Afantasie

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Afantasie ist die Bezeichnung für das Phänomen eines fehlenden willentlichen bildlichen Vorstellungsvermögens, also für den Zustand, in dem keine mentalen Bilder visualisierbar sind.[1] Es wird jedoch diskutiert, ob sich der Begriff auf andere Sinnesmodalitäten (z. B. auditive Aphantasie) ausweiten lässt.[2]

Der Begriff Afantasie[3] (von griechisch α- a- [Verneinungspartikel] und φαντασία phantasía „Erscheinung“, „Vorstellung“, „Traumgesicht“, „Gespenst“) geht auf Adam Zeman von der Universität Exeter zurück.[4] Schätzungsweise sind ca. vier Prozent der Bevölkerung von Afantasie betroffen.[5]

Afantasie ähnelt anderen nicht sichtbaren Behinderungen, wie beispielsweise der Gesichtsblindheit, Alexie und Amusie.[6] Anders als diese wurde Afantasie jedoch bisher nicht mit Leidensdruck oder stärkeren Funktionsdefiziten in Verbindung gebracht, weswegen es als kognitive Normvariante eingestuft wird.[7]

Geschichte und Forschung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Phänomen wurde 1880 erstmals von Francis Galton beschrieben.[8] Galton beabsichtigte, „die verschiedenen Grade der Lebendigkeit zu definieren, mit denen verschiedene Personen die Fähigkeit haben, sich an vertraute Szenen unter der Form von geistigen Bildern zu erinnern“.[8] Zu diesem Zwecke bat er seine Kollegen, an ihren Frühstückstisch zu denken und die Lebhaftigkeit ihrer Eindrücke zu beschreiben. Er fand heraus, dass die Fähigkeiten dazu sehr unterschiedlich waren; einige Einzelpersonen konnten sich ein geistiges Bild absolut realistisch und detailliert vorstellen, während andere nur ein sehr schwaches oder überhaupt kein Bild sahen.[9]

2010 veröffentlichte Adam Zeman den Fall eines Mannes, der sein bildliches Vorstellungsvermögen nach einer Operation verloren hatte.[10] Danach wurde er von einer Reihe weiterer Personen angesprochen, die behaupteten, ihr gesamtes Leben lang nie diese Fähigkeit besessen zu haben.[11]

Im Jahr 2015 veröffentlichten Zeman und seine Kollegen das namensgebende Paper zur sogenannten angeborenen Afantasie.[4] Sie fanden unter anderem heraus, dass manche Menschen mit Afantasie in Bildern träumen können. Dies legt den Schluss nahe, dass nur das willentliche Vorstellungsvermögen betroffen ist.[4][12][13]

In Deutschland hat sich seit 2020 das Aphantasia Research Project Bonn unter Leitung von Merlin Monzel an der Universität Bonn etabliert. Dieses konnte unter anderem Auswirkungen von Afantasie auf Aufmerksamkeitsprozesse[14][15], das Gedächtnis[16], die Gesichtserkennung[17][18] und die emotionale Reaktivität auf verbale Reize feststellen.[19] Eine geringere emotionale Reaktivität auf verbale Reize zeigt sich zudem auch in physiologischen Parametern wie der Hautleitfähigkeit.[20]

Stand 2022 existieren mehrere Erklärungsmodelle für die Ursache von Afantasie. Eines geht von einer Kommunikationsstörung zwischen dem Frontallappen (vorderer Teil des Gehirns) zum Okzipitallappen (hinterer Teil des Gehirns) aus. Der Wille, sich etwas bildhaft vorzustellen, entsteht im Frontallappen, das vorgestellte Bild entsteht im Okzipitallappen. Eine andere Theorie vermutet eine Überaktivierung im Okzipitallappen, die andere Signale überdeckt. Das Signal aus dem Frontallappen ist in diesem Fall nicht ausreichend, um die Grundaktivierung zu übertönen. Afantasie kann zudem durch Operationen, Hirnverletzungen oder Traumata ausgelöst werden.[13]

Menschen mit Afantasie arbeiten eher in mathematisch-naturwissenschaftlichen und IT-Berufen. Sie haben ein stärkeres räumliches Vorstellungsvermögen, aber weniger Erinnerungen an ihre Lebensgeschichte und sind seltener synästhetisch.[21]

