Synkopendissonanz

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Synkopendissonanz bezeichnet eine Art der Dissonanzbehandlung. Eine Synkopendissonanz ist


  \new Staff
<<
\override Staff.TimeSignature.transparent = ##t
\set Score.tempoHideNote = ##t
  \time 3/2
    \tempo 4 = 160
 <<
 \new Voice = "first"
    \relative c''
      { \voiceOne s1 d2 ~ \tweak NoteHead.color #red \tweak Stem.color #red d c s2 \bar "||" s1. a2 s1 \bar "||"
      }
 \new Voice = "second"
    \relative c'
      { \voiceTwo s1. e2 s1 \bar "||" s2 g1 ~ \tweak NoteHead.color #red \tweak Stem.color #red g2 f
      }
 >>
  \new FiguredBass {
    \figuremode { <_>1. <7> <_> <2>
    }
  }
>>

Dieses Verfahren entstand im 14. Jahrhundert und wurde in Kompositionslehren der Renaissance beschrieben und in Regeln gefasst.[1] Seitdem ist es ein grundlegendes Element der Satztechnik, auch in tonaler Musik.

Im Hinblick auf ihre Taktposition unterscheidet sich die Synkopendissonanz von allen anderen Dissonanztypen der Renaissancemusik (Durchgangs-, Wechsel-, Nebennoten und Antizipationen), da diese grundsätzlich auf unbetonte Taktteile gesetzt wurden. Die synkopierte Note war in der Renaissance in der Regel eine (punktierte) Semibrevis.

Zweistimmigkeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Lehre des Kontrapunkts bezog sich ursprünglich auf die Zweistimmigkeit und geht auch später methodisch von der Zweistimmigkeit aus. In diesem Rahmen kennt sie als Dissonanzen:

Vor und nach einer Synkopendissonanz befinden sich in der Regel konsonante Intervalle (Prime, Oktave, Quinte, Terz, Sexte). Diese werden als Vorbereitung und Auflösung der Synkopendissonanz bezeichnet.

Gioseffo Zarlino und andere Theoretiker empfehlen, dass nach einer Synkopendissonanz die nächstgelegene Konsonanz folgen sollte.[3] Dennoch können auch andere Intervalle folgen, indem die Gegenstimme bei der Auflösung der Synkopendissonanz nicht liegenbleibt, sondern sich bewegt:[4]


  \new Staff
<<
\override Staff.TimeSignature.transparent = ##t
\set Score.tempoHideNote = ##t
  \time 2/2
    \tempo 4 = 160
 <<
 \new Voice = "first"
    \relative c''
      { \voiceOne s2 d ~ d c \bar "||" s d ~ d c \bar "||" s d ~ d c \bar "||" 
      }
 \new Voice = "second"
    \relative c'
      { \voiceTwo s2 f e1 \bar "||" s2 d e f \bar "||" s2 g e a \bar "||"
      }
 >>
  \new FiguredBass {
    \figuremode { <_> <6> <7> <6> <_> <8> <7> <5> <_> <5> <7> <3>
    }
  }
>>

Synkope oben / Synkope unten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bei der Septime liegt die Synkopendissonanz in der höheren Stimme. Bei Sekunden und Quarten kann sie in der höheren oder in der tieferen Stimme liegen. Zarlino demonstriert diese verschiedenen Möglichkeiten und zeigt außerdem, dass nach einer Synkopendissonanz u. U. ebenfalls eine verminderte Quinte folgen kann.[5]


\new PianoStaff <<
<< % wegen Generalbass
   \new Staff <<
    \set Score.tempoHideNote = ##t
    \time 3/2
    \tempo 4 = 160
    \override Staff.TimeSignature.transparent = ##t
            \relative c' { s2 r d ~ d c s \bar "||" s2 d1 e s2 \bar "||" s2 r e ~ e d s \bar "||" s2 e1 f s2 \bar "||" }
          >>

    \new Staff <<
           \override Staff.TimeSignature.transparent = ##t
              \clef "bass"
              \relative c' { s2 b1 c s2 \bar "||" s2 r2 d ~ d c s \bar "||" s2 a1 b s2 \bar "||" s2 r c ~ c b s \bar "||" }
     >>
 >>
  \new FiguredBass {
    \figuremode { <_>1 <3>2 <2> <1> <_>1. <1>2 <2> <3> <_>1. <5>2 <4> <3> <_>1. <3>2 <4> <5/> }
   }
>> % wegen Generalbass

