Stolperbordstein

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rechteckige Messingtafel auf der Bordsteinkante mit der Inschrift: „Entrechtet – Ausgegrenzt – Ermordet“ | 1933–1945 | Im Gedenken an die Frauen der Herbertstraße und anderswo
Gedenktafel für Sexarbeiterinnen in der Zeit des Nationalsozialismus in Hamburg-St. Pauli, 2024

Stolperbordstein heißt ein Denkmal für Sexarbeiterinnen, die in der Zeit des Nationalsozialismus diskriminiert und ermordet wurden. Der Name verbindet zwei Begriffe: „Bordstein“ bezieht sich auf die Straßenprostitution und „Stolperstein“ steht für die Opfer des NS-Regimes. Die Gedenkplatte befindet sich in Hamburg-St. Pauli und erinnert an eine bisher wenig erforschte Gruppe von NS-Opfern.[1]

Hintergrund: Sexarbeit im Nationalsozialismus

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In der Zeit des Nationalsozialismus galt Sexarbeit (damals Prostitution genannt) als „asoziales Verhalten“ und wurde als „Sünde und Schande für die Volksgemeinschaft“ betrachtet. Die Tätigkeit der Frauen war nicht ausdrücklich verboten, unterlag aber strenger Überwachung, und die Frauen wurden in der Regel kaserniert.[2] In einigen Städten Deutschlands errichtete man eiserne Tore vor Bordellgassen, um die Kontrolle zu verschärfen wie zum Beispiel in der Herbertstraße in Hamburg-St. Pauli.[3][4]

Prostituierte galten im nationalsozialistischen Sozialrassismus allgemein als „unterwertige Elemente“ und als unfähig, sich in die Volksgemeinschaft einzugliedern.[5] Sie wurden daher stark verschärften Kontrollen sowie behördlichen Willkür und Schikane ausgesetzt wie Kasernierung, Entmündigung, Zwangssterilisierung, Zwangsarbeit, Einweisung in Anstalten, Gefängnisse oder Konzentrationslager wie das KZ Neuengamme oder das Frauen-KZ Ravensbrück.[6][7]

Die Rolle der Polizei und die Vorbeugende Verbrechensbekämpfung

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Ein Erlass von 1937 verlieh der Polizei weitreichende Befugnisse zur sogenannten Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung. Unter dem Vorwand, „asoziales Verhalten“ gefährde die Sicherheit der Allgemeinheit, konnte die Polizei Menschen ohne Gerichtsverfahren und ohne zeitliche Begrenzung in sogenannte Vorbeugehaft nehmen. Was jeweils als „asoziales Verhalten“ galt, bestimmte die Polizei, die Betroffenen konnten keine Rechtsmittel dagegen einlegen.[6][8]

Anfänglich war die Politik der NSDAP in Sachen Prostitution eher moralisierend und zielte auf konservativ-christliche Bevölkerungskreise ab. Mit beginnender Kriegsvorbereitung entwickelte sie sich jedoch in eine andere Richtung. Unter Heinrich Himmler, der die Funktion von Sexarbeit für eine militarisierte Gesellschaft erkannt hatte, fand eine Ausweitung polizeikontrollierter Bordelle statt.[9][8] Ihre Bewohnerinnen wurden nach rassistischen Kriterien eingeteilt, sogenannt arische Männer sollten nur noch auf entsprechende Frauen treffen. Kontakte zu jüdischen Prostituierten waren verboten, die Frauen kriminalisiert. Parallel dazu richtete man spezielle Bordelle von und für sogenannt Fremdvölkische ein, um Kontakte von Zwangsarbeitern zu „arischen“ Frauen zu verhindern.[10] Nicht wenige Frauen wurden zur sexuellen Zwangsarbeit in Wehrmachtsbordellen und Konzentrationslagern verpflichtet.[11][12]

