Abū ʿĪsā al-Warrāq

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Abū ʿĪsā Muhammad ibn Hārūn al-Warrāq (arabisch أبو عيسى محمد بن هارون الوراق, DMG Abū ʿĪsā Muḥammad ibn Hārūn al-Warrāq gest. wahrscheinlich 861/862) war ein schiitischer Kalām-Gelehrter, der um die Mitte des neunten Jahrhunderts in Bagdad tätig war und für seine Schriften zu den verschiedenen in seiner Zeit bekannten Religionen und Glaubensrichtungen und für seine allgemeine Skepsis gegenüber religiösen Ansprüchen bekannt war. Der arabische Philosoph Abū Haiyān at-Tauhīdī (gest. 1023) lobte ihn als „einen der gescheitesten Kalām-Gelehrten“ (min ḥuḏḏāq al-mutakallimīn).[1]

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Es gibt nur wenig gesicherte Informationen über Abū ʿĪsā al-Warrāqs Leben. Nach Al-Masʿūdī war er in Bagdad tätig und starb im Jahre 247 der Hidschra (= 861/862 n. Chr.) im westlichen Teil der Stadt an einem Ort, der ar-Ramla genannt wurde.[2] Seinem Laqab al-Warrāq ist zu entnehmen, dass er Buchhändler oder Kopist oder beides war.[3] Ein Bericht bei al-Aschʿarī, wonach er mit einem Gefährten von Hischām ibn al-Hakam (gest. 795 oder später) gesprochen hat,[4] deutet ebenfalls auf ein Floruit zu Beginn des 9. Jahrhunderts hin, es gibt aber Zweifel an dem von al-Masʿūdī genannten Todesdatum.[5] Fest steht jedoch, dass er der Lehrer von Ibn ar-Rāwandī war.[6]

Werke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Fast alle der zwanzig Werke Abū ʿĪsās, von denen Titel überliefert sind, sind verschollen. Zu den bedeutendsten davon gehören:

  • Radd an-Naṣārā („Widerlegung der Christen“). Von diesem Buch gab es drei Versionen, eine lange, eine mittellange und eine kurze. Eine davon, wahrscheinlich die Langversion, wird in dem als Widerlegung angelegten Werk Tabyīn ġalaṭ Muḥammad ibn Hārūn al-maʿrūf bi-Abī ʿĪsā al-Warrāq des christlichen Philosophen Yahyā ibn ʿAdī (gest. 974) abschnittsweise wörtlich zitiert.[7] Damit ist es Abū ʿĪsās einziges Werk, das in mehr als fragmentarischer Form überliefert ist.[5] Die beiden Hauptteile über die Trinität und die Inkarnation wurden von David Thomas in seinen Büchern Anti-Christian polemic in early Islam. Abū ʿĪsā al-Warrāq’s “Against the Trinity” (Cambridge 1992) und Early Muslim polemic against Christianity: Abū ʿĪsā al-Warrāq's "Against the Incarnation" (Cambridge 2002) ediert und übersetzt. Abū ʿĪsā setzte sich in diesem Werk in getrennten Kapiteln mit den Lehren der Monophysiten, Nestorianer und Melkiten auseinander.[8]
  • Radd ʿalā l-Maǧūs („Widerlegung der Zoroastrier“)
  • Iqtiṣāṣ maḏāhib aṣḥāb al-ithnain wa-r-radd ʿalaihim („Genaue Darstellung der Lehrrichtungen der Dualisten und ihre Widerlegung“).[5]
  • Kitāb Maqālāt an-nās wa-ḫtilāfuhum, ein auf Objektivität angelegtes doxographisches Werk über die wichtigsten religiösen Lehren der Menschen und ihre Unterschiede.[9] Es war eine wichtige Quelle für die späteren doxographischen und häresiographischen Werke von al-Hasan ibn Mūsā an-Naubachtī (gest. 922), Abū l-Hasan al-Aschʿarī (gest. 935), ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādī (gest. 1037) und asch-Schahrastānī (gest. 1153). Auch al-Masʿūdī (gest. 956), Bīrūnī (gest. 1028) und asch-Scharīf al-Murtadā (gest. 1044) benutzten das Werk. Die Themen, zu denen es zitiert wird, sind die dualistischen Weltanschauungen (Manichäismus und Markioniten), die religiösen Anschauungen der vorislamischen Araber, die jüdischen Sekten, die Sumanīya, also der Buddhismus, die schiitischen Lehren[10] und die Lehren der frühen Muʿtaziliten Wāsil ibn ʿAtā' und ʿAmr ibn ʿUbaid.[11]
  • Iḫtilāf aš-šīʿa („Die Meinungsverschiedenheit der Schia“).[7] Darin benutzte er das Kitāb al-Iḫtilāf fī l-imāma von Hischām ibn al-Hakam.[12]
  • Kitāb al-Imāma, Buch über das Imamat, von dem es eine Lang- und eine Kurzversion gab.[6]
  • al-Ġarīb al-mašriqī („Der östliche Fremde“). Zitate daraus sind in Abū Haiyān at-Tauhīdīs al-Imtāʿ wa-l-muʾānasa erhalten.[13]
  • Kitāb as-Saqīfa. Das Buch, das 200 Seiten lang war, enthielt rationale Argumente dafür, dass ʿAlī ibn Abī Tālib durch explizite Designation (naṣṣ ǧalī) zum Nachfolger des Propheten bestimmt worden war, und wendet sich gegen den Vorrang Abū Bakrs.[7]
  • Kitāb al-Maǧālis

