Benutzer:Chef/Mehr Demokratie?

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Immer wieder kommen Forderungen nach Mehr Demokratie in der Wikipedia auf; diverse Nutzer, die sich als Vorkämpfer dieses Prinzips sahen, sorgten für Aufregung. Auch wenn es in dieser Frage zur Zeit ruhiger geworden ist, bleibt sie interessant und wird die Wikipedia sicherlich auch in Zukunft wieder beschäftigen.

Diskussionen dazu (oder generell zum Thema Machtstruktur der Wikipedia) sind in der Vergangenheit leider oft ausgeartet und führten letztlich zu Beleidigungen, teilweise Sperrungen oder freiwilligem Verlassen der Wikipedia. Ich möchte daher hier einige Überlegungen anstellen, die m.E. in bisherigen Diskussionen zu kurz gekommen oder nur verstreut aufgetreten sind. Ziel ist es, zukünftige Diskussionen zu versachlichen.. Die „offizielle“ Darstellung findet sich auf Wikipedia:Machtstruktur. Sie ist für das Thema lesenswert, ich beziehe mich aber nicht direkt darauf.

Ich behaupte:

  • These 1: Die Forderung nach „mehr Demokratie“ ist verkürzt und kann verschiedenes bedeuten.
  • These 2: Gängige politische, philosophische und staatstheoretische Vorstellungen sind nicht einfach auf die Wikipedia übertragbar.
  • These 3: Das gängige Argument, Demokratie „ginge nicht“, ist mißverständlich. Es handelt sich um eine Abwägungsfrage.
  • These 4: Eine Entscheidung in dieser Abwägungsfrage für „mehr Demokratie“ kann in Wirklichkeit die Einführung von Herrschaft bedeuten, wo vorher keine war. „Mehr Demokratie“ ist nicht etwa technisch nicht machbar, sondern abzulehnen, weil sie höheren Prinzipien der Wikipedia widerspricht.

Überlegung 1: Was meint „Demokratie“?[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Demokratie ist ursprünglich eine Form der Herrschaft bzw. der Legitimation von Macht. Es ist üblich geworden, unter dem modernen Demokratiebegriff auch Dinge zu fassen, die ursprünglich nicht dorthin gehören; dies ist am Anfang des Artikels Demokratie angesprochen. Für die folgenden Überlegungen möchte ich daher zwei Begriffe trennen:

  1. Unter Demokratie verstehe ich im folgenden eine Legitimation von Herrschaft dadurch, daß sie gemäß den demokratischen Prinzipien, das heißt nach souveräner Mehrheitsentscheidung unter Wahlgleichheit, zustande gekommen ist. Vertreter davon nenne ich Demokraten.
  2. Andere Dinge, die heute unter Demokratie mitgedacht werden, aber ursprünglich nicht dazugehören, bezeichne ich als Rechtsstaatlichkeit. Das sind insbesondere individuelle Freiheitsrechte. Ihre Vertreter nenne ich Rechtsstaatler.

Diese Trennung setze ich also voraus.¹ Ich halte die Trennung für wichtig, weil wir hier zwei Prinzipien haben, die unabhängig voneinander sind; beide können auch ohne das jeweils andere durchgesetzt werden. Daher ist die bloße Forderung nach „mehr Demokratie“ grob mißverständlich und kann dazu führen, daß in Diskussionen aneinander vorbeigeredet wird. Wenn jemand „mehr Demokratie“ fordert, ist er also zu fragen, welchen der beiden genannten Punkte er meint (er kann natürlich auch beide meinen, aber auch dann sollten sie der Klarheit halber getrennt diskutiert werden). Soweit ich es beobachtet habe, wurden beide Stränge schon in Diskussionen verfolgt, aber leider ohne Trennung. Machen wir es also besser und verfolgen wir nun beide Stränge für sich weiter:

  1. Ziel des Demokraten ist es, daß Macht nur dann legitimiert ist, wenn sie durch die demokratischen Prinzipien zustande gekommen ist.
  2. Ziel des Rechtsstaatlers ist es, Macht im Sinne von Zwang überhaupt soweit wie möglich zu begrenzen, gleich wie sie zustande gekommen ist.

Auch hier ist klar erkennbar, daß die Ziele zwar grundsätzlich vereinbar, aber völlig unabhängig voneinander sind. Jedes kann für sich oder beide zugleich verfolgt werden. Allerdings hängen beide eng mit dem Begriff „Macht“ oder „Herrschaft“ zusammen. Von ihm soll die zweite Überlegung ausgehen.