Die Situation im Konzentrationslager

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Wie alle im KZ als „asozial“ Eingestufte trugen Prostituierte einen schwarzen Winkel an der Kleidung. Manche trugen auch einen grünen Winkel und waren damit als „Berufsverbrecher“ oder als Sicherheitsverwahrte markiert, selbst wenn sie nur Kleindelikte begangen hatten wie etwa eine der zahllosen Kontrollregeln zu übertreten. Sexarbeiterinnen standen wie alle Menschen mit schwarzem oder grünem Winkel in der Lagerhierarchie auf unterster Stufe und wurden oft selbst von Mithäftlingen verachtet. Wie viele von ihnen im KZ umkamen oder durch die Schikane von Polizei und Gestapo getötet, in den Suizid getrieben oder verletzt wurden, ist nicht genau erforscht.[13] Schätzungen zufolge befanden sich mindestens 70.000 Menschen mit schwarzem oder grünen Winkel in den Konzentrationslagern. Ihre Todesrate lag besonders hoch.[3][14]

Aufarbeitung nach 1945

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Nach dem Ende des Nationalsozialismus wurde die Diskriminierung von Menschen, die von der sozialen Norm abwichen wie zum Beispiel Sexarbeiterinnen, nicht grundsätzlich geändert, sondern häufig in anderer Form fortgesetzt. Sexarbeiterinnen wurden nicht als NS-Opfer anerkannt und erhielten keinerlei Wiedergutmachung oder Entschädigung. Die Betroffenen schwiegen meist aus Scham vor erneuter Stigmatisierung.[13]

Erst im Frühjahr 2020 stimmten alle Parteien des Deutschen Bundestags (mit Ausnahme der AfD) einem Antrag des Abgeordneten Frank Nonnenmacher zu. Der zentraler Satz im Text lautet: „Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält und ermordet.“[15] Damit wurde zumindest ein Teil des Unrechts, dem Sexarbeiterinnen im Nationalsozialismus ausgesetzt waren, symbolisch anerkannt.[16]

Der Stolperbordstein als Gedenkstätte

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Vor dem Eingangstor zur Herbertstraße an der Davidstraße nahe der Reeperbahn wurde mit Unterstützung des Bezirks Hamburg-Mitte am 9. August 2024 eine Bodenplatte in den Bordstein eingelassen, die an die Schicksale verfolgter Prostituierter in der NS-Zeit erinnert.[17] Die Inschrift lautet: „Entrechtet – Ausgegrenzt – Ermordet“. Die Initiative dazu war vom Verein Lebendiges Kulturerbe St. Pauli und der Kirchengemeinde St. Pauli ausgegangen.[3] Ein QR-Code auf der Platte führt zu weiteren Informationen über die Geschichte der Herbertstraße und ihrer Bewohnerinnen.[18]

Einige Initiativen beanstandeten in einem Offenen Brief, man habe bei dem Denkmal unterschiedliche Geschlechtsidentitäten nicht berücksichtigt, und die Begrenzung auf die NS-Zeit vernachlässige die Diskriminierung nach 1945. Zudem seien der Schöpfer der Stolperstein-Idee, der Künstler Gunter Demnig oder die Hamburger Stolpersteininitiative nicht einbezogen worden.[19]

  • Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus: Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik. MV Wissenschaft 2010, ISBN 9783869910901.
  • Elke Frietsch / Christina Herkommer (Hg.): Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, „Rasse“ und Sexualität im „Dritten Reich“ und nach 1945. Transcript Verlag 2009, ISBN 978-3-89942-854-4.
  • Jacob, Frank: Die Polizei und Prostitutionskontrolle im urbanen Raum. Würzburg 1939–1945 als unterfränkische Fallstudie. In: Göllnitz, M., Mecking, S. (Hg.): Polizei und Sicherheit. Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung. Springer VS, Wiesbaden 2024.[20]
  • Julia Roos: Backlash against Prostitutes' Rights: Origins and Dynamics of Nazi Prostitution Policies. In: Journal of the History of Sexuality, Vol. 11, No. 1/2, Special Issue: Sexuality and German Fascism, University of Texas Press 2002, S. 67–94.[21]
  • Robert Sommer: Das KZ-Bordell: Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Brill | Schöningh 2022, ISBN 978-3506793348.
  • Frauke Steinhäuser: Als „asozial“ im KZ inhaftierte Prostituierte. Zwei Fallbeispiele sozialrassistischer und geschlechtsspezifischer Verfolgung. In: Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V., WerkstattGeschichte, März 2023, Jg. 31, Ausgabe 87. DOI:10.14361/zwg-2023-870108.

