Wikipedia:Zedler-Preis/Zedler-Medaille 2008/Technischer Fortschritt

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Der Ausdruck technischer Fortschritt ist für zwei verschiedenartige Sachverhalte im Sprachgebrauch; er ist zweideutig und daher irreführend:

  • Zum einen wird mit ihm der eigentliche, originäre Fort-Schritt eines technischen Faches benannt. Dieser Fortschritt gründet sich auf den menschlichen Erfindergeist und hat somit einen technologisch-inventiven Begriffsinhalt. (inventum: Erfindung, Erfindungsgabe)
  • Mit dem gleichen Schlagwort wird aber auch der Einsatz einer technischen Neuerung auf dem wirtschaftlichen Markt bezeichnet. Dieser Einsatz beruht auf dem Produktionsfaktor (Geld-)Kapital und hat einen ökonomisch-innovativen Begriffsinhalt. (innovatio: Neuerung)

Das technische und das ökonomische Problem[Quelltext bearbeiten]

Diese beiden wesentlich verschiedenen Fortschritte müssen somit begrifflich abgegrenzt werden, obgleich auf einen technischen Fortschritt irgendwann ein ökonomisch-innovativer Fortschritt folgt. Doch was ist überhaupt „technisch“?

Technisch ist jedes Gestalten von und mit natürlichen oder künstlichen Objekten (physischen Vielkörpersystemen), die notwendig sind und die energetisch bestmöglich benutzt und genutzt werden, um ein neues physisches Objekt (das ist eine Anordnung oder ein Verfahren) zu schaffen. Dies Schaffen ist inventiv und rational und geht aus von einer agrico, bio, chemo, medico, pharmako, physiko oder von einer ähnlich bestimmten Zweckvorstellung. Letztlich hat das Schaffen den sozionomen Zweck, einen allgemeinen Bedarf optimal zu decken.

Vielkörpersysteme sind zum Beispiel Rohstoffe, Substanzen, Bauelemente, damit aufgebaute Geräte, Hardware oder sonstige „physische Körper“; sie seien kurz „technische Anordnungen“ genannt. In „technischen Verfahren“ werden ausschließlich Vielkörpersysteme eingesetzt; solche Verfahren dürfen nicht mit den ausnahmslos gedanklich gestützten, nichttechnischen Methoden verwechselt werden.

Der eigentliche technische Fortschritt: technologisch-inventiver Fortschritt[Quelltext bearbeiten]

Der originäre, technologisch-inventiv geprägte technische Fortschritt - der technische Fortschritt gemeinhin – kennzeichnet den Wachstumsschub, den ein bestimmtes technisches Fachgebiet innerhalb einer bestimmten Zeitspanne als Folge eines neuen, wirkungsvolleren technischen Objektes (technisches Verfahren oder technische Anordnung) erfahren hat.

Der Begriff „technischer Fortschritt“ entstand erst im 19. Jahrhundert im Verlaufe der ersten industriellen Revolution, als nach einer jahrhunderte dauernden technischen Dürre in allen Industrieländern allerlei Erfindungen auftauchten: technische und nichttechnische, nützliche und unnütze, exzellente und triviale. In allen Ländern wurden auf sie staatliche Ausschließungsrechte beansprucht. Damit die Spreu vom Weizen getrennt werden konnte, ist in den 1880iger Jahren vom Kaiserlichen Reichspatentamt mit seinen hochkarätigen Ingenieuren als „Mitgliedern“ das Bewertungskriterium „technischer Fortschritt“ und „wesentlicher technischer Fortschritt“ empirisch erarbeitet worden. Die nord- mittel- und osteuropäischen Staaten übernahmen dieses Kriterium ebenfalls. In den 1970iger und1980iger Jahren wurde jedoch dieser technologisch-rationale Prüfstein, der das Erfundene objektiv bewertet, im Zuge der Vereinheitlichung der europäischen Patentrechte – gegen den Widerstand der Schweizer – abgeschafft. An seine Stelle trat das Kriterium „Erfinderische Tätigkeit“, das eine fiktive Gedankenfolge des Erfindens - naturgemäß irrational – bewertet.

Der „Technische Fortschritt“ ist dennoch nach wie vor ein unverzichtbares Kriterium für objektive Werturteile über die Tragweite von technologisch-inventiven Ergebnissen. Das Kriterium muss durchführbar (operabel) definiert sein und seine Merkmale müssen wiederholbar (reliabel), tauglich (valide), treffsicher (effizient), nicht zufällig (signifikant) und vom Prüfer unabhängig (objektiv) sein. Nur dann hat das Kriterium einen wissenschaftlichen Rang, denn jedes auf ihm fundierte Werturteil genügt dem Wahrheitskriterium, weil es grundsätzlich widerlegbar (falsifizierbar) ist. Der Begriff „technischer Fortschritt“ ist derart mit nur zwei physikalischen Messgrößen, der Zeit(spanne) und der energetischen Wirkung, gemessen in Joulesekunde, objektiv definierbar.

Ein technisches Fachgebiet „schreitet“ nämlich dann „fort“ – und ein neues Objekt ist fortschrittlicher (effizienter) als ein älteres -,wenn die technische Gesamtwirkung (in J s), die nach dem bestimmungsgemäßen Gebrauch der neuen technischen Anordnung bzw. die nach der Durchführung des neuen technischen Verfahrens eingetreten ist, größer ist als die technische Gesamtwirkung des wirkungsvollsten der schon bekannten technischen Objekte (Anordnungen bzw. Verfahren).

