Unabhängige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung vor 1981

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Die Unabhängige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung vor 1981 ist eine schweizerische Expertenkommission, deren Tätigkeit einen Teil des gesetzlichen Auftrags zur Rehabilitation der Opfer administrativer Versorgungen ausmacht. Sie wurde am 14. November 2014 vom Schweizer Bundesrat eingesetzt, auf Verlangen ehemaliger Opfer und gemäss dem Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen vom 21. März 2014[1]; es verlangt die wissenschaftliche Aufarbeitung der administrativen Versorgung in der Schweiz und anerkennt diese damaligen staatlichen Massnahmen als Unrecht.[2] Für ihre Tätigkeit, die 2019 abgeschlossen wurde, verfügte sie über ein Budget von 9,9 Millionen Franken. Sie beschäftigte 26 Mitarbeitende. Ihre Einsetzung steht im Zusammenhang mit ähnlichen Aufarbeitungsprozessen, wie sie bereits vorher in Irland, Australien, Kanada, Norwegen, Deutschland und anderen Ländern durchgeführt wurden.[3]

Der Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung gehören folgende Personen an:

Sie hat ihre Arbeit im Januar 2015 aufgenommen. Anfangs September 2019 hat die unabhängige Expertenkommission ihren Veröffentlichungen, insgesamt 10 Bände, abgeschlossen und in Bern ihren Schlussbericht der Öffentlichkeit vorgestellt. Gemäss dem Bericht wurden mindestens 60 000 Frauen und Männer von Kantonen und Gemeinden eingesperrt, ohne dass diese ein Delikt begangen hätten und ohne dass zuvor ein ordentliches Verfahren stattgefunden hätte. Die Betroffenen wurden interniert, da sie den Moralvorstellungen der damaligen Zeit nicht entsprachen. Sie galten als «arbeitsscheu», «liederlich» oder «trunksüchtig». Auch uneheliche Schwangerschaften genügten für eine administrative Versorgung. In rund 650 Gefängnissen und anderen Anstalten im ganzen Land wurden die Opfer eingesperrt, ausgebeutet und vielfach schwer misshandelt.[4][5]

Die 2014 auf Bundesebene beschlossenen Wiedergutmachungen genügen aus Sicht der Kommission nicht. Diese bestehen insbesondere aus einem «Solidaritätsbeitrag» von 25 000 Franken pro Person, den Betroffene beim Bund bis März 2018 beantragen konnten. Rund 9000 Personen haben sich gemeldet, bis Ende Jahr sollen alle Gesuche bearbeitet sein. Die Expertenkommission machte Vorschläge, wie die Opfer durch weitere finanzielle Leistungen besser entschädigt werden könnten. Die Palette reicht von einem kostenlosen Generalabonnement, einem zu gründenden „Haus der anderen Schweiz“ in Bern als Ort für die Selbstorganisation der Betroffenen sowie als Stätte der Erinnerung und des Kampfes gegen ähnliche Formen von Ausgrenzung und Diskriminierung über einen Steuererlass bis zu einem Hilfsfonds für Betroffene, die ihre Gesundheitskosten nicht selber tragen können. Aus der Sicht der Kommission könnte auch eine spezielle, lebenslange Rente notwendig sein. Hinter diesen Forderungen steht die Erkenntnis, dass das damalige Unrecht vielfach lebenslange Folgen nach sich gezogen hat und zum Teil sogar auf die nachfolgenden Generationen übergegangen ist.[6]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. admin.ch: Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen
  2. Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen. 21. März 2014, abgerufen am 7. Januar 2016.
  3. Neue Zürcher Zeitung: Bund setzt Expertenkommission ein. 5. November 2015, abgerufen am 8. Januar 2016.
  4. Fabian Schäfer: Gratis-GA und Sonderrente für Verdingkinder und andere Opfer von Zwangsmassnahmen In: Neue Zürcher Zeitung vom 2. September 2019
  5. Grusliger Fund: Skelette mit zahlreichen Rippenbrüchen zeigen, wie schlecht die Schweiz soziale Aussenseiter behandelte Auf Neue Zürcher Zeitung vom 13. Mai 2019
  6. Zwangsversorgte sollen besser entschädigt werden In: SRF vom 2. September 2019

