Pygophilie

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Pygophilie (altgriechisch pygo πυγή (puge), deutsch ‚Schwanz‘, ‚Steiß‘, ‚Hinterteil‘, und φιλία philía, deutsch ‚Freundschaft‘, ‚Liebe‘, von φίλος philos, deutsch ‚Freund‘) ist eine Paraphilie. Sie bezeichnet die ausgeprägte sexuelle Neigung, die das Gesäß betrifft. Diese Vorliebe kann sexuelle Lust erzeugen, wenn ein Gesäß zur Schau gestellt, betrachtet, berührt oder auch geschlagen wird. Pygophilie hat – wie alle Paraphilien – keinen grundsätzlichen Krankheitswert, sondern nur dann, wenn sie bei der betroffenen Person mit Leidensdruck einhergehen oder nicht sozialverträglich sind, also die Gesellschaft schädigen.[1]

Die sexuelle Attraktivität des Gesäßes[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Venus von Willendorf

Altsteinzeitliche Venusfigurinen zeugen von der frühen Bedeutung der Hinterbacken für die sexuelle Attraktivität. Beispielsweise verfügt die Venus von Willendorf, deren Alter auf 29.500 Jahre datiert wird, über ein ausgeprägtes Gesäß – und ebenso über sehr große Brüste. Bei manchen Ethnien sind die weiblichen Gesäßbacken verstärkt als Geschlechtsmerkmal betont. Besonders bekannt dafür sind die Frauen der Völkerfamilie der Khoikhoi; in der Kolonialzeit bürgerte sich dafür die heute als rassistisch geltende Bezeichnung Hottentotten ein. Sie verfügen über eine übermäßige Fettanhäufung am Gesäß, auch Fettsteiß genannt oder als Steatopygie bezeichnet.

Bei den paläolithischen Venusfigurinen fällt die gleichzeitige Betonung von Brüsten und Gesäß auf. Desmond Morris sieht darin keinen Zufall: Weibliche Brüste hätten sich als Mimikry der Hinterbacken entwickelt, als die Unterseite des Menschen durch den aufrechten Gang zur Vorderseite wurde und es dennoch galt, schnell sexuelle Signale zu vermitteln.[2] Menschen zeigen also gerne ihre Hinterteile, betonen sie, stellen sie aus – und schauen dementsprechend darauf. Im 18. und 19. Jahrhundert betonten Frauen ihr Hinterteil künstlich durch aufbauschende Kleidung; es entstand der Cul de Paris. Heute haben Prominente mit ausladenden Hinterteilen wie Shakira oder Kim Kardashian Millionen von Fans. Zudem gibt es eine große Anzahl von chirurgischen Gesäßvergrößerungen: Über 370.000 waren es 2017 weltweit, in Deutschland immerhin 1.860; dazu kamen 1.874 Liftings der Hinterbacken. Diese Eingriffe hatten weltweit Zuwachsraten gegenüber 2016 zwischen 11 und 17 % (je nach Art).[3]

Betonen, Ausstellen und Anschauen des Gesäßes in der Kunst[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Aphrodite Kallipygos, hellenistische Statue im Archäologischen Nationalmuseum Neapel.

In der Kunst hat das Gesäß seit jeher eine Rolle gespielt. Die erotische Schönheit des weiblichen Gesäßes war schon im antiken Griechenland wichtig, zu sehen etwa bei der Aphrodite Kallipygos oder Venus Kallipygos genannt, mit der Bedeutung die mit schönem Hintern oder die Prachthintrige. Es handelte sich um den Beinamen der Aphrodite beziehungsweise der Venus, der für Statuen und Münzen verwendet wird, die sie nach hinten blickend darstellen. Das Gesäß ist dabei stark betont, und der Blick der Göttin, die als Venus Kallipygos extra die Bekleidung hochzieht, um das Hinterteil freizulegen, zeugt von besonderem Interesse an den Hinterbacken. Das erfolgt eventuell auch in einem kultisch-magischen Zusammenhang (Anasyrma), um Unheil abzuwenden. Seit der Erfindung der Fotografie wurde das Gesäß ebenfalls oftmals ins Zentrum des Betrachters gerückt. Ein Beispiel aus dem ausgehenden 20. Jahrhundert ist das Buch des französischen Fotografen Jeanloup Sieff.[4]

