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Uni Gießen, WDR, NZZ: Zerstören, um zu berichten

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Am 29. Juli erschien in der Neuen Zürcher Zeitung ein Artikel, der sich wohlwollend mit der Wikipedia, insbesondere dem Schutz vor Fakes, Vandalismus und Werbung befasst. Die NZZ berichtete von vier Falscheinträgen, die von Studierenden der Uni Gießen zu Testzwecken in der Wikipedia untergebracht worden waren. Drei Fake-Artikel und eine unrichtige Aussage seien schnell oder nach einigen Wochen gelöscht worden, heißt es da mit einem Lob für die funktionierende Kontrolle innerhalb der Wikipedia.

Tat und Tätern auf der Spur

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Wurde hier also erneut Artikel-Vandalismus mit einer wissenschaftlichen Fragestellung legitimiert, liegt hier wieder einmal eine ethisch nicht akzeptable Forschungsmethode vor? Dies hängt auch von der Transparenz und der Dokumentation beim Vorgehen, von den Möglichkeiten der Schadensbegrenzung im Versuchverlauf und überhaupt vom Bewusstsein für diese Problematik ab. Also galt es, das entsprechende Uni-Paper aus Gießen darauf zu überprüfen. Es sollte leicht zu finden sein, schließlich waren zwei Fake-Artikel in der NZZ benannt: „Sperchdrossel”, angeblich ein Vogel, und „Müllia Irriatum”, angeblich ein Moos.

Doch Google fand keine Uni-Ausarbeitung. Treffer waren nur der NZZ-Text und ein ähnlicher Beitrag mit Audiolink des gleichen Autors für den Westdeutschen Rundfunk. Letzterer nannte als Autorin des Moos-Artikels nur „die Studentin Sina„ – ohne Nachname. Seltsamerweise fehlte auch im Lösch-Logbuch der Wikipedia, das alle gestrichenen Artikel registriert, jeder Hinweis auf die beiden Fakes. Im WDR-Beitrag war der dritte Versuch benannt, über eine angeblich Nagetiere fressende Pflanze namens Hyproxanthipa – aber auch dieses Lemma ließ sich nicht im Löschlog finden. Das vierte Falsifikat war nicht ohne weiteres überprüfbar. In den Artikel über eine ungenannte „hugenottische Gemeinde im Lahn-Dill-Kreis”, so die NZZ, habe ein Student hineingedichtet, dass dort bis vor wenigen Jahren Französisch gesprochen wurde. Auch dies sei aber inzwischen wieder gelöscht.

Auf „Fragen zur Wikipedia” thematisiert, zeigte die Schwarmintelligenz mal kurz, was sie kann: Innerhalb einen Tag war das Löschrätsel gelöst. Die Fake-Artikel hießen korrekt Spätdrossel, Mylia erratum und Hyproxantipe. Auch der Hugenottenort blieb nicht verborgen: Es ging um den Ortsartikel Daubhausen, der am 23. Juli 2013 um 16:32 von einem Computer der Uni Gießen mit der IP-Adresse 134.176.101.167 bearbeitet worden war. Und – entgegen dem Text in der NZZ stand die Falschaussage über die französische Umgangssprache nach mehr als einem Jahr immer noch drin.

Ein Etikettenschwindel

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Wie ist all das zu erklären: die Kontamination in Daubhausen war nicht gelöscht, die drei Artikelnamen in der NZZ und beim WDR allesamt falsch, dazu die Nichtauffindbarkeit von irgendetwas Schriftlichem der Gießener Studierenden? Der Autor der beiden Texte, Hans Rubinich, ist Journalist für Wissenthemen. Und, teilt Google mit, pädagogischer Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Uni Gießen. Seine Uni-Webseite führt auch die Mitglieder seiner Arbeitsgruppe auf – darunter die studentische Hilfskraft Sina S*. Die Arbeitsgruppe befasst sich allerdings mit schulischer Sexualprävention, nicht mit digitaler Kompetenz.

