Yahya Sinwar

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Yahyā as-Sinwār)
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Jahja Sinwar (2012)

Yahya Sinwar, dt. Jahia oder Jahja Sinwar (arabisch يحيى إبراهيم حسن السنوار, DMG Yaḥyā Ibrāhīm Ḥasan as-Sinwār; * 1962 in Chan Yunis, Gazastreifen),[1] ist ein palästinensischer Politiker und seit 2017 einer der Führer der islamistischen Terrororganisation Hamas im Gazastreifen.[1][2]

Er ist der ranghöchste Hamas-Führer in Gaza und der De-facto-Herrscher des Gazastreifens sowie das zweitmächtigste Mitglied der Hamas nach Ismail Haniyya.[3] Sinwar gilt als Planer hinter dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel 2023.[4][5]

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Herkunft und Ausbildung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Yahya Sinwar wurde 1962 als Yahya Ibrahim Hassan al-Sinwar im Flüchtlingslager Chan Yunis geboren, als der Gazastreifen unter ägyptischer Herrschaft stand, wo er seine frühen Jahre verbrachte. Seine Familie wurde während des Arabisch-Israelischen Krieges 1948 aus dem palästinensischen Dorf Al-Majdal (heute Aschkelon) vertrieben und suchte Zuflucht im Gazastreifen. Nach seinem High-School-Abschluss an der Khan Yunis Secondary School for Boys studierte er an der Islamischen Universität Gaza, wo er einen Bachelor in Arabistik erwarb.[3]

Mohammed Deif, heute militärischer Befehlshaber der Kassam-Brigaden, soll ein Kindheitsfreund sein.[5] Sein jüngerer Bruder ist Mohammed Sinwar, ein Militärführer der Hamas.[6]

Frühe Aktivitäten bei der Hamas und israelische Haft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zuerst wurde er 1982 während seines Studiums verhaftet und befand sich mehrere Monate in Haft.[6] Im Gefängnis schloss er Freundschaften mit anderen palästinensischen Aktivisten und beschloss, sich ganz der „Sache Palästinas“ zu widmen.[3] Aufgrund seiner Aktivitäten bei al-Madschd wurde er 1985 erneut für acht Monate inhaftiert.[6]

Er war im Dezember 1987 bei der Gründung der Hamas dabei.[5] In den 1980er-Jahren beteiligte er sich am Aufbau der internen Sicherheitskräfte der Hamas (al-Madschd).[6] Speziell war Sinwar an der Gründung des gefürchteten internen Geheimdienstapparats für Spionage und Informanten verantwortlich und ist dadurch als Kraft gegen abweichende Meinungen und politische Opposition aufgetreten.[7][8]

Im Jahr 1988 wurde er erneut verhaftet und wurde 1988 für schuldig befunden, an der Ermordung von zwei israelischen Soldaten und vier Palästinensern beteiligt gewesen zu sein, die der Kollaboration mit Israel verdächtigt wurden. Sinwar wurde zu viermal lebenslanger Haft in einem israelischen Gefängnis verurteilt.[7]

Ahmad Yasin, Gründer der Hamas und bis zu seiner gezielten Ermordung durch das israelische Militär ihr geistiger Führer, bezeichnete Sinwar 1989 später als seinen wichtigsten Helfer.[5] Während seiner Haft wurde ein Tumor aus seinem Gehirn operativ entfernt.[3] Er blieb in Haft, bis er 2011 zusammen mit 1026 anderen palästinensischen Gefangen im Austausch gegen den israelischen Soldaten Gilad Schalit freigelassen wurde.[1][6] Sinwar meinte, er habe die Zeit im Gefängnis damit verbracht, den Feind zu studieren.[3] Im Gefängnis lernte er schnell fließend hebräisch zu sprechen und zu lesen. Er las Bücher über Ben-Gurion, Begin, Rabin und Teile der Tora. Ein Vernehmer schildert ihn als überaus charismatisch und intelligent. Er trat dreimal in einen Hungerstreik um die Haftbedingungen zu verbessern. Man wählte ihn zum Anführer aller Hamas-Gefangenen.[5] Insgesamt befand er sich 24 Jahre in israelischer Haft.

