Zentrum für Islamische Theologie (Universität Tübingen)

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Zentrum für Islamische Theologie in der Villa Köstlin
Villa Köstlin auf einer alten Photographie

Das Zentrum für Islamische Theologie ist eine Einrichtung der Universität Tübingen. Es begann seinen Vorlesungsbetrieb zum Wintersemester 2011/2012.

Aufgaben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Es bestehen derzeit (Wintersemester 2019/20) sieben Lehrstühle, nämlich für Koranwissenschaften, „Islamische Praktische Theologie (Seelsorge)“, Hadīth-Wissenschaften und Prophetische Tradition, Scharia, „Islamische Glaubenslehre“, „Islamische Geschichte und Gegenwartskultur“ und „Islamische Religionspädagogik“. Hier studieren etwa 220 Menschen.

Das Tübinger Zentrum bildet neben Islamwissenschaftlern auch Imame[1] und deutschsprachige Religionslehrer aus, die dann an allgemeinbildenden Schulen eingesetzt werden können, sobald die Bundesländer Lehrpläne für den islamischen Religionsunterricht geschaffen haben.

Kritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Zentrum steht wegen behaupteter Verbindungen zu Islamisten, einschließlich Muslimbrüdern, in der Kritik.[2] Ein Dozent soll vom baden-württembergischen Verfassungsschutz beobachtet werden.[3] Weiter wird über frauenfeindliche Diskriminierung, über offensive Aufforderungen, das Fasten im Ramadan einzuhalten oder zu beten, berichtet. Professor Abdelmalek Hibaoui soll sich an einer Konferenz in der Türkei beteiligt haben, in der unter anderem zur Zerstörung Israels aufgerufen wurde.[4] Hibaoui erklärte in einer Gegendarstellung, seine Teilnahme an der Konferenz beruhe auf einer Fehleinschätzung seinerseits. Er habe sich ein Leben lang und auch auf dieser Konferenz für Mäßigung und gegen Gewalt ausgesprochen.[5] Die Universitätsleitung nahm zu Vorwürfen ebenfalls Stellung[6] und hat angekündigt, hiergegen vorzugehen.[7] Auf einen Antrag der FDP-Fraktion im baden-württembergischen Landtag hat auch das zuständige Wissenschaftsministerium eine Stellungnahme abgegeben.[8]

Gebäude[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Einrichtung befindet sich in der von dem Ehepaar Christian Reinhold Köstlin und Josephine Caroline Lang 1842/43 in Bau-Auftrag gegebene und heute unter Denkmalschutz stehende Villa Köstlin in der Rümelinstraße 27 in räumlicher Nähe der Evangelisch-Theologischen Fakultät und der Katholisch-Theologischen Fakultät. Dort wurden Büros, ein Besprechungsraum, ein Raum für eine Handbibliothek sowie ein großer und zwei kleinere Seminarräume eingerichtet. Mittelfristig soll ein Neubau in unmittelbarer Nähe des bestehenden Theologicums errichtet werden.[9]

Hintergrund[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Bundesländer stellen den christlichen Religionsunterricht flächendeckend sicher. Dies gilt bisher nicht für den Religionsunterricht muslimischer Kinder. Da nach einer Schätzung des Bundesbildungsministeriums 2.000 Lehrer für rund 700.000 muslimische Schüler benötigt werden, soll mit den vier Zentren ein Anfang gemacht werden.[10] Erst im Februar 2011 erreichte die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen als erste eine Vereinbarung mit islamischen Organisationen, um ein gemeinsames Curriculum zu entwickeln.[11]

Während der Staat die Einrichtungen zum Studium der evangelischen Theologie und katholischen Theologie in Zusammenarbeit mit den Kirchen selbst in der Hand hat, war die Ausbildung islamischer Theologen und Religionslehrer in den 16 Bundesländern nicht geregelt. Faktisch bildete die türkische Regierung zahlreiche Imame aus, schickte rund 100 von ihnen für etwa vier Jahre nach Deutschland[12] und besoldet sie. Die Nachteile: Die Imame sind häufig der deutschen Sprache nicht voll mächtig, repräsentieren nicht alle Denominationen des Islam und sind mit der Lebenswirklichkeit des Gastlandes nicht umfassend vertraut. Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DİTİB) repräsentiert auch keine nicht-türkischen Moslems.