Weitere Studien zu Afantasie sind in Planung.[22][23][24]

In der Popkultur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im April 2016 veröffentlichte Blake Ross auf Facebook ein Essay, in dem er seine eigenen Erfahrungen mit Afantasie beschreibt sowie seine Erkenntnis, dass nicht jeder diese Erfahrungen teilt. Seine Darstellung erfuhr weite Verbreitung in den sozialen Medien.[25]

Die Protagonistin im 2017 erschienenen Roman All Things New von Lauren Miller ist eine junge Frau, die Afantasie nach einer traumatischen Hirnverletzung nach einem Autounfall bekam.[26]

Von der Onlinecommunity von Menschen mit Afantasie wurde der 18. August zum Aphantasia Awareness Day erklärt, in Erinnerung an Galton, der Afantasie 1880 erstmals beschrieben hatte.

2020 gab auch Bonnie Strange bekannt, dass sie von Afantasie betroffen ist.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Andrew J. Larner: A Dictionary of Neurological Signs. Fourth Edition Auflage. Springer, 2016, ISBN 978-3-319-29821-4 (englisch).
  2. Merlin Monzel, David Mitchell, Fiona Macpherson, Joel Pearson, Adam Zeman: Proposal for a consistent definition of aphantasia and hyperphantasia: A response to Lambert and Sibley (2022) and Simner and Dance (2022). In: Cortex. Band 152, Juli 2022, S. 74–76, doi:10.1016/j.cortex.2022.04.003 (elsevier.com [abgerufen am 24. August 2023]).
  3. James Gallagher: Aphantasia: A life without mental images. In: BBC News Online. 26. August 2015, abgerufen am 28. April 2017.
  4. a b c Adam Zeman, Michaela Dewar, Sertio Della Sala: Lives without imagery – Congenital aphantasia. In: Cortex. Nr. 73, 3. Juni 2015, ISSN 0010-9452, S. 378–380, doi:10.1016/j.cortex.2015.05.019, PMID 26115582 (online [abgerufen am 28. April 2017]).
  5. C.J. Dance, A. Ipser, J. Simner: The prevalence of aphantasia (imagery weakness) in the general population. In: Consciousness and Cognition. Band 97, Januar 2022, S. 103243, doi:10.1016/j.concog.2021.103243 (elsevier.com [abgerufen am 24. August 2023]).
  6. Louis Wolcher: The Ethics of Justice Without Illusions. 2016, ISBN 978-1-317-51834-1 (englisch).
  7. Merlin Monzel, Annabel Vetterlein, Martin Reuter: No general pathological significance of aphantasia: An evaluation based on criteria for mental disorders. In: Scandinavian Journal of Psychology. Band 64, Nr. 3, Juni 2023, ISSN 0036-5564, S. 314–324, doi:10.1111/sjop.12887 (wiley.com [abgerufen am 24. August 2023]).
  8. a b Francis Galton: Statistics of Mental Imagery. In: Oxford Journals. os-V, Nr. 19, 19. Juli 1880, S. 301–318, doi:10.1093/mind/os-V.19.301 (online [abgerufen am 28. April 2017]).
  9. Mo Costandi: If you can't imagine things, how can you learn? In: The Guardian. 4. Juni 2016 (online [abgerufen am 28. April 2017]).
  10. Adam Z.J. Zeman, Sergio Della Sala, Lorna A. Torrens, Viktoria-Eleni Gountouna, David J. McGonigle, Robert H. Logie: Loss of imagery phenomenology with intact visuo-spatial task performance: A case of ‘blind imagination’. In: Neuropsychologia. Band 48, Nr. 1, Januar 2010, S. 145–155, doi:10.1016/j.neuropsychologia.2009.08.024 (elsevier.com [abgerufen am 24. August 2023]).
  11. Adam Zeman, Sergio Della Sala, Lorna A. Torrens, Viktoria-Eleni Gountouna, David McGonigle, Robert H. Logie: Loss of imagery phenomenology with intact visuo-spatial task performance: A case of ‘blind imagination’. In: Neuropsychologia. Band 48, Nr. 1, 1. Januar 2010, S. 145–155, doi:10.1016/j.neuropsychologia.2009.08.024 (online [abgerufen am 28. April 2017]).