Zeit nach der Haft als Hamas-Führer[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach seiner Freilassung kehrte Sinwar als hochrangiger Hamas-Führer an seinen Platz zurück.[6] 2014 spielte er bei einem Konflikt zwischen Israel und der Hamas eine wichtige Rolle und entließ nach dem Konflikt einige wichtige Führungspersonen der Hamas.[6] Im September 2015 wurde er zusammen mit Mohammed Deif und Rūhī Muschtahā von den Vereinigten Staaten als Specially Designated Global Terrorist (deutsch „Speziell bezeichneter globaler Terrorist“) eingestuft.[1]

2017 wurde Sinwar zum Leiter der Hamas im Gazastreifen gewählt und folgte schließlich Ismail Haniya (jedoch unter der Führung von Haniya) in diesem Amt und wurde Mitglied des Politbüros, des wichtigsten politischen Gremiums der Hamas. Chalīl al-Hayya wurde zu seinem Stellvertreter gewählt.[6][9] Er hatte die Aufgabe, die Koordination zwischen der Führung der Kassam-Brigaden (IQB) und dem Politbüro der Hamas zu übernehmen.[6] Offiziell ist zwar Haniyya Leiter des Politbüros, praktisch hat jedoch Sinwar die Kontrolle des Gremiums übernommen.[10] Im März 2021 wurde Sinwar zu einer zweiten vierjährigen Amtszeit wiedergewählt.[11]

Politik als Anführer der Hamas im Gazastreifen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im November 2012, während der israelischen Militäroperation in Gaza 2012, traf Sinwar in Teheran mit dem General der Quds-Streitkräfte des Korps der iranischen Revolutionsgarden, Qassem Soleimani, zusammen.[12]

Im Jahr 2015 soll er die Folter und Tötung des Hamas-Mitglieds Mahmoud Ishtiwi beaufsichtigt haben, dem Unterschlagung und Homosexualität vorgeworfen wurden.[13]

Im März 2017 gründete er ein von der Hamas kontrolliertes Verwaltungskomitee für den Gazastreifen, was bedeutete, dass er sich gegen jede Machtteilung mit der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah aussprach. Sinwar lehnt jede Versöhnung mit Israel ab.[14]

Im September 2017 begann in Ägypten eine neue Verhandlungsrunde mit der Palästinensischen Autonomiebehörde, und Sinwar stimmte der Auflösung des Hamas-Verwaltungskomitees für Gaza zu.[15]

Am 16. Mai 2018 erklärte Sinwar in einer unerwarteten Ankündigung auf Al Jazeera, dass die Hamas „friedlichen Volkswiderstand“ verfolgen werde, was die Möglichkeit eröffnete, dass die Hamas, die von vielen Ländern als Terrororganisation angesehen wird, bei den Verhandlungen mit Israel eine Rolle spielen könnte.[14] Eine Woche zuvor hatte er die Bewohner des Gazastreifens ermutigt, die Gaza-Blockade durch Israel zu durchbrechen, indem er sagte: „Wir würden lieber als Märtyrer sterben, als aus Unterdrückung und Demütigung zu sterben“, und fügte hinzu: „Wir sind bereit zu sterben, und Zehntausende werden mit uns sterben.“[16]

Im März 2021 wurde er in einer Wahl für eine zweite vierjährige Amtszeit zum Leiter der Hamas-Abteilung in Gaza gewählt. Er ist der ranghöchste Hamas-Beamte in Gaza und der De-facto-Herrscher von Gaza sowie das zweitmächtigste Mitglied der Hamas nach Haniyeh.[11]

Am 15. Mai 2021 soll ein israelischer Luftangriff das Haus des Hamas-Führers getroffen haben. Es gab keine unmittelbaren Angaben zu Todesfällen oder Verletzten. Der Angriff fand in der Region Khan Yunis im südlichen Gazastreifen statt, inmitten ständig wachsender Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern. In der darauffolgenden Woche trat er jedoch mindestens viermal öffentlich auf.[17]

