Öffentlichkeitsfahndung

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Steckbriefe sind eines der Mittel der Öffentlichkeitsfahndung

Die Öffentlichkeitsfahndung ist ein Fahndungshilfsmittel für die Suche nach Personen oder Sachen durch Strafverfolgungsbehörden, seltener auch von der Justiz oder von Privatpersonen mit Hilfe der Mitwirkung der Bevölkerung.

Absicht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Mit Hilfe von Medien wird versucht, einen großen Personenkreis anzusprechen und zur Mithilfe aufzufordern. Ziel ist die Tataufklärung (Ermittlung von Tat und Täterschaft). Sie wird in der Regel nur in Fällen angewandt, bei denen ein großes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht oder zu erwarten sein wird.

Übergabe einer Belohnung (Koffer mit Geld) an einen Informanten, der Hinweise auf zwei gesuchte Terroristen auf den Philippinen gab

Hierbei werden nach der Begehung schwerwiegender Straftaten oder Gefängnisausbrüchen auch Belohnungen ausgelobt. Ganz überwiegend handelt es sich hierbei um die Suche nach Personen, die Personenfahndung; dabei werden meistens Tatverdächtige oder verurteilte Straftäter gesucht, seltener auch Zeugen oder aber Vermisste. Sehr häufig besteht bei den gesuchten Personen bereits ein vollstreckbarer – offener – Haftbefehl oder eine Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung.

Durchführung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Öffentlichkeitsfahndung wird hauptsächlich durch die Einbindung der Massenmedien besorgt, z. B. durch Durchsagen im Hörfunk, in Fernsehsendungen (Nachrichten, Aktenzeichen XY … ungelöst usw.). Weitere Arten sind der Aushang von Steckbriefen, Zeugenaufrufe (Anschläge) oder die Publizierung im Internet. Die Polizei führt nach bedeutenden Straftaten auch Lautsprecherdurchsagen durch.

Auch breit angelegte Hausbefragungen der Polizei sind ein Mittel der Öffentlichkeitsfahndung.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die erste Fahndung mittels Fernsehen fand am 8. November 1938[1][2] in Berlin statt. Sie wurde nach dem Mord an einem Taxifahrer vom Berliner Ermittler Ernst Gennat organisiert.[3]

„Heute um acht Uhr abend wird das Fernsehen zum ersten Male verwendet werden, um einen Mord aufklären zu helfen. Alle Berliner Schneider und Kleiderhändler sind von der Polizei aufgefordert worden, sich in den Fernsehvorführungsräumen einzufinden, um den Mantel, der in der Nähe eines ermordeten Taxichauffeurs gefunden worden ist, zu identifizieren.“

Bericht im Prager Tagblatt vom 8. November 1938[1]

Am 12. Oktober 1938 um 23.30 Uhr wurde der 37-jährige Taxifahrer Herbert Taubel auf der Inselstraße zwischen Nikolassee und Schwanenwerder tot aufgefunden. Er war offensichtlich das Opfer eines Raubmords geworden.[4] Der Täter konnte mit Hilfe eines am Tatort aufgefundenen weißlichgelben, blutbefleckten Gummimantels ermittelt werden.[5] „Auf diesen Fund stützte sich die Aktion der Berliner Kriminalpolizei. Der Mantel wurde in allen Zeitungen genau beschrieben. Auf Plakaten wurde er bildlich wiedergegeben. Er wurde sogar – erstmalig in der Geschichte der Kriminalistik – im Fernsehsender gezeigt.“[6] Der Gummimantel enthielt das Etikett einer Erfurter Firma und führte auf die Spur des 19-jährigen Hans Hahn aus Erfurt, der die Tat im November 1938 gestand.[6]

Das Verfahren gegen Hans Hahn wurde besonders schnell durchgeführt: Am 18. November 1938 war er dem Richter vorgeführt worden, und am 23. November fand vor einem Berliner Sondergericht die Hauptverhandlung statt, die am gleichen Tag mit der Verurteilung zum Tode sowie dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit endete. Das Todesurteil wurde am 24. November vollstreckt.[7][8]

1939 produzierte die Deutsche Reichspost für den Weltpostkongress in Buenos Aires den Spielfilm Wer fuhr IIA 2992, um die technischen Möglichkeiten des neuen Mediums Fernsehen am Beispiel der Öffentlichkeitsfahndung zu demonstrieren. Ein Kraftfahrer verursacht in der Nähe von Berlin einen (fiktiven) Zusammenstoß mit einem Motorradfahrer, bei dem dieser ums Leben kommt. Da der Fahrer Unfallflucht begeht, soll eine vom Tatfahrzeug abgebrochene Türklinke bei der Fahndung helfen: „Davon müßte unbedingt ein Bild in die Morgenzeitungen. Aber dazu ist [es] schon zu spät. Vielleicht geht's noch durch Fernsehrundfunk.“ Das Beweisstück wird zum Fernsehsender gebracht, wo das gerade laufende Revueprogramm für die Fahndung unterbrochen wird. Ein Zuschauer in einer Fernsehstube, der die Türklinke erkennt, hat sich das Kennzeichen IIA 2992 gemerkt, meldet sich bei der Polizei und ist überzeugt, den Fahrer wiedererkennen zu können. Der Fahrzeughalter kann in München ermittelt werden, streitet aber ab, selbst zur fraglichen Zeit gefahren zu sein; sein Auto sei vielmehr gestohlen worden. Der Halter wird in eine Fernseh-Sprechstelle gebracht, sodass sein Bild nach Berlin zur Gegenüberstellung mit dem Zeugen übertragen werden kann. Der Zeuge kann die ihm gezeigte Person eindeutig ausschließen, erkennt jedoch kurz darauf in einem Fernsehbericht über den Großen Preis von Hoppegarten den Unfallverursacher unter den Zuschauern, der dadurch festgenommen werden kann.[9]