Darstellungen von erotischer Prügelstrafe machen einen großen Teil der viktorianischen Pornografie aus. Heute fasst man erotische Praktiken, die auch Schlagen auf das Hinterteil (auch als Spanking bekannt) enthalten können, als BDSM zusammen. In den 1960er Jahren erreichte die BDSM-Thematik – und damit auch erotisches Spanking – mit Filmen wie die Die Geschichte der O und Venus im Pelz ein großes Publikum. Ein besonderer kommerzieller Erfolg war 1986 der Film 9½ Wochen. 2011 und 2012 schrieb die britische Autorin E. L. James die erotische Roman-Trilogie Shades of Grey, ein Bestseller. Die Verfilmung des ersten Teils erschien 2015. Der zweite Teil, Fifty Shades of Grey – Gefährliche Liebe kam am 9. Februar 2017 in die Kinos. 2018 folgte der 3. Teil als Fifty Shades of Grey – Befreite Lust.

Schläge auf das Gesäß als Körperstrafe und Sexualpraktik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In etlichen Kulturen wurde das Gesäß auch als primäres Ziel für die körperliche Bestrafung verwendet, da dessen Unterhautfettschicht Schutz vor ernsten Verletzungen bietet und dennoch das Zufügen von Schmerzen erlaubt. Eine gesteigerte Vorliebe für das Gesäß und das Interesse an sexueller Befriedigung kann als erotisierende Handlung ebenfalls zu Hieben führen. Für solch ein erotisches Spanking gibt es bereits Nachweise im Altertum. Die wohl früheste Darstellung erotischen Spankings findet sich im etruskischen Tomba della Fustigazione (Grab der Züchtigung). Das Grab wird an das Ende des 6. vorchristlichen Jahrhunderts datiert. Es handelt sich um eine ca. 4 × 4 Meter große, ausgemalte Gruft, die 1960 entdeckt wurde. Eine Szene auf der rechten Wand gab dem Grab seinen Namen: Auf dieser Wand sind eine Frau und zwei Männer beim Liebesspiel dargestellt, wobei die Frau vorgebeugt ist und von dem einen Mann mit einer Rute, von dem anderen mit der Hand geschlagen wird. Das Schlagen könnte ritueller Natur gewesen sein.[5] Erotische Szenen wie diese hatten den apotropäischen Zweck, Dämonen vom Grab fernzuhalten.

Schläge auf das Gesäß als Sexualpraktik.

Ursachen für pygophiles Verhalten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als pygophil werden nur entsprechend veranlagte Menschen bezeichnet. Diese sexuelle Ausprägung hat evolutionär jedoch tiefere Wurzeln. Sie ist bereits bei Affen anzutreffen und steigert dort ihre sexuelle Aktivität.[6] Beim Menschen entzieht sich die Pygophilie wie auch bei anderen Paraphilien einer vollständigen Erklärung. Die Komplexität des Systems Mensch-Umwelt-Erfahrung-Erziehung ist so hoch, dass sich die Medizin den meisten Bereichen durch Wahrscheinlichkeiten und Hinweise nähert; evidenzbasierte Medizin hat seit den 1990er Jahren an Bedeutung gewonnen. Es gibt allerdings genetische und molekulare Mechanismen, die für das Auftreten von bestimmten Sexualverhalten und speziell der Pygophilie diskutiert werden können, obwohl selbst bei der Homophilie nicht einzelne verursachenden Gene gefunden wurden.[7]

Zumindest in dem Bereich, wo es durch Schläge auf das Gesäß auch Verbindungen zu Schmerzempfindungen gibt, lassen sich molekulare Mechanismen als Faktoren für darauf bezogenes sexuelles Verhalten finden. Eltern geben Informationen nicht über die DNA-Sequenz, sondern eben auch epigenetisch mit den Spermien und Eizellen an ihre Nachkommen weiter, über biologische Faktoren, die die DNA regulieren. Bei Menschen hat man dies noch nicht nachgewiesen, aber bei Mäusen. Schweizer Forscher zeigten, dass ein Trauma in der Kindheit tatsächlich lebenslang die Zusammensetzung des Blutes beeinflusst und dass diese Veränderungen auch an die Nachkommen vererbt werden.[8] Andere Forscher fanden heraus, dass der Neurotransmitter Dopamin über seine Aufgabe als Signalüberträger hinaus eine epigenetische Funktion hat.[9] Bei Ratten stellte man fest, dass Dopamin das Drogensuchtverhalten kontrollieren kann. Langfristiger Kokainkonsum verändert neuronale Schaltkreise in der Belohnungsbahn des Gehirns. Dazu müssen Gene ein- und ausgeschaltet werden, um die notwendigen Proteine zu erzeugen – ein epigenetischer Prozess.