Aus den Messwerten - der Zeitspannen und der technische Wirkungen - (a) des technischen Objektes, das als vorletztes und damals als wirkungsvollstes aufgetreten war, und (b) des Objektes, das danach und damals als wirkungsvollstes erschienen war, sowie (c) des neuen, zu bewertenden Objektes ergibt sich eine Bewertungszahl (ein Tangentenverhältnis). Die Zahl ist ein Maß für die Größe des Fortschrittes, den das neue technische Objekt dem Fachgebiet gebracht hat. Dieser „Fort-Schritt“ erweist sich so als ein entwicklungsraffender, als ein nur entwicklungsfördernder oder sogar als ein bloß noch entwicklungsanregender technischer Fortschritt. Die Bewertungszahl zeigt auch an, ob das neue Objekt einen technischen Stillstand oder sogar einen Rückschritt für das Fachgebiet bedeutet.[1]

Auf diesem physikalisch exakten Wege lassen sich die Fortschritts-Tendenz eines Faches und der Fortschritt zwischen zwei Objekten quantitativ feststellen. Das Kriterium ist auch dann brauchbar, wenn es oft ausreicht, die Wirkungs-Messgrößen nur zu schätzen.

Ein naturwissenschaftlicher Fortschritt tritt immer vor einem technischen Fortschritt ein. Der ist auch, wie der technische Fortschritt, operabel strukturierbar, freilich nicht mit Messgrößen, sondern durch nominierte und normierte Prüfgrößen 2. Beide Fortschritts-Kriterien ermöglichen objektive Erfolgsnachweise (Kosten-Nutzen-Bewertungen) von grundlegenden oder angewandten Forschungen, von konzepttechnischen oder produkttechnischen Entwicklungen, von naturwissenschaftlichen Entdeckungen, von naturwissenschaftlichen Erfindungen oder von wissenschaftlichen Fehlernachweisen. Diese Bewertungen können anhand von algorithmisch strukturierten Formularen recht einfach durchgeführt werden.[2]

Der ökonomisch-innovative Fortschritt[Quelltext bearbeiten]

Ein ökonomisch-innovativer Fortschritt – irreführend als „technisch“ benannt – ist die Folge einer höheren Rate der industriellen Produktion; sie tritt ein durch das Erschließen eines Marktes für ein neues, fertiges Produkt oder durch das Erschließen neuer Produktionsfaktoren oder durch das wirkungsvollere Verwenden und Verteilen der vorhandenen Produktionsfaktoren. Eine ökonomische Innovation soll sonach zu einem wirtschaftlichen Wachstum als Folge des Kapitaleinsatzes für die Neuerung führen. Ein solches Wachstum steigt allerdings nicht kontinuierlich, sondern zyklisch („scharenweise“).

Dieses volkswirtschaftliche Konstrukt entstand im 20. Jahrhundert. Es basiert auf den Studien des Ökonomen J. A. Schumpeter (1883-1950), insbesondere auf dessen „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ (1912) und über „Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie“ (1942).

Die Ökonomie hat für ihren ökonomisch-innovativen Fortschritt noch keine Festsetzung oder gar Feststellung (Realdefinition) vorlegen können, denn alle Erklärungen variieren je nach der Sichtweise der Autoren und sind kaum operabel.[3] Hierzu drei Beispiele ( Produktivität = Verhältnis von Output/Input):

  • Die Produktivität der Arbeit wächst zeitlich, die des Kapitals bleibt konstant (Harrod).
  • Die Produktivität des Kapitals wächst zeitlich, die der Arbeit bleibt konstant (Solow).
  • Die Produktivitäten von Arbeit und Kapital wachsen in der Zeit gleichmäßig (Hicks).

Der breitgetretene technische Fortschritt[Quelltext bearbeiten]

Der Fortschritts-Begriff ist verwässert worden. Seit langem wird nicht mehr nur der technologisch-inventive oder der ökonomisch-innovative Fortschritt im strengen Sinne gemeint. Inzwischen gibt es massenhaft Abhandlungen über „Technischer Fortschritt und …“ zum Beispiel: „… heißes Eisen Gesichtsfelderkennung“, „…alte Menschen“, „… auf Kosten der Ethik“, „…Arztvergütung in der Medizin“, „…die geistige Entwicklung“, „…das Ende der Menschheit“, „…Globalisierung“, und so fort.

Belege[Quelltext bearbeiten]

  1. A. W. Kumm: Vom Spezialisten zum Generalisten der Technik – ein Wegweiser zum technologischen Denken, Analysieren und Bewerten. 2003, ISBN 3-89846-264-1.
  2. A. W. Kumm: Inventionsmanagement: Interdisziplinäre Grundlagen der Lenkung von industriellen Forschungen und Entwicklungen. 1995, ISBN 3-8248-0142-6.
  3. H. Spilker: Innovation. In: Technology Review, 10/2006, Seiten 88-89 und Anmerkung Kumm in Technology Review, 11/2006, Seite 6. (ISSN 1613-0138). Ferner M. Gardner: Konflikte mit Kurven – ein mathematischer Ausflug in den Schulenstreit der Ökonomen. In: Spektrum der Wissenschaft, Februar 1982, Seiten 12-17. (ISSN 0170–2971).