Seine eigene religiöse Orientierung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach asch-Schahrastānī war Abū ʿĪsā al-Warrāq ursprünglich ein Madschūsī, gehörte also dem Zoroastrismus an.[14] Nach Ibn an-Nadīm dagegen war er Muʿtazilit, wandte sich jedoch im Laufe unterschiedlichen religiösen Lehren zu, bis man ihn beschuldigte, zum Dualismus übergegangen zu sein.[6] Asch-Scharīf al-Murtadā führte den Dualismus-Vorwurf, den man gegen Abū ʿĪsā Muhammad ibn Hārūn al-Warrāq erhoben hatte, auf Ibn ar-Rāwandī zurück und erklärte ihn damit, dass zwischen beiden eine Feindschaft bestanden habe. Dieser Vorwurf beruhte darauf, dass Abū ʿĪsā in seinem Kitāb al-Maqālāt die Lehren der Dualisten besonders ausführlich dargestellt habe.[15] Dass Abū ʿĪsā in Wirklichkeit aber ein Gegner des Dualismus war, geht jedoch aus den Titeln seiner verlorenen Werke Iqtiṣāṣ maḏāhib aṣḥāb al-ithnain wa-r-radd ʿalaihim und Radd ʿalā l-Maǧūs hervor.[5] ʿAbd al-Dschabbār ibn Ahmad beschuldigte ihn, ein Mulhid zu sein.[16] Die Verwirrung um Abū ʿĪsā al-Warrāqs religiöse Orientierung geht möglicherweise auf seinen eigenen Unwillen zurück, sich religiös festzulegen.[5]

Abū l-Hasan al-Aschʿarī und al-Masʿūdī rechneten Abū ʿĪsā al-Warrāq dagegen der Schia[17] bzw. den Rāfiditen[18] zu. Auch in der modernen Forschung wird davon ausgegangen, dass er der Schia zuneigte.[5] Nach Josef van Ess steht unzweifelhaft fest, dass Abū ʿĪsā al-Warrāq ein Schiit war. Dies ergibt sich für ihn aus den überlieferten Titeln seiner Werke.[19]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Arabische Quellen

  • Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī: Kitāb Maqālāt al-islāmīyīn wa-ḫtilāf al-muṣallīn. Ed. Hellmut Ritter. Istānbūl: Maṭbaʿat ad-daula 1929–1933. Digitalisat
  • Al-Masʿūdī: Murūǧ aḏ-ḏahab wa-maʿādin al-ǧauhar. Ediert und übersetzt von Barbier de Meynard et Pavet de Courteille. 9 Bde. Paris 1861–1877. Band VII, S. 236f. Digitalisat