Agente / Patiente[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Giovanni Maria Artusi hat die Vorgänge im Umfeld einer Synkopendissonanz mit einem Zweikampf verglichen: Die Dissonanz entstehe, indem eine Stimme, die sich nicht bewegt und sich somit ‚passiv‘ verhält, durch die Bewegung einer anderen Stimme einen Hieb („percossa“) abbekommt. Die ‚passive‘ (also die synkopierte) Stimme nennt Artusi „parte Patiente“, die ‚aktive‘ Gegenstimme „parte Agente“.[6]

Sekunde / None[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Seit dem 18. Jahrhundert wird zwischen der Synkopendissonanz der ‚Sekunde‘ und der ‚None‘ unterschieden, je nachdem, ob die Synkope in der tieferen oder in der höheren Stimme liegt (also unabhängig vom tatsächlichen Abstand zwischen den Stimmen):[7]


  \new Staff
<<
\override Staff.TimeSignature.transparent = ##t
\set Score.tempoHideNote = ##t
  \time 2/2
    \tempo 4 = 160
 <<
 \new Voice = "first"
    \relative c''
      { \voiceOne s2 d ~ d c \bar "||" s d ~ d c \bar "||" s1 d \bar "||" s1 d \bar "||" 
      }
 \new Voice = "second"
    \relative c'
      { \voiceTwo s1 c \bar "||" s1 c' \bar "||" s2 c ~ c b \bar "||" s c, ~ c b \bar "||"
      }
 >>
  \new FiguredBass {
    \figuremode { <_>1 <9> <_> <9> <_> <2> <_> <2>
    }
  }
>>

Zusatzstimmen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zu einer zweistimmigen Fortschreitung mit einer Synkopendissonanz können in weiteren Stimmen Töne gesetzt werden, die mit dem Agente oder (als weitere Synkopendissonanz) mit dem Patiente konsonieren.[8] Viele dissonante Klänge, die auch nach dem 16. Jahrhundert üblich geblieben sind, können auf diese Weise hergeleitet werden, z. B.:



\new PianoStaff <<
<< % wegen Generalbass
   \new Staff <<
    \set Score.tempoHideNote = ##t
    \tempo 4 = 160
    \override Staff.TimeSignature.transparent = ##t
     <<
     \new Voice = "first"
       \relative c''
         { \voiceOne s2 d ~ d c \bar "||" s2 d ~ d c \bar "||" s2 d ~ d c \bar "||" s2 <f d> ~ <f d> <e c> \bar "||" s1 f,2 s2 \bar "||" s2 b ~ b a \bar "||" s1 g2 s2 \bar "||" s1 a2 s2 \bar "||" }
     \new Voice = "second"
       \relative c'
         { \voiceTwo s1 e2 s2 s1 e2 s2 s1 e2 s2 s1 g2 s2 s2 d ~ d c s2 d ~ d c s1 e2 s2 s1 e2 s2 }
     >>

     >>

    \new Staff <<
           \override Staff.TimeSignature.transparent = ##t
              \clef "bass"
              \relative c' { s1 a2 s2 s1 g2 s2 s1 c2 s2 s1 e,2 s2 s1 a2 s2 s1 a2 s2 s2 d ~ d c s2 d ~ d c }
     >>
 >>
  \new FiguredBass {
    \figuremode { <_>1 <5 4> <_>1 <6 5> <_>1 <9> <_>1 <9 7> <_>1 <6 4> <_>1 <9 4> <_>1 <4 2> <_>1 <5 2> }
   }

>> % wegen Generalbass

Loslösung von der Kadenz, Synkopenketten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Synkopendissonanzen wurden zunächst vor allem im Rahmen von Kadenzen (in der Diskantklausel) verwendet. Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden sie aber mit zunehmender Selbstverständlichkeit auch innerhalb von Abschnitten eingesetzt.

Synkopenketten werden im 17. Jahrhundert ein beliebtes kompositorisches Mittel. Sie liegen einer Vielzahl von Sequenzmustern zugrunde, z. B.:[9]



\new PianoStaff <<
<< % wegen Generalbass
   \new Staff <<
    \set Score.tempoHideNote = ##t
    \tempo 4 = 160
    \override Staff.TimeSignature.transparent = ##t
     <<
     \new Voice = "first"
       \relative c''
         { \voiceOne s2 e ~ e d ~ d c ~ c b \bar "||" s2 e d1 c bes a \bar "||" }
     \new Voice = "second"
       \relative c'
         { \voiceTwo s1 f e d s2 c' ~ c b ~ b a ~ a g ~ g f }
     >>