Während des Hamas-Israel-Kriegs 2023[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel 2023 wurde Sinwars Haus in Gaza von israelischen Raketen getroffen.[18] Nach dreiwöchigen Konflikten im Israel-Hamas-Krieg 2023 schlug Sinwar die Freilassung aller palästinensischen Gefangenen in israelischer Haft vor, als Gegenleistung für die Freilassung aller im Konflikt entführten Geiseln.[19] Berichten zufolge besuchte Sinwar die Geiseln in den ersten Tagen des Krieges und versprach ihnen, dass ihnen kein Schaden zugefügt würde.[20] Es ist weiterhin unklar ob Haniyya und die anderen Hamas-Führer über den Angriff am 07. Oktober informiert waren. Das Verhältnis zwischen Haniyya und Sinwar gilt als angespannt.[5]

Nachdem der israelische Militäreinsatz auch auf den südlichen Gazastreifen ausgedehnt wurde, umstellten israelische Militärs nach eigenen Angaben sein Haus in Chan Yunis, während er gleichzeitig im Untergrund im Tunnelsystem des Gazastreifens vermutet wurde.[21]

Nach Angaben von israelischen Medien, sei Sinwar mehrere Male nur knapp der israelischen Armee entkommen[22] und habe sich kurz nach Beginn des Krieges in einem Hilfskonvoi in den Süden des Gazastreifens begeben.[23]

In Flugblättern, die Israel im Dezember 2023 abwarf, wurde ein Kopfgeld von 400.000 Dollar für Informationen über den Aufenthaltsort von Sinwar ausgesetzt. Für Informationen über seinen Bruder Muhammed Sinwar, aktuell Kommandeur südlichen Brigade, setzte man 300.000 Dollar aus. Dazu setzte man 200.000 für Informationen über Rafa’a Salameh, Kommandeur des Khan Younis Battalions und 100.000 für Informationen über Muhammad Deif aus.[24]

Erst im Januar 2024 setzte die EU ihn auf ihre Terrorliste. Bereits im Dezember die EU die Kommandeure Mohammed Deif und Marwan Issa auf die Liste. Der Vorsitzende des Hamas-Politbüros Ismail Haniyyeh kam hingegen auch im Januar 2024 nicht auf die Liste.[25]

Außenpolitik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Unter seiner Führung verbesserten sich die Außenbeziehungen der Hamas insbesondere zu Ägypten.[1] Sinwar wird als Befürworter engerer Beziehungen zum Iran betrachtet. Unter seiner Führung wurden die Kontakte mit dem Iran und dessen Verbündeten intensiviert. Im November 2012 fand ein Treffen in Teheran mit dem General der iranischen Revolutionsgarden Qassem Soleimani, statt.[12] Nach seiner Wahl zum Anführer der Hamas in Gaza im Jahr 2017 hat Sinwar eine engere Zusammenarbeit zwischen Hamas, Hisbollah und dem Iran gepflegt.[26]

