Power Electronics

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Power Electronics

Entstehungsphase: Beginn der 1980er Jahre
Herkunftsort: Vereinigtes Königreich
Stilistische Vorläufer
Industrial, Noise
Pioniere
Whitehouse, Leibstandarte SS MB, Con-Dom
Genretypische Instrumente
Synthesizer, Sampler
Stilistische Nachfolger
Death Industrial, Harsh Noise Wall

Power Electronics (englisch für Leistungselektronik), gelegentlich auch als Heavy Electronics oder Whitehouse bezeichnet, ist ein Musiksubgenre, das dem Post-Industrial zugerechnet wird.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Laut Marcus Stiglegger formte Anfang der 1980er Jahre eine neue Generation von Industrial-Interpreten auf den „agitatorischen Noise-Attacken früher Industrialbands“[1] aufbauend das Subgenre Power Electronics. Als Initiator einer neuen Substilrichtung im Spektrum des Post-Industrial radikalisierte Whitehouse Stilelemente des Ur-Genres und kombinierte atonal arrangierten Lärm der auf Lautstärke und Verzerrung beruht, stark verzerrten Schreigesang mit Texten und Samplings die auf Brutalität, sexuelle Gewalt, Serienmord und Faschismus verweisen.[2]

Come-Org-Katalog von 1982

„Fern jedes Gespürs für Beat, Melodie und Struktur, erfanden Whitehouse durch die Abkehr von allen bisherigen Musikgenres ein Mikrogenre von Industrial, das später als ‚Power Electronics‘ bezeichnet wurde und in dem ‚Ohren als Wunden‘ betrachtet wurden.“

Simon Reynolds: Rip It Up And Start Again. S. 256[3]

William Bennett von Whitehouse und Cut Hands prägte den Genrebegriff durch die Linernotes des 1982 veröffentlichten Whitehouse-Albums Psychopathia Sexualis. Weitere Verwendungen des Begriffs verstärkten die Wahrnehmung von Interpreten auch außerhalb des Kreises um Bennett und sein Unternehmen Come Org.[4] Zeitnahe Interpreten wie das deutsche Projekt Genocide Organ oder Atrax Morgue aus Italien wurden als Teil einer gemeinsamen Post-Industrial-Strömung wahrgenommen.

Zum Ende der 1980er und Beginn der 1990er Jahre verschmolzen neue, bis dahin unbekannte Künstler auch Elemente dieses Genres mit Stil-Facetten, die der Gothic-Szene entstammten. Darunter rechnet Stiglegger den um das Label Cold Meat Industry entstanden Death Industrial.[1] Während Come Org 1985 den Betrieb einstellte, waren es Firmen wie das amerikanische Label Malignant Records, die durch Veröffentlichungen aus dem Death-Industrial- und Power-Electronics-Bereich populär wurden.[5]

Stileinordnung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Whitehouse, hier live im Jahr 2006, waren für alle Stilelemente des Genres mit prägend.

Bei vielen dem Genre zugerechneten Interpreten sind über die musikalische Ausrichtung hinaus Gemeinsamkeiten in Inhalt und Ästhetik zu erkennen. Das Genre adaptierte Ideen der ersten Generation des Industrial und radikalisierte sie. Joseph Nechvatal beschreibt in seinem Essay Towards a Sound Ecstatic Electronica: the Rational Behind Tellus Issues “Power Electronics” and “Media Myth” das Gefühl der Desorientierung des Individuums in der Informationsgesellschaft als gemeinsame Prämisse der neuen Spielweise, die sich der „Erforschung der introspektiven Welt des Ohrs unter dem Einfluss einer hochfrequenten elektronischen“ Ambient-Musik verschrieb.[4] Die Interpreten folgten laut Nechvatal dabei instinktiv der Erforschung der Möglichkeit, den Verlust der Sicherheit durch die zunehmende Auflösung klarer Machtverhältnisse in der Gesellschaft „symbolisch in künstlerische Abstraktionen von sozialem Wert“ zu wandeln.[4] Das Resultat ist eine Musik, die mit Extremen agiert. Im Rahmen dieser expressiven und zugleich konfrontativen und provokativen Herangehensweisen waren Vertreter des Genres häufig mit ähnlichen Themen befasst. Als solche gelten besonders Serienmord, Folter, Massenmord, Faschismus, Gewalt und Sexualität.[6]