Der Staat geht von der Erfahrung aus, dass ein Religionsunterricht schon lange, etwa im Rahmen von Moscheevereinen, stattfindet. Eine Pflichtteilnahme islamischer Schüler am evangelischen oder katholischen Religionsunterricht gibt es nicht; ein islamischer existiert in den seltensten Fällen.

Der deutsche Wissenschaftsrat hatte die Einrichtungen der Zentren empfohlen: Sie sollen mit den Islamwissenschaften, den theologischen Fakultäten und anderen geisteswissenschaftlichen Fächern kooperieren.[13] Bereits 2008 hatte die Deutsche Islamkonferenz sich für einen flächendeckenden Religionsunterricht ausgesprochen.[14]

Neben Tübingen wurden auch drei andere Orte für das Studium der islamischen Theologie ausgewählt, nämlich Osnabrück[15] in Zusammenarbeit mit Münster, Frankfurt in Zusammenarbeit mit Gießen und Erlangen-Nürnberg. Die anderen Zentren nahmen ihre Arbeit erst 2012 auf.[16] Die Bundesregierung fördert die Zentren bis zu fünf Jahre mit je bis zu vier Millionen Euro. Neben einem achtsemestrigen Bachelor-Studium soll auch ein Lehramtsstudium möglich sein.[17]

Die Leiter der Zentren in Münster und Tübingen waren am 11. April 2015 unter den Erstunterzeichnern der Erklärung zur Gründung des liberalen Zusammenschlusses Muslimisches Forum Deutschland[18]. Das Forum will den humanistisch gesinnten Muslimen eine Stimme geben und an der Gestaltung der Gesellschaft und der Verteidigung der Menschenrechte mitwirken.[19][20]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Artikel im Tagblatt vom 1. Oktober 2011 (Memento vom 9. November 2011 im Internet Archive), abgerufen am 4. Oktober 2011
  2. Stuttgarter Nachrichten vom 2. September 2019
  3. Stuttgarter Nachrichten vom 2. September 2019
  4. Die Welt vom 19. September 2019
  5. https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/zentrum-fuer-islamische-theologie/zentrum/newsfullview-zentrum-aktuell/article/gegendarstellung/
  6. Kein Platz für Islamisten an der Universität Tübingen | Universität Tübingen. Abgerufen am 21. September 2022.
  7. https://www.kath.net/news/68740 Bericht auf kath.net
  8. https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP16/Drucksachen/6000/16_6748_D.pdf Antrag der FDP-Fraktion und Stellungnahme des Ministeriums, LT-Drs. 16/6478 vom 2. August 2019
  9. Martin Schreier: Zuständig für Glaubensfragen. Reutlinger Generalanzeiger, 5. Mai 2011.
  10. Pressemitteilung der Universität Tübingen vom 30. September 2011 (PDF; 293 kB), abgerufen am 4. Oktober 2011
  11. Bericht in der WELT vom 22. Februar 2011, abgerufen am 4. Oktober 2011
  12. Sabine Ripperger: Erstes Zentrum für Islamische Theologie. Deutsche Welle vom 10. Oktober 2011, abgerufen am 11. Oktober 2011
  13. Dokument des Wissenschaftsrates: Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen. vom 29. Januar 2010, S. 84 (PDF; 834 kB), abgerufen am 4. Oktober 2011
  14. Islamischer Religionsunterricht – Ein Thema der DIK (Memento vom 28. Juli 2012 im Webarchiv archive.today)
  15. Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung vom Oktober 2012 (Memento vom 5. Januar 2013 im Internet Archive), abgerufen am 13. Januar 2013
  16. Information des Bundesbildungsministeriums, abgerufen am 11. Oktober 2011
  17. Stuttgarter Zeitung vom 1. Oktober 2011, abgerufen am 4. Oktober 2011
  18. Gründungserklärung
  19. Bericht Süddeutsche Zeitung
  20. Domradio: Kritische Stimme

Koordinaten: 48° 31′ 27,2″ N, 9° 3′ 23,1″ O