Dopamin spielt auch bei der Schmerzempfindung eine wichtige Rolle. Demnach bilden sich bei Kindern, die öfters Körperstrafen erhielten, in einem bestimmten Hirnareal weniger Dopaminrezeptoren aus.[10][11][12][13] Das Dopaminsystem ist eng verbunden mit Lustempfindung.[14] Normalerweise soll das Dopaminsystem also vielfältig aktivierbar sein. Kinder, die öfters geschlagen werden, entwickeln aber einen Dopaminrezeptor-Mangel, sodass ihr Lustsystem empfänglich für stärkere Reize wird. Eine wissenschaftliche Befragung von 152 Personen, die für sich Praktiken des Sadomasochismus reklamierten – bei dem Spanking ein Teilgebiet darstellt, ergab, dass 22 % als Kind missbraucht oder mit Gegenständen geprügelt worden waren.[15] 78 % allerdings gaben an, dieses Interesse von sich aus (intrinsisch) oft schon in Kindes- und Jugendjahren entwickelt zu haben. Als Gründe für ihr Erwachsenenverhalten gaben in derselben Studie von diesmal 227 Befragte 46 % an, das Spielen mit zwischenmenschlicher Gewalt zu mögen (Dominanz, Unterwerfung). 37 % wollten schmerzhafte Reize. Dabei unterschieden sie durchaus zwischen „gutem Schmerz,“ etwa durch die Peitsche eines Partners/einer Partnerin und „schlechtem Schmerz“ (etwa Zehen anstoßen). 18 % gaben als bevorzugte Methode für die Schmerzempfindung Spanking an.

Schließlich gibt es für eine Vorliebe von schmerzbehafteten Spielen mit dem Gesäß die Annahme, dass das Gehirn dann Endorphine ausschüttet. Wenn man deutlich und häufig Schläge bekommt – was dann zu ebenso häufigen und intensiven Endorphinausbrüchen führt, kann sich eine Sucht beispielsweise nach Hieben auf die Gesäßbacken und der damit einhergehenden Endorphinausschüttung ergeben. Mit der Zeit verbinden sie die Hiebe mit nicht nur angenehmen, sondern auch erotischen Gefühlen.[16]

Cortisol ist ein Hormon, das dem Körper hilft, sich auf Kampf, Flucht oder Erstarren bei Gefahr vorzubereiten. Kinder, die geschlagen werden, haben keine Möglichkeit zu fliehen oder zu kämpfen – sie müssen sich dem Schmerz und der Gewalt unterwerfen. Körperliche Züchtigung löst die Ausschüttung von Cortisol aus. Wiederholte Cortisolerhöhungen können es leichter machen, Gefahren und Schmerzen auszuhalten. Das kann auch dazu führen, dass man als Erwachsener gewaltassoziierte Kindheitserlebnisse verharmlost. Forscher fanden nun bei einer Gruppe von Mädchen, die körperliche Disziplinierungen erfahren hatten, nicht die zu erwartende Cortisolerhöhung. Stattdessen wiesen sie einen enormen Anstieg des Hormons Oxytocin auf.[17]