¹ Ich stehe damit in der Tradition des Liberalismus. Ich vermeide für „Rechtsstaatler“ den heute politisch emotionalisierten Begriff „Liberale“, auch wenn er m.E. passen würde.

Überlegung 2: Worum geht es in der Wikipedia?[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bei der Übertragung obigen Gedankengangs auf die Wikipedia ist zunächst festzustellen, inwieweit die angewandten Begriffe überhaupt übertragbar sind. Hierbei wird man feststellen, daß es Herrschaft im politischen Sinne in der Wikipedia nicht gibt: Physischer Zwang kann in der Wikipedia überhaupt nicht ausgeübt werden. Auch psychischer Zwang stößt an Grenzen:

  • niemand ist gezwungen, an der Wikipedia teilzunehmen, und jedermann kann sie jederzeit verlassen;
  • selbst wer an der Wikipedia teilnimmt, tut dies oft anonym oder unter einem Pseudonym;
  • aufgrund der Versionsgeschichten ist die Wikipedia vollständig transparent; jeder Vorgang kann von jedem Benutzer exakt nachverfolgt werden.

Dies alles schränkt die Existenz von Herrschaft / Macht überhaupt erheblich ein. Oft liest man dieses Argument verkürzt als: „Wikipedia ist kein Staat.

Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in begrenztem Rahmen natürlich Strukturen von Herrschaft gibt, die immer dann greifen, wenn eine Entscheidung nicht im Konsens getroffen werden kann. Im wesentlichen sind dies die Vorgänge

  1. Meinungsbilder, Löschkandidaten und Qualitätsdiskussionen
  2. Benutzersperrung
  3. Wahl, Abwahl und Tätigkeit von Administratoren

Daß diese Vorgänge grundsätzlich nötig sind, um das primäre Ziel der Wikipedia - eine Enzyklopädie zu sein - zu erreichen, ist offenbar Konsens. Im wesentlichen ist für die Wikipedia nur der erste Punkt interessant. Der zweite und dritte sorgen aber für mehr Aufregung, heiße Diskussionen und böses Blut, weil dort um Personen gestritten wird. Die Diskussion wird oft an Punkt 2 und 3 aufgehängt, was nachteilig ist, weil sie sich dann immer im Umfeld eines konkreten Falls ergibt; dieser hat aber mit der generellen Frage im Grunde nichts zu tun, wodurch die Diskussion meist schnell konfus wird.

Im ersten Punkt wird insofern Herrschaft ausgeübt, als in einer Sachfrage eine Richtlinie aufgestellt wird. Es wird allerdings mehrfach explizit klargestellt, daß eine solche Richtlinie in ihrer Wirkung beschränkt ist; vgl. Wikipedia:Ignoriere alle Regeln (Anmerkung: Der Titel dieser Seite ist mißverständlich, sie ist keinerlei Freibrief. Bitte die Seite und das folgende lesen, um zu verstehen, was gemeint ist.) Auch die Wikipedia:Meinungsbilder-Seite selbst sagt:

Ziel eines Meinungsbilds in Wikipedia ist es, eine möglichst viele Benutzer zufriedenstellende, praktikable Richtlinie zu finden. Danach bemisst sich auch die Gültigkeit eines Meinungsbildes: Eine Richtlinie, über die gerade mal sechs Leute abgestimmt und vier sich dafür ausgesprochen haben, hat einen völlig anderen Stellenwert als eine möglicherweise nicht einmal niedergeschriebene Konvention, über die sich aber die breite Mehrzahl der Wikipedianer einig ist.

Ähnliches gilt für Löschkandidaten und Qualitätsbewertungen.

Den zweiten Punkt, Wikipedia:Benutzersperrung, empfindet natürlich vor allem der Betroffene als Ausübung von Herrschaft, und es dürfte in der Tat der Punkt sein, wo in der Wikipedia am stärksten Macht spürbar wird.

Wikipedia:Administratoren üben in folgenden Punkten Herrschaft aus: Sie können a) Seiten sperren und freigeben, b) Seiten löschen und c) Benutzer sperren.² Punkt b) und c) unterliegen dabei allerdings Regeln, die Admins ausdrücklich keine Sonderrechte geben, und fallen unter vorherige Punkte. Admins sind hier nur ausführendes Organ, die eigentliche Macht liegt nicht bei ihnen (vergleiche unten: Gewaltenteilung). Die einzigen Punkte, wo Admins tatsächlich souverän Macht ausüben, sind Seitensperrungen und –freigaben sowie Vandalensperrung. In diesen Fällen ist ihre Herrschaft „nur“ durch die allgemeinen Beschränkungen (Wikipedia ist kein Staat, s.o.) eingeschränkt, die allerdings in diesen Fällen besonders effektiv sind. Es bleibt aber festzuhalten, daß Admins durchaus über Herrschaft verfügen.