Ist der „studentische Selbstversuch” nun ein akademisches oder ein journalistisches Projekt gewesen? Es habe mit der Uni Gießen überhaupt nichts zu tun gehabt, beteuert Rubinich. Es sei auch nicht aus einem akademische Diskurs entstanden. Er habe zusätzlich zu seinen journalistischen Interessen einen Lehrauftrag, da habe es „sich zusammengefügt”: Er habe vier seiner Studierenden gefragt, ob sie freiwillig eine solche Fake-Aktion machen würden. Warum er im NZZ-Artikel nicht offengelegt habe, dass er selbst der Initiator des Experiments war? „Das hätte man dazuschreiben können”, sagt Rubinich.

Schlampige Arbeit

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Dass alle Fake-Artikel in den beiden Texten falsch bezeichnet waren, sollte nicht etwa Spuren verwischen, „das lag uns ganz fern”, beteuert er. Es handle sich um ein Versehen. Rubinich wollte sich nicht dazu äußern, ob er eventuell überhaupt keine Notizen über die Aktivitäten der Studierenden gemacht hatte und die Lemmata aus deren Aussagen in der Radiosendung akustisch rekonstruiert hatte. Dass die Verfälschung des Daubhausen-Artikels rückgängig gemacht wurde, habe der Student ihm versichert, aber „das nachzurecherchieren wäre eigentlich mein Job gewesen,” räumt er ein. Aber da Autor Uwe den Ortsnamen zumindest in den ausgestrahlten O-Tönen nicht erwähnte, fand er wohl auch keinen Eingang in Rubinichs Texte. Eine Kontrolle, ob das Testfeld wenigstens sauber verlassen wurde, war Rubinich damit unmöglich. Dass Computer, von denen aus direkt hintereinander mehrere Fake-Artikel gepostet werden, zeitweilig wegen Vandalismus gesperrt werden können, war Rubinich unbekannt: „Das habe ich nicht berücksichtigt.” (Tatsächlich wurden die Edits verstreut im Juli 2013 gemacht, auch mit unterschiedlichen Benutzernamen, womit die Gefahr eine Bearbeitungssperre für Uni-Rechner nicht bestand.)

Die Artikel über die Spätdrossel und die Pflanze Hyproxanthipa waren erkennbarer Unfug, und die Aktiven in der Eingangskontrolle löschten sie sofort. Anders der Text über das Moos Mylia erratum: Autorin Sina studiert auch Biologie und hatte den Artikel terminologisch schlüssig angelegt sowie mit Literatur ausgestattet. So setzte ihn ein Wikipedianer auf die von Hand gepflegte „Eingangkontrolle für Lebewesen”. Ein weiterer erkannte zwei Monate später beim Abarbeiten der Liste den Fake, ein dritter löschte ihn. Um die Korrektur des Daubhausen-Artikels, der jetzt die korrekten Angaben über Predigten in französischer Sprache enthält, kümmerten sich letzte Woche zwei weitere Wikipedianer.

Ob Rubinich keine Skrupel gehabt hätten, den Freiwilligen eine solche überflüssige Arbeit aufzuhalsen? „Der Frage sind wir einfach nicht nachgegangen”, sagt er. Er habe aber sowohl auf einem Wikipedia-Stammtisch in Frankfurt am Main als auch bei einem Interview mit Pavel Richter von dem Experiment erzählt. Auf Bedenken sei das „Experiment der Studenten der Uni Gießen” nicht gestoßen, heißt es im Radiobeitrag (ab 14m21s). Doch zum Zeitpunkt der Gespräche lief der Test seit Wochen, zwei Fakes waren schon gelöscht. Und es ist nur schwer vorstellbar, dass eine ernsthafte Anfrage im Vorfeld des Experiments von irgendjemandem in Wikipedia oder Wikimedia bejaht worden wäre.

Experimente mit Menschen

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Die Skrupel überließ Rubinich seinen Studierenden. Sina war „irgendwie erleichtert” , als ihr Artikel über Mylia erratum, längst von Google auf der ersten Seite bei den Moosarten platziert, im September gelöscht wurde. Jemand hätte das Material unbedacht für die Schule oder die Uni verwenden können, sagt sie (ab 14m04s). Und selbst wenn ein Nutzer letztendlich die Täuschung bemerkt hätte, wäre immer noch die Mühe vergeudet gewesen. Student Uwe, der sich die Daubhausen-Fälschung hat einfallen lassen, meldete ein „schlechtes Gewissen” und ein „komisches Gefühl”, weil jemand hätte in den Ort fahren können, um dort Französisch zu sprechen (ab 14m40s). Auf die Idee, den Test abzubrechen, sind weder Sina noch Uwe und erst recht nicht Rubinich gekommen. So ist der Artikel über das Hugenottendörfchen in seiner vandalierten Fassung durchschnittlich 100-mal im Monat, also 1200-mal abgerufen worden, der Moos-Artikel bis zur Löschung insgesamt 150-mal.