     >>

    \new Staff <<
           \override Staff.TimeSignature.transparent = ##t
              \clef "bass"
              \relative c' { s1 a2 b g a f g s e fis gis a c, d e f a, }
     >>
 >>
  \new FiguredBass {
    \figuremode { <_>1 <6 5> <6 5> <6 5> <_>2 <6> <6 5> <6 5> <9> <6> <6 5> <6 5> <9> <6> }
   }

>> % wegen Generalbass

Synkopendissonanz versus Vorhalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach den hier skizzierten kontrapunktischen Betrachtungsweisen enthält eine Klangfortschreitung häufig eine strukturell grundlegende Intervallfortschreitung, der weitere Intervalle hinzugesetzt sind. In Harmonielehren des 18. Jahrhunderts hat sich hingegen ein neues Verständnis etabliert, das diese Betrachtungsweisen allmählich zurückgedrängt und auch zu einer veränderten Auffassung der Synkopendissonanz geführt hat.

So lassen sich nach Johann Philipp Kirnberger sämtliche Klänge aus Umkehrungen des Dreiklangs und des Septakkordes ableiten. Dabei gelten die Septimen in Septakkorden als „wesentliche Dissonanzen“, „weil sie nicht an der Stelle einer Consonanz gesetzt werden, der sie gleich wieder weichen, sondern eine Stelle für sich behaupten“.[10] Eine Septime in einem Septakkord vertrete also keinen Akkordton, sondern sei selbst einer. Demgegenüber enthielten alle anderen dissonanten Akkorde „zufällige Dissonanzen“, „die man als Vorhalte ansehen kann […], die eine kurze Zeit die Stelle der consonirenden einnehmen, und währender [!] Dauer des Grundtones, mit dem sie dißoniren, in ihre nächsten Consonanzen übergehen“.[11]

  • Die Septimen unter a) sind demnach Vorhalte, die einen Ton einer Dreiklangsumkehrung (die Sexte eines Sextakkordes) vertreten.
  • Die Septimen unter b) sind keine Vorhalte, sondern Bestandteile von Septakkorden.
  • Bei c) gibt es im Bass einen Vorhalt zum Basston einer Septakkordumkehrung (Terzquartakkord); das f in der Oberstimme ist als Akkordseptime hingegen „wesentliche Dissonanz“.
  • Bei d) sind h und f Vorhalte innerhalb eines Sextakkords:[12]

\new PianoStaff <<
<< % wegen Generalbass
   \new Staff <<
    \set Score.tempoHideNote = ##t
    \tempo 4 = 160
    \override Staff.TimeSignature.transparent = ##t
     <<
     \new Voice = "first"
       \relative c''
         { \voiceOne s2 e^"a)" ~ e d ~ d c \bar "||" s e^"b)" ~ e d ~ d c \bar "||" s2 <c e> <b f'>1^"c)" ~ <b f'>2^"d)" <c e> \bar "||"}
     \new Voice = "second"
       \relative c''
         { \voiceTwo s2 g a1 g s2 g a b g a s2 g g1 g }
     >>

     >>

    \new Staff <<
           \override Staff.TimeSignature.transparent = ##t
              \clef "bass"
              \relative c { s2 c f1 e s2 c f b, e a, s2 e' ~ e2 d e1}
     >>
 >>
  \new FiguredBass {
    \figuremode { <_>1 <7>2 <6> <7> <6> <_>1 <7>2 <_> <7> <_> <_> <6> <5 3 2> <6 4 3> <9 5> <8 6>}
   }

>> % wegen Generalbass

Quellen und Literatur (chronologisch)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Zuerst Tinctoris 1477, 2. Buch, Kap. 23 und Gaffurius 1496, Buch 3, Kap. 4.
  2. Tinctoris 1477, 2. Buch, Kap. 1–17.
  3. Zarlino 1558, 3. Buch, Kap. 42.
  4. Ausdrücklich thematisiert dies u. a. Artusi 1598, S. 41ff.
  5. Zarlino 1558, 3. Buch, Kap. 42.
  6. Artusi 1598, S. 40. Siehe auch Daniel 1997, S. 204 und (ausführlich) Menke 2015, S. 230–233.
  7. Heinichen 1728, S. 160, 194.
  8. Menke 2015, S. 243ff.
  9. Siehe Kaiser 1998, Menke 2009.
  10. Kirnberger 1774, S. 30
  11. Kirnberger 1774, S. 28
  12. Kirnberger 1774, S. 49, 74.