Im Fall der Entführung von Joachim Göhner im April 1958 in Stuttgart-Degerloch veröffentlichte die deutsche Polizei zwei Wochen nach dem Leichenfund erstmals die mitgeschnittene Täterstimme im Hörfunk, was schließlich zur Ergreifung des Mörders führte.

Rechtliche Einordnung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Deutschland ist die Öffentlichkeitsfahndung in § 131a StPO normiert. Die Anordnung von Fahndungen nach § 131a Abs. 3 und § 131b StPO darf nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen erfolgen. Fahndungen nach § 131a Abs. 1 und 2 StPO bedürfen der Anordnung durch die Staatsanwaltschaft; bei Gefahr im Verzug dürfen sie auch durch ihre Ermittlungspersonen angeordnet werden (§ 131c StPO).

Mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz von 1999 (StVÄG) wurde die strafprozessuale Öffentlichkeitsfahndung nach § 131 StPO umfassend reformiert. Daraus entstanden die heutigen §§ 131 – 131c StPO, welche nunmehr den verfassungsrechtlichen und strafprozessualen Voraussetzungen entsprechen. Seitdem ist der grundrechtliche Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausfluss des Persönlichkeitsrechtes rechtlich unbedenklich möglich. Seit der Reform sind Detailregelungen für Fahndungsmaßnahmen, spezielle Eingriffsbefugnisse anstatt einer Generalklausel, sowie die Zulässigkeit und Grenzen der strafrechtlichen Verarbeitung von personenbezogenen Daten bereichsspezifisch geregelt.

Verkürzt erläutert regelt § 131 StPO die Zulässigkeit von Fahndungsmaßnahmen und speziell die Öffentlichkeitsfahndung zum Zweck der Festnahme einer namentlich bekannten Person. § 131a StPO regelt die Fahndungsmaßnahmen und im Speziellen die Öffentlichkeitsfahndung zum Zweck der Aufenthaltsermittlung, sowie Identitätsfeststellung. § 131b StPO regelt die Einfügung von Abbildungen (Fotos, Videos, Phantombilder) bei einer Öffentlichkeitsfahndung. § 131c StPO die Anordnungsbefugnis für Öffentlichkeitsfahndungen.

Für Öffentlichkeitsfahndungen zu präventiven / polizeirechtlichen / gefahrenabwehrrechtlichen Zwecken bestehen in den Bundesländern unterschiedliche Regelungen.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Hilger: Zum Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 (StVÄG 1999) Teil 1, NStZ 2000, 561–565.
  • Paeffgen in SK-StPO – Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung mit GVG und EMRK, 5. Auflage 2016, Band II, Carl Heymanns Verlag, ISBN 978-3-452-28073-2.
  • Glaser in Barthe/Gericke, Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 9. Auflage 2023, §§ 131–131 c StPO, C. H. Beck, ISBN 978-3-406-76760-9

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b Fernsehen soll Mord aufklären. In: Prager Tagblatt, 8. November 1938, S. 4 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/ptb
  2. Mördermantel im Fernseher. In: Neuigkeits-Welt-Blatt, 9. November 1938, S. 4 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/nwb
  3. Andreas Conrad: Polizeigeschichte. Vom Verbrecheralbum zur Fernsehfahndung. In: tagesspiegel.de. 31. März 2011, abgerufen am 7. November 2023.
  4. Mord an einem Berliner Taxichauffeur. In: Oesterreichische Kronen-Zeitung. Illustrirtes Tagblatt / Illustrierte Kronen-Zeitung / Wiener Kronen-Zeitung, 14. Oktober 1938, S. 8 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/krz
  5. Raubmord an einem Taxichauffeur. In: Kleine Volks-Zeitung, 16. Oktober 1938, S. 4 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/kvz
  6. a b Der Berliner Chauffeurmord aufgeklärt. In: Innsbrucker Nachrichten, 16. November 1938, S. 3 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/ibn
  7. Der Chauffeurmörder hingerichtet. In: Neues Wiener Tagblatt. Demokratisches Organ / Neues Wiener Abendblatt. Abend-Ausgabe des („)Neuen Wiener Tagblatt(“) / Neues Wiener Tagblatt. Abend-Ausgabe des Neuen Wiener Tagblattes / Wiener Mittagsausgabe mit Sportblatt / 6-Uhr-Abendblatt / Neues Wiener Tagblatt. Neue Freie Presse – Neues Wiener Journal / Neues Wiener Tagblatt, 24. November 1938, S. 32 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/nwg
  8. Der Chauffenemörder hingerichtet. In: Neuigkeits-Welt-Blatt, 25. November 1938, S. 5 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/nwb
  9. Können Sie schon fernsehen? In: HNF Heinz Nixdorf MuseumsForum GmbH. 26. Juli 2019, abgerufen am 7. November 2023. (Mit Zugriff auf den Film als Video.)