  12. Lara Faith Cronin: Aphantasia: Losing the mind’s eye. In: The Exeter Blog. 26. August 2015, abgerufen am 28. April 2017.
  13. a b Auf dem inneren Auge blind: Was ist Afantasie? Abgerufen am 9. Februar 2022 (deutsch).
  14. Merlin Monzel, Kristof Keidel, Martin Reuter: Imagine, and you will find – Lack of attentional guidance through visual imagery in aphantasics. In: Attention, Perception, & Psychophysics. Band 83, Nr. 6, August 2021, ISSN 1943-3921, S. 2486–2497, doi:10.3758/s13414-021-02307-z, PMID 33880710 (springer.com [abgerufen am 24. August 2023]).
  15. Merlin Monzel, Martin Reuter: Where’s Wanda? The influence of visual imagery vividness on visual search speed measured by means of hidden object pictures. In: Attention, Perception, & Psychophysics. 10. Januar 2023, ISSN 1943-3921, doi:10.3758/s13414-022-02645-6 (springer.com [abgerufen am 24. August 2023]).
  16. Merlin Monzel, Annabel Vetterlein, Martin Reuter: Memory deficits in aphantasics are not restricted to autobiographical memory – Perspectives from the Dual Coding Approach. In: Journal of Neuropsychology. Band 16, Nr. 2, Juni 2022, ISSN 1748-6645, S. 444–461, doi:10.1111/jnp.12265 (wiley.com [abgerufen am 24. August 2023]).
  17. Merlin Monzel, Annabel Vetterlein, Svea A. Hogeterp, Martin Reuter: No increased prevalence of prosopagnosia in aphantasia: Visual recognition deficits are small and not restricted to faces. In: Perception. 15. Juni 2023, ISSN 0301-0066, doi:10.1177/03010066231180712 (sagepub.com [abgerufen am 24. August 2023]).
  18. Merlin Monzel, Jennifer Handlogten, Martin Reuter: No Verbal Overshadowing in Aphantasia: The Role of Visual Imagery for the Verbal Overshadowing Effect. SSRN, 2023, doi:10.2139/ssrn.4442330 (ssrn.com [abgerufen am 24. August 2023]).
  19. Merlin Monzel, Kristof Keidel, Martin Reuter: Is it really empathy? The potentially confounding role of mental imagery in self-reports of empathy. In: Journal of Research in Personality. Band 103, April 2023, S. 104354, doi:10.1016/j.jrp.2023.104354 (elsevier.com [abgerufen am 24. August 2023]).
  20. Marcus Wicken, Rebecca Keogh, Joel Pearson: The critical role of mental imagery in human emotion: insights from fear-based imagery and aphantasia. In: Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences. Band 288, Nr. 1946, 10. März 2021, ISSN 0962-8452, S. 20210267, doi:10.1098/rspb.2021.0267, PMID 33715433 (royalsocietypublishing.org [abgerufen am 24. August 2023]).
  21. Adam Zeman: Aphantasia and hyperphantasia: exploring imagery vividness extremes. In: Trends in Cognitive Sciences. Band 28, 27. März 2024, ISSN 1366-2562, doi:10.1016/j.tics.2024.02.007 (royalsocietypublishing.org [abgerufen am 4. April 2024]).
  22. Carl Zimmer: Picture This? Some Just Can’t. In: The New York Times. Abgerufen am 28. April 2017.
  23. Dustin Grinnell: My mind’s eye is blind – so what’s going on in my brain? In: New Scientist. Nr. 2070, 20. April 2016 (online [abgerufen am 28. April 2017]).
  24. Merlin Monzel, Thomas Agren, Matthias Tengler, Martin Reuter: Imaginal extinction without imagery: Dissociating the effects of visual imagery and propositional thought by contrasting participants with aphantasia, simulated aphantasia, and controls. In: Psychophysiology. Band 60, Nr. 9, September 2023, ISSN 0048-5772, doi:10.1111/psyp.14271 (wiley.com).
  25. Blake Ross: Aphantasia: How it feels to be blind in your mind. In: Facebook Essay. 22. April 2016, abgerufen am 28. April 2017.
  26. Eliz Aquino: Review: All Things New, Lauren Miller. 19. März 2017, abgerufen am 18. April 2017.