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Ruth Ammann, Thomas Huonker, Jos Schmid: Gesichter der administrativen Versorgung / Visages de l'internement administratif, Porträts von Betroffenen / Portraits de personnes concernées. Veröffentlichungen Unabhängige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung vor 1981, Band 1, Chronos, Zürich 2019, ISBN 978-3-0340-1511-0
  • Joséphine Métraux, Sofia Bischofberger, Luzian Meier: Fragen zu gestern sind Fragen von heute, Einblicke in die administrative Versorgung, Veröffentlichungen Unabhängige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung vor 1981, Band 2, Chronos, Zürich 2019, ISBN 978-3-0340-1512-7(auch auf französisch publiziert)
  • Christel Gumy, Sybille Knecht, Ludovic Maugué, Noemi Dissler, Nicole Gönitzer: Des lois d'exception? / Sondergesetze? Légitimation et délégitimation de l'internement administrativ / Legitimierung und Delegitimierung der administrativen Versorgung, Veröffentlichungen Unabhängige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung vor 1981, Band 3, Chronos, Zürich 2019, ISBN 978-3-0340-1513-4
  • Anne-Françoise Praz, Lorraine Odier, Thomas Huonker, Laura Schneider, Marco Nardone: «... je vous fais une lettre», Retrouver dans les archives la parole et le vécu des personnes internées / Die Stimme der internierten Personen in den Archiven, Veröffentlichungen Unabhängige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung vor 1981, Band 4, Chronos, Zürich 2019, ISBN 978-3-0340-1514-1
  • Ruth Ammann, Alfred Schwendener: "Zwangslagenleben", Biografien von ehemals administrativ versorgten Menschen, Veröffentlichungen Unabhängige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung vor 1981, Band 5, Chronos, Zürich 2019, ISBN 978-3-0340-1515-8
  • Ernst Guggisberg, Marco Dal Molin: "Zehntausende", Zahlen zur administrativen Versorgung und zur Anstaltslandschaft, Veröffentlichungen Unabhängige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung vor 1981, Band 6, Chronos, Zürich 2019, ISBN 978-3-0340-1516-5
  • Rahel Bühler, Sara Galle, Flavia Grossmann, Matthieu Lavoyer, Michael Mülli, Emmanuel Neuhaus, Nadja Ramsauer: Ordnung, Moral und Zwang / Ordre, morale et contrainte, Administrative Versorgungen und Behördenpraxis / Internements administratifs et pratique des autorités, Veröffentlichungen Unabhängige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung vor 1981, Band 7, Chronos, Zürich 2019, ISBN 978-3-0340-1517-2
  • Loretta Seglias, Kevin Heiniger, Vanessa Bignasca, Mirjam Häsler Kristmann, Alix Heiniger, Deborah Morat, Noemi Dissler: Alltag unter Zwang / Un quotidien sous contrainte / Vivere sotto costrizione, Zwischen Anstaltsinternierung und Entlassung / De l'internement à la libération / Dall'internamento in istituto alla liberazione, Veröffentlichungen Unabhängige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung vor 1981, Band 8, Chronos, Zürich 2019, ISBN 978-3-0340-1518-9
  • Thomas Huonker, Lorraine Odier, Anne-Françoise Praz, Laura Schneider, Marco Nardone: «... so wird man ins Loch geworfen», Quellen zur Geschichte der administrativen Versorgung – Histoire de l’internement administratif: sources – Storia dell’internamento amministrativo: fonti, Veröffentlichungen Unabhängige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung vor 1981, Band 9, Chronos, Zürich 2019, ISBN 978-3-0340-1519-6
  • Unabhängige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung vor 1981 (Hg.): Organisierte Willkür. Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930–1981. Schlussbericht. Veröffentlichungen Unabhängige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgung vor 1981, Band 10, Chronos, Zürich 2019, ISBN 978-3-0340-1520-2 (auch auf französisch, italienisch und englisch publiziert)