Marin-Berichts gehört außerdem, dass Marie Reboul, die am 21. Juni auf Schloss Besques eintraf, im Bericht als Zeugin aufgeführt wird. Die Autoren des Marin-Berichts schreiben an mehreren Textstellen, sie hätten ihren Bericht am 20. Juni verfasst – andererseits bestätigte Marin mit seiner Unterschrift aber den Bericht über Maries Ankunft am 21. Juni.[9]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Laurent Mourlat: La Bête du Gévaudan : l’animal pluriel (1764-1767). Études européennes et américaines, filière France. Université d’Oslo, Institut de littérature, civilisation et langues européennes. 2016. S. 153. [1]
  2. Jean-Marc Moriceau: La bête du Gévaudan: Mythe et réalités. Paris 2021. S. 328–338.
  3. Alain Bonet: La Bête du Gévaudan. Chronologie et documentation raisonnées. 2008–2021. S. 613. [2]
  4. Alain Bonet: La Bête du Gévaudan. Chronologie et documentation raisonnées. 2008–2021. S. 614. [3]
  5. Alain Bonet: La Bête du Gévaudan. Chronologie et documentation raisonnées. 2008–2021. S. 613.[4]
  6. Jean-Marc Moriceau: La bête du Gévaudan: Mythe et réalités. Paris 2021. S. 339.
  7. Jay M. Smith: Monsters of the Gévaudan. The Making of a Beast. Cambridge 2011. S. 208 f., 240 f.
  8. Karl-Hans Taake: The 1767 French "Rapport Marin" – a Questionable Report about the Examination of an Allegedly Man-eating Wolf (Canis lupus). ResearchGate 2023. doi: 10.13140/RG.2.2.10323.35360
  9. Alain Bonet: La Bête du Gévaudan. Chronologie et documentation raisonnées. 2008–2021. S. 600, 603, 613.[5]