Einzelnachweise

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  1. Gedenken an Herbertstraßen-Prostituierte in NS-Zeit. In: ARD. 9. August 2024, abgerufen am 12. August 2024.
  2. Sexarbeiterinnen in NS-Zeit: Nicht länger vergessen. In: ZDF. 9. August 2024, abgerufen am 12. August 2024.
  3. a b c Sexarbeit in der Nazi-Zeit - Gedenkstein für verfolgte Prostituierte. NDR, 3. Juni 2024, abgerufen am 12. August 2024.
  4. LEBENDIGES KULTURERBE SANKT PAULI! Abgerufen am 12. August 2024.
  5. Der „grüne Winkel“ als Tabu. In: ORF Topos. Abgerufen am 16. August 2024.
  6. a b Ausstellung „Zwischen Zwangsfürsorge und KZ. Arme und unangepasste Menschen im nationalsozialistischen Hamburg“. In: KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Abgerufen am 12. August 2024.
  7. Erinnerung an Nazizeit: Gedenken an Herbertstraßen-Prostituierte in NS-Zeit. In: Die Zeit. 9. August 2024, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 12. August 2024]).
  8. a b Absolute Kontrolle männlicher Sexualität. In: Portal Militärgeschichte. 11. Dezember 2023, abgerufen am 12. August 2024.
  9. Julia Roos: Backlash against Prostitutes' Rights: Origins and Dynamics of Nazi Prostitution Policies. In: Journal of the History of Sexuality. Band 11, Nr. 1/2. University of Texas Press, 2002, S. 91 f.
  10. Julia Roos: Backlash against Prostitutes' Rights: Origins and Dynamics of Nazi Prostitution Policies. In: Journal of the History of Sexuality. 11, Special Issue: Sexuality and German Fascism, Nr. 1/2. University of Texas Press, 2002, S. 88.
  11. deutschlandfunkkultur.de: Sexualisierte Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern - Verkannte Opfer. 14. Februar 2018, abgerufen am 16. August 2024.
  12. Prostitution als NS-Kriegsmittel. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Abgerufen am 12. August 2024.
  13. a b Ausgegrenzte Opfergruppen NS-Zeit. In: Arolsen Archives. Abgerufen am 12. August 2024.
  14. Opfer der NS-Zeit, über die man nicht spricht: Ein Sammelband. In: FAZ. 15. April 2024, abgerufen am 12. August 2024.
  15. "Asoziale" und "Berufsverbrecher" – Die verleugneten Nazi-Opfer. In: S. W. R. Kultur. 18. Januar 2024, abgerufen am 12. August 2024.
  16. „Asoziale“ im Nationalsozialismus (PDF). In: Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste. 27. Juni 2016, abgerufen am 12. August 2024.
  17. Gedenken an Herbertstraßen-Prostituierte in NS-Zeit - WELT. Abgerufen am 12. August 2024.
  18. St. Pauli: Gedenkstein soll an Sexarbeiterinnen der NS-Zeit erinnern. In: Evangelische Zeitung. 6. August 2024, abgerufen am 12. August 2024.
  19. Offener Brief zur Verlegung eines „Messing – Bordsteins“ vor der Herbertstraße. In: Ruby Rebelde. Abgerufen am 13. August 2024.
  20. Frank Jacob: Die Polizei und Prostitutionskontrolle im urbanen Raum. Würzburg 1939–1945 als unterfränkische Fallstudie. In: Polizei und Sicherheit: Akteure - Heuristiken - Repertoires. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2024, ISBN 978-3-658-41406-1, S. 283–297, doi:10.1007/978-3-658-41406-1_12 (springer.com [abgerufen am 16. August 2024]).
  21. Vol. 11, No. 1/2, Jan. - Apr., 2002 of Journal of the History of Sexuality on JSTOR. Abgerufen am 16. August 2024 (englisch).

Koordinaten: 53° 32′ 53,2″ N, 9° 57′ 45,5″ O