„Die Anmutung ist rebellisch, nonkonformistisch bis aggressiv, es wird eine Art Endzeitstimmung vermittelt. Wenn sich zu dieser Musik bewegt wird, kann weniger von Tanzen gesprochen werden – vielmehr lässt man sich von den Geräuschen treiben. Bei Live-Konzerten sind durchdachte Multimedia-Installationen und Performance-Elemente an der Tagesordnung.“

Judith Platz: Die schwarze Musik, S. 272.[7]

Der britische Journalist Philip Taylor zog eine direkte Traditionslinie aus dem Futurismus und Dadaismus über Fluxus und Wiener Aktionismus zum performativen Konzept des Power Electronics. Die radikale Körperlichkeit der Musik und die schockierende Konfrontation mit sozialen und politischen Extremen sollte Reaktionen erzwingen.[8]

Musik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Judith Platz beschreibt Power Electronics als Pendant zum Elektro-Industrial. Beiden sei gemein, dass sie „unter Zuhilfenahme aller vorhandenen elektronischen Produktionsmöglichkeiten kreiert“ würden und zum Zuhören zwingen.[7] Das Genre basiert musikalisch auf Lautstärke und „brachialem Lärm“ mit teils extremen Rhythmen[6], die keinem Takt kontinuierlich folgen und keine eindeutige nachvollziehbare oder vorausschaubare Struktur aufweisen.[3] Stark verzerrter Brüll- und Schreigesang sowie Samples, die oft den üblichen Inhalten entsprechend aus Filmen und Reden stammen, ergänzen das Klanggebilde.[3]

Inhalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ilse Koch, hier 1947, widmete Come Org eine Kompilation, die als programmatisch für die Themen des Genres gilt.

Whitehouse und das Label Come Organisation definierten mit ihren frühen Veröffentlichungen den inhaltlichen und musikalischen Rahmen des Mikrogenres innerhalb des Post-Industrial. Insbesondere die 1982 veröffentlichte Kompilation Für Ilse Koch wurde als Eckpunkt der inhaltlichen Ausrichtung wahrgenommen.[3] Dabei, so Carla Mureck in ihrem Essay „Die Hölle ist da, feiern wir das wärmende Feuer“, war die Wahl von Ilse Koch als die einer „x-beliebigen, sexuell frustrierten deutschen Frau, die ihre Sadismen an hilflosen KZ-Opfern in grausamster Weise auslebte“, als Verweis auf den „Zusammenhang von sozialem System und Psyche“ zu begreifen.[9]

Eine den Interpreten des Genres vorgeworfene Reduzierung auf Konfrontation und Provokation wird von Fürsprechern als verkürzende Interpretation negiert. Auch Kritik an einer möglichen Nähe und positiven Bezugnahme auf den Nationalsozialismus und Rechtsextremismus wird als Fehl-Interpretation einer Destruktion, Entkontextualisierung und Dekonstruktion betrachtet. Dennoch entstand in Nordamerika eine Szene, die die Elemente des Genres adaptierte und „vereindeutigend in rassistische und rechtsextreme Kontexte überführ[te]“. Die potentielle Nähe findet derweil in der Rezeption und damit im Publikum auch affirmative Entsprechungen.[6]

Kultur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Industrial-Pionier und Begründer von Throbbing Gristle Genesis P-Orridge lehnte diese Folgeerscheinung vehement ab und sah sich, insbesondere von dem Genre-Initiator Whitehouse falsch verstanden.[10] Zugleich erarbeitete sich das verlegende Label Come Organisation, das von William Bennett 1979 gegründet wurde, ein eigenes Publikum in der Industrial Culture. Das Genre blieb dabei international ein Underground-Phänomen mit uneinheitlichen Publikum. Eine eigenständige Szene mit eigenen kulturellen Ausprägungen bildete sich nicht. Das Publikum von Konzerten besteht überwiegend aus Anhängern des Post-Industrial, des Electro und des Dark Wave, insbesondere des Neofolk, zusammen.[6] Interpreten wie Macelleria Mobile di Mezzanotte traten noch in der Mitte der 2000er-Jahre in Rom in Kellern und kleinen Lokalitäten vor Neofolk-Anhängern, „ein paar erschöpften Ravern und Metalheads“ auf.[11]

