Ritterschaftlicher Adel des Großherzogtums Hessen

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Der Ritterschaftliche Adel des Großherzogtums Hessen umfasste eine Reihe von Familien, die mit besonderen Privilegien ausgestattet waren, die sie zum Teil bis zum Ende der Monarchie 1918 behielten.

Grundlage[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Mediatisierung hatte der dabei zum Großherzogtum Hessen avancierten Landgrafschaft Hessen-Darmstadt die Oberhoheit über eine Reihe bisher reichsunmittelbarer Territorien eingebracht. Soweit deren Regierende einen Sitz im Reichstag gehabt hatten, wurden sie nun zu Standesherren.[1] Adelige, die zwar reichsunmittelbar gewesen waren, aber keinen solchen Sitz gehabt hatten, bildeten nun den einen Teil des ritterschaftlichen Adels des Großherzogtums Hessen. Der andere Teil war landsässiger Adel aus der ehemaligen Landgrafschaft Hessen-Darmstadt sowie weiterer mediatisierter und säkularisierter Gebiete, die in ihr aufgegangen waren. Beide Gruppen wurden im Staatsrecht des Großherzogtums nicht unterschieden.[2]

Patrimonialgerichtsbarkeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einige dieser Familien besaßen Patrimonialgerichte.

Die Stellung als Inhaber solcher Patrimonialgerichte blieb durch den Übergang der adeligen Herrschaften an die Landgrafschaft, aus der 1806 das Großherzogtum wurde, zunächst unberührt.[3] Patrimonialgerichte waren im Großherzogtum Hessem erstinstanzliche Gerichte, die den Hofgerichten nachgeordnet waren, wie alle übrigen Ämter im Großherzogtum.[4]

Da die Aufgaben der Patrimonialgerichte in Rechtsprechung und Verwaltung aber eine Konkurrenz zum staatlichen Gewaltmonopol darstellten, war das Großherzogtum bemüht, diese vertraglich von den Adeligen zu übernehmen. Dies gelang auch in allen Fällen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt, weil das Wahrnehmen dieser Aufgaben für die Familien zunehmend zu einer wirtschaftlichen Belastung wurde.[5]

Familien, die Patrimonialgerichtsbarkeit besaßen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Privilegien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Diejenigen Adeligen, die ein Patrimonialgericht besaßen, erhielten mit der „Deklaration über die Verhältnisse der ehemaligen unmittelbaren Reichsritterschaft“ von 1807[6] eine Reihe von Privilegien, die aber überwiegend im Laufe des 19. Jahrhunderts abgebaut wurden. Dazu zählte ein Gerichtsstandsprivileg, das besagte, dass Klagen gegen Mitglieder dieses Personenkreises ausschließlich am Hofgericht erhoben werden durften.[7] Das entfiel 1848.[8] Der Versuch seitens der Regierung von Reinhard Carl Friedrich von Dalwigk in der Phase des „Roll-Back“ nach der Revolution, diese Privilegien zu restituieren, scheiterte am Widerstand der zweiten Kammer der Landstände.[9]

Nach Art. 53 der Verfassung des Großherzogtums Hessen vom Dezember 1820 wählte der ritterschaftliche Adel sechs Abgeordnete aus seinen Reihen in die Zweite Kammer der Landstände.[10] 1862 gab es dafür 24 aktiv Wahlberechtigte.[11] Nach einer Wahlrechtsreform 1872[12] wandelte sich das in die Wahl zweier Abgeordneter in die erste Kammer.[13] Voraussetzung dafür war immer ausreichender Grundbesitz in Hessen. 1856 war das Grundbesitz im zu versteuernden Wert von 1770 Gulden[14], 1872 im Wert von 1.200 fl[15], am Ende des 19. Jahrhunderts von mindestens 2.100 Mark.[16]

Alle anderen „Sonderrechte“, sei es eine Mitgliedschaft im Ritterschaftlichen Stift Kaufungen oder die Ausübung von Patronatsrechten, wurden am Ende des 19. Jahrhunderts nicht als staatsrechtlich begründete Privilegien, sondern als privatrechtliche Verpflichtungen und Ansprüche eingestuft.[17]

Sonderfall Riedesel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bei den Freiherren von Riedesel war zweifelhaft, ob sie als ritterschaftlicher Adel oder als Standesherren zu behandeln waren. In der Praxis wurden sie aber als Standesherren behandelt und diesen gleichgestellt. Einige Rechtsakten nennen sie aufgrund dieser Zweifel neben den Standesherren ausdrücklich.[18] 1827 wurden sie dann offiziell den Standesherren gleichgestellt.[19]

Nobilitierungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Adelserhebungen oder Standeserhöhungen wurden im Großherzogtum Hessen in ähnlich geringem Umfang vorgenommen wie den anderen deutschen Kleinstaaten. Zwischen 1806 und 1918 erfolgten 172 derartige Vorgänge also im Schnitt 1,5 je Jahr.