Nicht zuletzt gibt es auch unmittelbare Verbindungen zwischen dem Gesäß und den Sexualorganen. Nervenbahnen, die durch die untere Wirbelsäule verlaufen, übertragen sensorische Empfindungen zum und vom Gesäß und den Genitalien. Es wird vermutet, dass diese Nerven eine Region stimulieren können, wenn die andere gereizt wird. Es gibt auch ein Gesäß und Genitalien verbindendes Blutgefäß im Beckenbereich, die Arteria iliaca communis.[18] Wenn sich etwa beim Peitschen Striemen auf den Gesäßbacken bilden, strömt das dazu notwendige Blut auch durch diese Arterie.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. What The DSM-5 Means For The Diagnosis And Treatment Of Sexual Issues. Abgerufen am 9. September 2016.
  2. Desmond Morris: Der Mensch, mit dem wir leben. Ein Handbuch unseres Verhaltens. München, Droemer Knaur, 1983. ISBN 3-426-26072-7, S. 239–240.
  3. International Society of Aesthetic Plastic Surgery: ISAPS International Survey on Aesthetic/Cosmetic Procedures performed in 2017 (englisch).
  4. Derrières - hommage à quatre-vingt-treize derrières choisis pour leurs qualités plastiques, intellectuelles ou morales. Contrejour, Paris 1994. ISBN 2859491724. Deutsch: Hommage an dreiundneunzig Hintern, ausgewählt nach ihren plastischen, intellektuellen oder moralischen Qualitäten. Art Stock, Kehl 1994. ISBN 3-89507-226-5.
  5. Stephan Steingräber: Abundance of Life: Etruscan Wall Painting. Los Angeles: Getty Publications. 2006, S. 67–68, 100. ISBN 9780892368655
  6. https://www.mpg.de/10621021/bonobo-weibchen-schwellung
  7. Ganna, A., Verweij, K. J., Nivard, M. G., Maier, R., Wedow, R., Busch, A. S., ... & Lundström, S. (2019). Large-scale GWAS reveals insights into the genetic architecture of same-sex sexual behavior. Science, 365(6456), eaat7693. doi:10.1126/science.aat7693
  8. Gretchen van Steenwyk, Katharina Gapp, Ali Jawaid et al.: Involvement of circulating factors in the transmission of paternal experiences through the germline. The EMBO Journal, 9. Oktober 2020.
  9. Ashley E. Lepack, Craig T. Andrew, F. Stewart Werner et al.: Dopaminylation of histone H3 in ventral tegmental area regulates cocaine seeking. Science, 10. April 2020, S. 197–201.
  10. Beate Lakotta: Triebwerk im Keller der Seele Spiegel, 28. April 2006, abgerufen am 17. Juni 2021.
  11. Yi-Shin Sheu, Ann Polcari, Carl M. Anderson, Martin H. Teicher: Harsh corporal punishment is associated with increased T2 relaxation time in dopamine-rich regions; NeuroImage, Volume 53, Issue 2, 2010, Pages 412-419, doi:10.1016/j.neuroimage.2010.06.043
  12. De Bellis, Michael D, and Abigail Zisk: The biological effects of childhood trauma; Child and adolescent psychiatric clinics of North America vol. 23,2 (2014): 185-222, vii. doi:10.1016/j.chc.2014.01.002
  13. Dahoun, T., Nour, M.M., McCutcheon, R.A. et al.: The relationship between childhood trauma, dopamine release and dexamphetamine-induced positive psychotic symptoms: a [11C]-(+)-PHNO PET study; Transl Psychiatry 9, 287 (2019). doi:10.1038/s41398-019-0627-y
  14. Lino Becerra, Hans C. Breiter, Roy Wise et al.: Reward Circuitry Activation by Noxious Thermal Stimuli. In: Neuron, 6. Dezember 2001.
  15. Frédérike Labrecque, Audrey Potz, Émilie Larouche, Christian C. Joyal: What Is So Appealing About Being Spanked, Flogged, Dominated, or Restrained? Answers from Practitioners of Sexual Masochism/Submission: The Journal of Sex Research, 2021, S. 409–423.
  16. Rolf Kickuth: Einfluss: Ja. Nachweisbar: wenig – Hinweise zu genetischen und biomolekularen Hintergründen sexueller Einstellungen und Verhaltensweisen. Chemie in Labor und Biotechnik 2021, S. 256–266.
  17. Stress-Induced Elevation of Oxytocin in Maltreated Children: Evolution, Neurodevelopment, and Social Behavior. In: Child Development, Vol. 85, Ausgabe 2, März/April 2014, S. 501-512; erstmals veröffentlicht am 19. Juli 2013
  18. Norbert Fortner: Die Bedeutung der Arteria iliaca interna für die „Dekubitusentstehung“ durch Ischämie. In: Vlastimil Kozon, Norbert Fortner (Hrsg.): Kompetenz in der Pflege. ÖGVP Verlag, Wien 2012.