Populäre Interpreten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Marcus Stiglegger: Industrial. In: Thomas Hecken, Marcus S. Kleiner (Hrsg.): Handbuch Popkultur. J.B.Metzler, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-476-05601-6, S. 97–101.
  • Jennifer Wallis: Fight Your Own War: Power Electronics and Noise Culture. Headpress, 2016, ISBN 978-1-909394-40-7.
  • Simon Reynolds: Rip It Up And Start Again. Hannibal-Verlag, München 2007, ISBN 978-3-85445-270-6, Industrial Devolution: Musik aus der Todesfabrik, S. 255 bis 257.
  • Judith Platz, Megan Balanck, Alexander Nym: Schwarze Subgenres und Stilrichtungen. Elektronischer Industrial & Power Electronics. In: Alexander Nym (Hrsg.): Schillerndes Dunkel. Geschichte, Entwicklung und Themen der Gothic-Szene. 2010, ISBN 978-3-86211-006-3, S. 144–181, hier 162 f.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b Marcus Stiglegger: Industrial. In: Thomas Hecken, Marcus S. Kleiner (Hrsg.): Handbuch Popkultur. J.B.Metzler, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-476-05601-6, S. 99.
  2. Simon Reynolds: Rip It Up And Start Again. Hannibal-Verlag, München 2007, ISBN 978-3-85445-270-6, Industrial Devolution: Musik aus der Todesfabrik, S. 255 f.
  3. a b c d Simon Reynolds: Rip It Up And Start Again. Hannibal-Verlag, München 2007, ISBN 978-3-85445-270-6, Industrial Devolution: Musik aus der Todesfabrik, S. 256.
  4. a b c Joseph Nechvatal: Towards a Sound Ecstatic Electronica: the Rational Behind Tellus Issues "Power Electronics" and "Media Myth". Ubuweb Sound, abgerufen am 5. Juni 2022.
  5. Richard Stevenson: Spectrum Compendion. Headpress, London 2019, ISBN 978-1-909394-62-9, S. 17–21.
  6. a b c d Judith Platz, Megan Balanck, Alexander Nym: Schwarze Subgenres und Stilrichtungen. In: Alexander Nym (Hrsg.): Schillerndes Dunkel. Geschichte, Entwicklung und Themen der Gothic-Szene. 2010, ISBN 978-3-86211-006-3, S. 144–181, hier 162 f.
  7. a b Judith Platz: Die schwarze Musik. In: Axel Schmidt, Klaus Neumann-Braun (Hrsg.): Die Welt der Gothics. Spielräume düster konnotierter Transzendenz. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, ISBN 3-531-14353-0, S. 253–284, hier 273.
  8. Philip Taylor: The Genesis of Power Electronics in the UK. In: Jennifer Wallis (Hrsg.): Fight Your Own War: Power Electronics and Noise Culture. Headpress, 2016, ISBN 978-1-909394-40-7, S. 10–18, 12ff.
  9. Carla Mureck: „Die Hölle ist da, feiern wir das wärmende Feuer“. In: Andrea Hoffmann, Kim Riemann (Hrsg.): Partitur der Träume (= Konkursbuch. Nr. 25). Claudia Gehrke, Tübingen 1990, ISBN 3-88769-225-X, S. 128 bis 149, hier S. 146.
  10. Simon Reynolds: Rip It Up And Start Again. Hannibal-Verlag, München 2007, ISBN 978-3-85445-270-6, Industrial Devolution: Musik aus der Todesfabrik, S. 255.
  11. Schlemihl: MACELLERIA MOBILE DI MEZZANOTTE – Intervista. Aristocrazia Webzine, abgerufen am 5. Juni 2022.