Landgraf "von" Adelsanerkennung Freiherr Graf/Fürst Summe
Ludwig I. (1806–1830) 21 12 14 1/1 49
Ludwig II. (1830–1848) 14 5 4 0/1 24
Ludwig III. (1848–1877) 19 11 11 ./. 41
Ludwig VI. (1877–1892) 7 3 3 1/0 14
Ernst-Ludwig (1892–1918) 19 1 5 ./. 25

Die Erhebungen in den Fürstenstand betrafen Adolph Ernst zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (1813) und Ernst Casimir von Ysenburg und Büdingen (1840), die Erhebungen in den Grafenstand Wolf von Uetterodt (1829)[20] und Karl zu Nidda (1883).

Der größte Teil der Nobilitierten waren hohe Beamte. Etwa ein Viertel der Nobilitierungen betrafen Offiziere. Insbesondere unter Ludwig III. war auch ein wichtiger Anteil als Gutsbesitzer oder Unternehmer tätig.

Landgraf Beamte Offiziere Gutsbesitzer Unternehmer Summe
Ludwig I. (1806–1830) 27 9 1 0 37
Ludwig II. (1830–1848) 9 7 1 2 19
Ludwig III. (1848–1877) 20 14 10 6 50
Ludwig VI. (1877–1892) 5 4 2 2 13
Ernst-Ludwig (1892–1918) 17 6 2 4 29

Hinweis: Doppelnennungen sind möglich/Nur Neunobilitierungen, keine Adelsanerkennungen und Standeserhöhungen.

Auch wenn der neue und der alte Adel formal gleichgestellt war, konnte von einer Vermischung der beiden Gruppen keine Rede sein. Dies zeigt die Untersuchung des Konnubiums. Selbst in der zweiten Generation nach der Nobilitierung heirateten neuadlige Töchter lediglich zu 14,5 % in altadlige Familien ein, neuadligen Söhnen gelang dies nur zu 3,5 %.[21]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Quellen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Cosack, S. 15.
  2. Cosack, S. 17.
  3. So auch: § 14 Deklaration vom 1. Dezember 1807.
  4. § 23 Deklaration vom 1. Dezember 1807.
  5. Vgl.: § 17 Deklaration vom 1. Dezember 1807.
  6. Siehe: Quellen.
  7. §§ 9, 21 Deklaration vom 1. Dezember 1807.
  8. Gesetz, die Verhältnisse der Standesherren und adeligen Gerichtsherrn betreffend vom 3. August 1848. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 40 vom 9. August 1848, S. 237–241.
  9. Cosack, S. 17.
  10. Verfassungs-Urkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17. Dezember 1820. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 60 vom 22. Dezember 1820, S. 535–554.
  11. Bekanntmachung, die von den stimmberechtigten adeligen Grundbesitzern vorzunehmende Wahl von sechs Abgeordneten zur zweiten Kammer der Stände betreffend vom 12. August 1862. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 28 vom 18. August 1862, S. 380–382.
  12. Art. 2 Nr. 7 Gesetz, die Zusammensetzung der beiden Kammern der Stände und die Wahl der Abgeordneten betreffend vom 8. November 1872. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 49 vom 12. November 1871, S. 385–398.
  13. Cosack, S. 17.
  14. Art. 12 Abs. 1 Gesetz, die Zusammensetzung der Kammern und die Wahl der Abgeordneten der Stände betreffend vom 6. September 1856. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 27, vom 26. September 1856, S. 261–274 (264).
  15. Art. 5 Abs. 1 Gesetz, die Zusammensetzung der beiden Kammern der Stände und die Wahl der Abgeordneten betreffend vom 8. November 1872. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 49 vom 12. November 1871, S. 385–398.
  16. Art. 1 Gesetz, die Aenderung einzelner Bestimmungen des Gesetzes vom 8. November 1872 über die Zusammensetzung der beiden Kammern der Stände und die Wahl der Abgeordneten betreffend vom 6. Juni 1885. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 18 vom 12. Juni 1885, S. 117f.
  17. Cosack, S. 17.
  18. Art. 52, Ziff. 2, 3 Verfassungs-Urkunde des Großherzogtums Hessen vom 17. Dezember 1820. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 60 vom 22. Dezember 1820, S. 535 ff (542).
  19. Declaration, die staatsrechtlichen Verhältnisse der Freiherrn Riedesel zu Eisenbach betreffend vom 13. Juli 1827. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 38 vom 21. August 1827, S. 371–373.
  20. Siehe Standeserhebungen im Artikel Uetterodt
  21. Christoph Franke: Alter Adel-Neuer Adel. In: Eckard Conze et al.: Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert. Historische Kommission für Hessen, Marburg 2010. ISBN 978-3-942225-00-7, S. 359–378.