Sinwar befürwortete eine Versöhnungspolitik mit der konkurrierenden Fatah-Partei. Er entsandte Vertreter zu dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas von der Fatah, kündigte an, jeden zu bestrafen, der den Versöhnungsprozess mit der Fatah behindere, und schlug vor, die Qassam-Brigaden in die Palästinensische Autonomiebehörde zu integrieren.[1]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Yahya Sinwar – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e f Yahya Sinwar. In: Mapping Palestinian Politics. European Council on Foreign Relations, 29. März 2018, abgerufen am 10. Oktober 2023 (englisch).
  2. Tilman Schröter, Anja Wehler-Schöck: Die Terrororganisation Hamas: Wer sind die Köpfe hinter dem Angriff auf Israel? In: Tagesspiegel. 10. Oktober 2023, abgerufen am 10. Oktober 2023.
  3. a b c d e Yahya Sinwar. In: Jewish Virtual Library. American-Israeli Cooperative Enterprise, abgerufen am 11. Oktober 2023 (englisch).
  4. Monika Bolliger, Julia Amalia Heyer, Susanne Koelbl, Christoph Reuter, Fritz Schaap, Thore Schröder, Bernhard Zand: Das Monster von Gaza. In: Der Spiegel. 15. Dezember 2023, abgerufen am 30. Dezember 2023.
  5. a b c d e f Monika Bolliger, Julia Amalia Heyer, Susanne Koelbl, Christoph Reuter, Fritz Schaap, Thore Schröder, Bernhard Zand: The Story Behind the Rise of Hamas. In: Der Spiegel. 21. Dezember 2023, abgerufen am 30. Dezember 2023.
  6. a b c d e f g h i تعرف على يحيى السنوار قائد حماس الجديد بغزة. In: Al Jazeera. 13. Februar 2017, abgerufen am 10. Oktober 2023 (arabisch).
  7. a b Ivana Kottasová, David Shortell: Who is Yahya Sinwar, the Hamas leader Israel has called a ‘dead man walking’. 7. Dezember 2023, abgerufen am 10. Januar 2024 (englisch).
  8. Internal Security Force (ISF) – Hamas. 21. März 2018, abgerufen am 10. Januar 2024 (britisches Englisch).
  9. Ulrich Schmid: Die Hamas radikalisiert sich. In: Neue Zürcher Zeitung. 13. Februar 2017, abgerufen am 13. Oktober 2023.
  10. Politburo. In: Mapping Palestinian Politics. European Council on Foreign Relations, 21. März 2018, abgerufen am 11. Oktober 2023 (englisch).
  11. a b Yahya Sinwar re-elected as Hamas chief in Gaza. 10. März 2021, abgerufen am 10. Januar 2024 (englisch).
  12. a b Iran pledging all its might to Hamas for Jerusalem battle. In: timesofisrael. 25. Dezember 2017, abgerufen am 10. Januar 2024 (englisch).
  13. Diaa Hadid, Majd Al Waheidi: Hamas Commander, Accused of Theft and Gay Sex, Is Killed by His Own. In: The New York Times. 1. März 2016, ISSN 0362-4331 (nytimes.com [abgerufen am 16. Oktober 2023]).
  14. a b Peter Beaumont: Election of new Hamas Gaza Strip leader increases fears of confrontation. In: The Guardian. 13. Februar 2017, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 10. Januar 2024]).
  15. Hamas agrees to talks with Fatah, hold elections. Abgerufen am 10. Januar 2024 (englisch).
  16. David M. Halbfinger, Iyad Abuheweila: As Gaza Teeters on Precipice, a Hamas Leader Speaks Out. In: The New York Times. 10. Mai 2018, ISSN 0362-4331 (nytimes.com [abgerufen am 10. Januar 2024]).
  17. Home of Hamas leader in Gaza said hit by Israeli strike. In: timesofisrael. 16. Mai 2021, abgerufen am 10. Januar 2024 (englisch).
  18. Middle East Eye: Israeli rockets target house of Hamas leader Yahya Sinwar in Gaza auf YouTube, 8. Oktober 2023, abgerufen am 11. Oktober 2023.
  19. Hamas chief in Gaza says ready for ‘immediate’ prisoner swap with Israel. In: alarabiya. 28. November 2023, abgerufen am 10. Januar 2024 (englisch).
  20. Hamas-Anführer Sinwar soll israelische Geiseln getroffen haben. 27. November 2023, abgerufen am 10. Januar 2024.
  21. tagesschau.de: Liveblog: Hamas feuert laut Israel Raketen aus „humanitärer Zone“. Abgerufen am 7. Dezember 2023.
  22. Gaza: Israel meldet 7000 getötete Hamas-Terroristen, Kämpfe in Chan Junis. In: Der Spiegel. 10. Dezember 2023, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 11. Dezember 2023]).
  23. Hamas-Chef Sinwar soll Israels Armee laut Bericht nur knapp entkommen sein. In: Der Spiegel. 20. Dezember 2023, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 20. Dezember 2023]).
  24. Israel said to place $400,000 bounty on Hamas leader Sinwar. In: timesofisrael.com. 14. Dezember 2023 (timesofisrael.com [abgerufen am 30. Dezember 2023]).
  25. EU setzt Hamas-Chef Yahya Sinwar auf Terrorliste. In: Der Spiegel. 16. Januar 2024, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 17. Januar 2024]).
  26. Hamas chief boasts of Tehran’s support, close ties to Hezbollah. In: timesofisrael. 23. Mai 2018, abgerufen am 10. Januar 2024 (englisch).