Wer den WDR-Beitrag hörte, dem konnte die Skepsis der Studierenden vielleicht eine Ahnung von der unethischen Dimension eines solchen Journalismus verschaffen: seinen Berichtsgegenstand zu beschädigen, um darüber zu berichten. Wer die NZZ las, dem blieb selbst diese kleine Chance verborgen, ebenso wie die zweite unethische Dimension dieses Vorgehens: sich in ein wissenschaftliches Mäntelchen (“Uni”, „Studenten”, „Selbstversuch”) zu kleiden, obwohl es beim „Test” ausschließlich um Journalismus ging.

Vier Lehren über unethische Professionelle

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Der Schaden, der Wikipedia durch diesen „Selbstversuch” entstand, mag letztlich gering sein. Die positive mediale Berichterstattung durch Rubinichs Texte ist sogar zu begrüßen. Über Benutzersperren braucht hier nicht ernsthaft nachgedacht zu werden. Dennoch können einige allgemeinere Lehren aus dem unethischen Verhalten in Ausübung des Berufs gezogen werden.

(1) Fakes aus wissenschaftlichen, pädagogischen oder journalistischen Gründen in der Wikipedia unterzubringen ist nicht akzeptabel. „Mal zeigen, wie die Wikipedia mit Fakes umgeht” ist Vandalismus. Wer zerstörungsfrei erforschen will, was mit Fakes passiert, findet dazu in der deutschen Wikipedia jederzeit Material und Ansprechpartner, zum Einstieg: das Fakemuseum.

(2) Mag sein, dass es in der Fake-Frage Grenzbereiche gibt. Wer den Wikimedia Research Newsletter mit seiner Beschreibung akademischer Fragestellungen und Forschungsergebnisse liest, wird sinnvolle Experimente nicht ausschließen können. Aber: Warum Fakes unumgänglich waren, warum der durch Fakes verursachte Arbeitsaufwand für die aktiven Wikipedianer vertretbar sein soll, warum und welche Schäden auch für die Besucherinnen und Besucher in Kauf genommen wurden – das muss in der Veröffentlichung, in der die Ergebnisse erscheinen, explizit erläutert werden. Zusätzlich sind eine präzise Dokumentation, die im Nachhinein an zugänglicher Stelle erscheint, und das systematische Aufräumen mit Nachkontrolle zwingend.

(3) In der englischen Wikipedia sind Fakes ausdrücklich verboten. Unter den Hilfeseiten der deutschen Wikipedia gibt es dazu keine extra Ansage, wohl weil es sich eigentlich von selbst versteht. Aber eine Seite, die den Inhalt des vorstehenden Punktes 1 nennt, sollte in die deutschen Hilfeseiten aufgenommen werden. Sie würde irgendwelche „Versuche” vielleicht nicht vollständig verhindern, sendet aber eine eindeutige Botschaft. Ob auch der vorstehende Punkt 2 dort aufgenommen würde, bliebe zu diskutieren. Er würde jedenfalls erläutern, warum Punkt 1 wichtig ist.

(4) Mit Leserkommentaren, eigenen Blogeinträgen und Mails an Redaktionen wissenschaftlicher oder journalistischer Medien gibt es durchaus Mittel, durch die es sich rumsprechen kann, dass sich Wikipedia-Aktive gegen scheinlegitimierten Vandalismus wehren. Die Botschaft an die Redaktionen ist: Lehnt solche Beitragsangebote künftig ab!

Zum Weiterlesen: Die jüngste Ausgabe der Signpost beschäftigt sich allgemeiner mit Fakes bzw. Hoaxes, wie sie auf Englisch heißen; interessant dort auch die Links zu früheren Signpost-Artikeln. Aa, 3.8.