Textualismus

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Unter dem Begriff Textualismus, im Englischen auch als Literalism bezeichnet, firmiert im US-amerikanischen Verfassungsrecht die Denkschule, die eine wortgetreue Auslegung von Verfassung und Gesetzen befürwortet. Sie lehnt die Einbeziehung eines dokumentierten Entstehungsprozesses und zeitgleicher Kommentare wie z. B. die Federalist Papers (Föderalistenartikel), die bis heute als authentische Verfassungskommentare der Generation der Gründerväter gelten, ab. Strikter Textualismus kann weder dem Konservatismus noch dem Liberalismus zugerechnet werden, da er unabhängig von Ideologien nur der präzisen Textauslage treu sein soll.

Bei der Handhabung des Wortlauts sind die Anhänger des Textualismus gespalten. Während die einen die Bedeutung des Wortlauts auf die Verwendung der englischen Sprache zur Zeit der Ausarbeitung beziehen, sprechen sich die anderen für eine Auslegung nach Maßgabe des Englischen aus, wie es heute verwendet wird. Textualismus wird oft fälschlicherweise mit Originalismus in Verbindung gebracht.

Deutung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Textualismus ist eine formalistische Theorie, in der die Auslegung von Verfassung und Gesetzen in erster Linie auf der gewöhnlichen Bedeutung des Rechtstextes basiert, wobei nicht-textuelle Quellen, wie die Absicht des Gesetzgebers bei der Verabschiedung, das zu behebende Problem, oder Fragen zur Gerechtigkeit oder Richtigkeit eines Gesetzes nicht berücksichtigt werden.[1]

Textualismus wurde von Richtern des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten wie Hugo Black und Antonin Scalia befürwortet. Letzterer erklärte in seiner Tanner Lecture von 1997 „[es] ist das Gesetz, das regiert, nicht die Absicht des Gesetzgebers.“[2] Oliver Wendell Holmes, Jr., obwohl er selbst kein Textualist war, hat diese Philosophie und ihre Ablehnung des Intentionalismus gut erfasst: „Wir fragen nicht, was dieser Mann meinte (als er dies Gesetz verabschiedete), sondern was diese Worte im Mund eines gewöhnlichen Englisch-Sprechers bedeuten würden, wenn er sie unter den Umständen verwendet, unter denen sie (damals) verwendet wurden … Wir fragen nicht, was der Gesetzgeber gemeint hat, wir fragen nur, was die Gesetze bedeuten.“[3]

Laut Oxford English Dictionary wurde das Wort „Textualismus“ erstmals 1863 von Mark Pattison (1813–1884) in einer Kritik der puritanischen Theologie verwendet.[4] Der Richter Robert H. Jackson verwendete das Wort „Textualismus“ erstmals fast ein Jahrhundert später in der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in Youngstown Sheet & Tube Co. v. Sawyer (1952), obwohl er es aber nicht in der strikten heutigen Interpretation benutzte.

Kritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Textualismus wird als „biegsam und manipulierbar“ kritisiert, da er keine wirkliche Methode, sondern nur eine generische Bezeichnung für ungenaue und umstrittene Ansätze sei, die in zahlreichen Varianten existierten, keine strengen und standardmäßigen Interpretationsregeln hätten, und selbst unter ihren stärksten Befürwortern grundlegende Meinungsverschiedenheiten hervorriefen.[5]

Die konservativen Richter demonstrierten dies eindrucksvoll in ihrer Entscheidung in Bostock v. Clayton County (2020), wo sie sich scharf stritten. Richter Neil Gorsuch schrieb in der Mehrheitsentscheidung, dass er sich auf Textualismus verlasse, während die Richter Samuel Alito und Brett Kavanaugh seine Argumentation als widersprüchlich zu ihren eigenen Versionen des Textualismus zurückwiesen. Der von Alito beklagte Textualismus von Gorsuch sei wie ein „Piratenschiff, das unter einer falschen Flagge segele“. Gorsuch schrieb, dass Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität eine Diskriminierung „aufgrund des Geschlechts“ (but for sex) ist,[6] wie sie durch Artikel VII des Civil Rights Act von 1964 verboten ist. In seiner streng textualistischen Analyse ist dies der Fall, weil Arbeitgeber, die schwule oder transsexuelle Arbeitnehmer diskriminieren, ein bestimmtes Verhalten (z. B. Anziehung zu Frauen) bei Arbeitnehmern des einen Geschlechts akzeptieren, nicht aber bei Arbeitnehmern des anderen Geschlechts. Die nicht zustimmenden Richter beschuldigten nun die Richter der Mehrheitsmeinung, vom Richterstuhl aus ein Ergebnis zu verfassen, das die Gesetzgeber von 1964 weder gewollt hätten, noch vorhersehen konnten.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Keith E. Whittington: Constitutional Interpretation: Textual Meaning, Original Intent, and Judicial Review. University Press of Kansas, Lawrence, KS 1999, ISBN 978-0-7006-1141-6 (englisch).
  2. Antonin Scalia: Common-Law Courts in a Civil-Law System: The Role of United States Federal Courts in Interpreting the Constitution and Laws. In: The Tanner Lectures on Human Values Delivered at Princeton University. University of Utah, Salt Lake City, UT 9. März 1995, S. 92 (englisch). Common-Law Courts in a Civil-Law System: The Role of United States Federal Courts in Interpreting the Constitution and Laws (Memento vom 25. November 2020 im Internet Archive)
  3. Oliver Wendell Holmes: The Theory of Legal Interpretation. In: Harvard Law Review. Band 12, Nr. 6. The Harvard Law Review Association, 25. Januar 1899, S. 417, JSTOR:1321531 (englisch).
  4. 17 Oxford English Dictionary 854 (2d ed. 1989)
  5. Edward Purcell: Amy Coney Barrett will cement the legacy of Republicans if confirmed. In: The Hill. 6. Oktober 2020, abgerufen am 13. Oktober 2020 (englisch).
  6. Leigh Thomas, Jared Odessky: Opinion Summary: Bostock v. Clayton County. In: OnLabor.org. 15. Juni 2020, abgerufen am 13. Oktober 2020 (englisch).