Sekundärliteratur

  • A. Abel: Abū ʿĪsā al-Warrāq. Brüssel 1949.
  • Carsten Colpe: „Anpassung des Manichäismus an den Islam (Abū ʿĪsā al-Warrāq)“ in Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 109 (1959) 82–91. Digitalisat
  • Martin J. McDermott: “Abū ʿĪsā al-Warrāq on the Dahriyya” in Mélanges de l’Université Saint-Joseph 50 (1984) 385–402.
  • Josef van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam. De Gruyter, Berlin-New York 1991–1997. Band IV (1997), S. 289–294. Band VI (1995), S. 430–33.
  • Josef van Ess: Der Eine und das Andere: Beobachtungen an islamischen häresiographischen Texten. De Gruyter, Berlin 2011. Band I, S. 167–179.
  • Wilferd Madelung: „Abū ʿĪsā al-Warrāq über die Bardesaniten, Marcioniten und Kantäer“, in Hans R. Roemer and Albrecht Noth (Hrsg.): Studien zur Geschichte und Kultur des Vorderen Orients. Festschrift für Bertold Spuler zum siebzigsten Geburtstag. Brill, Leiden 1981. S. 210–24.
  • David Thomas: “Abū ʿĪsā al-Warrāq and the history of religions” in Journal of Semitic Studies 41 (1996) 275–90.
  • David Thomas: Early Muslim polemic against Christianity, Abū ʿĪsā al-Warrāq’s “Against the Incarnation”, Cambridge 2002.
  • William Montgomery Watt: “Abū ʿĪsā al-Warrāq” in Encyclopaedia Iranica Bd. I, S. 325–326. Veröffentlicht 1983 Online-Version

Belege[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Abū Ḥaiyān at-Tauḥīdī: al-Imtāʿ wa-l-muʾānasa. Ed. Aḥmad Amīn, Aḥmad az-Zain. 3 Bände. Dār Maktabat al-ḥayāh, Beirut ohne Datum. Bd. III, S. 192. Digitalisat
  2. Al-Masʿūdī: Murūǧ aḏ-ḏahab wa-maʿādin al-ǧauhar. 1873, Bd. VII, S. 236.
  3. Ess: Der Eine und das Andere: Beobachtungen an islamischen häresiographischen Texten. 2010, S. 168.
  4. al-Ašʿarī: Kitāb Maqālāt al-islāmīyīn wa-ḫtilāf al-muṣallīn. 1929–1933, S. 33.
  5. a b c d e f David Thomas: Abū ʿĪsā l-Warrāq. In: Encyclopaedia of Islam THREE, Edited by: Kate Fleet, Gudrun Krämer, Denis Matringe, John Nawas, Devin J. Stewart. Veröffentlicht 2008, doi:10.1163/1573-3912_ei3_SIM_0290.
  6. a b c Ibn an-Nadīm (gest. 995): al-Fihrist. Ed. Riḍā Taǧaddud. 3. Aufl. Dār al-Masīra, Beirut, 1988. S. 216. Digitalisat
  7. a b c Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. 1995, Bd. VI, S. 431.
  8. Ess: Der Eine und das Andere. S. 171.
  9. Ess: Der Eine und das Andere: Beobachtungen an islamischen häresiographischen Texten. 2010, S. 170.
  10. Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. 1995, Bd. VI, S. 430f.
  11. Watt: “Abū ʿĪsā al-Warrāq”. 1938, S. 325.
  12. Ess: Der Eine und das Andere. S. 169.
  13. Watt: “Abū ʿĪsā al-Warrāq”. 1938, S. 325f.
  14. aš-Šahrastānī: al-Milal wa-n-niḥal. Ed. William Cureton. London 1846. Bd. I, S. 188. Digitalisat
  15. aš-Šarīf al-Murtaḍā: aš-Šāfī fī l-imāma. Ed. ʿAbd az-Zahrāʾ al-Ḫaṭīb und Fāḍil al-Ḥusainī al-Milānī: Tehran 1986–87. Bd. I, S. 89.
  16. ʿAbd al-Ǧabbār ibn Aḥmad: Taṯbīt dalāʾil an-nubūwa. Ed. ʿAbd al-Karīm ʿUṯmān. Dār al-ʿArabīya, Beirut 1966. S. 128f. Digitalisat
  17. Al-Masʿūdī: Murūǧ aḏ-ḏahab wa-maʿādin al-ǧauhar. Ediert und übersetzt von Barbier de Meynard et Pavet de Courteille. 9 Bde. Paris 1861–1877. Band VI, S. 57. Digitalisat
  18. al-Ašʿarī: Kitāb Maqālāt al-islāmīyīn wa-ḫtilāf al-muṣallīn. 1929–1933, S. 64.
  19. Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. 1997, Bd. IV, S. 293.