² Daneben verfügen sie über die „Rollback-Taste“, die keinerlei zusätzliche Macht bringt, sondern eine Arbeitserleichterung ist. Es wäre evtl. sinnvoll, diese Funktion aus dem Admin-Paket herauszunehmen und auch anderen Nutzern zugänglich zu machen.

Überlegung 3: Was heißt das nun?[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Aus Sicht des Rechtsstaatlers[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Aus Sicht eines „Rechtsstaatlers“ ist die Wikipedia schon einmal positiv zu bewerten: sie ist ein vergleichsweise herrschaftsfreier Ort, genauer gesagt werden

  1. Meinungsbilder beschränkt, s.o.
  2. Benutzersperrungen durch ein Regelwerk, darunter der Zwang zu vorheriger Vermittlung, beschränkt
  3. Administratorenwahlen durch ein Regelwerk beschränkt

und alle Punkte durch das generelle Kein-Staat-Argument beschränkt.

Ein „Rechtsstaatler“ müßte mit der Wikipedia gemessen an seinem Ziel „wenig Herrschaft“ also recht zufrieden sein.

Aus Sicht des Demokraten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wie sieht es nun mit einem „Demokraten“ und seinem Ziel „wenn Herrschaft, dann demokratisch“ aus?

Das gängige Argument: Es geht nicht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einige sehr anschauliche Argumente zu diesem Punkt hat Benutzer:Tsor hier zusammengestellt. Er kommt zu dem Schluß:

  • Nein, mit ihrer offenen Struktur kann Wikipedia keine Demokratie sein. Demokratische Wahlen/Abstimmungen/Meinungsbilder sind nicht möglich.

Ähnlich heißt es auf Wikipedia:Machtstruktur:

  • Man sollte sich stets bewusst sein, dass mit der offenen Struktur von Wikipedia eine Demokratie im Sinne der Repräsentativen Demokratie nicht möglich ist.

Das Argument lautet also:

Demokratie ist mit der offenen Struktur (d.h. des Prinzips, daß Benutzer sowohl anonym bleiben als auch Doppelaccounts anlegen können) der W nicht vereinbar. (1)
Die offene Struktur darf nicht abgeschafft werden. (2)
Demokratie ist in der Wikipedia nicht möglich. (Schluß aus 1 und 2)

Die Schlußfolgerung aus den Prämissen ist offenbar korrekt. Zu untersuchen bleiben die Prämissen.

Zu (1): Dies ist eine Tatsachenfeststellung, die wahr, falsch oder ungenau sein kann. Die Argumente auf den o.g. Seiten sind dabei recht einleuchtend, jedenfalls ist mir keine Widerlegung bekannt. Bei genauerem Hinsehen ergibt sich allerdings, daß sie zu pauschal ist: Nicht Demokratie überhaupt, sondern ein (wenn auch bedeutendes) Element von Demokratie ist mit der offenen Struktur unvereinbar.
So schränkt Tsor seine Argumentation auf die Veranstaltung von Wahlen ein, die „ein wesentliches“ Element der Demokratie seien. Dasjenige demokratische Prinzip, das hier nicht durchgesetzt werden kann, ist das Gleichheitsprinzip. Die anderen Prinzipien könnten sehr wohl funktionieren. Es ist - gegen das Volkssouveränitätsprinzip - gefragt worden, ob man bei den Benutzern von einem „Volk“ sprechen kann. Das kommt natürlich darauf an, wie man „Volk“ definiert, es gibt hier viele verschiedene Ansätze. Ich sehe aber keine große Schwierigkeiten, unter einem „Nutzersouveränitätsprinzip“ einfach zu verstehen, dass die Nutzer über Fragen entscheiden, was möglich ist. Dass die Nutzer wechseln und es nicht die mythische „Nutzergemeinschaft“ gibt, widerspricht dem nicht, denn auch moderne Staatsvolksdefinitionen erlauben Veränderungen - nicht nur durch Geburten und Todesfälle, die schon immer da waren, sondern auch durch freiwilligen Erwerb bzw. Verlust der Staatsangehörigkeit.
Die Seite Machtstruktur behandelt hier ausdrücklich die repräsentative Demokratie, das heißt implizit scheint auch hier auf die Unmöglichkeit von Abstimmungen und Wahlen aus obigem Grund abgezielt zu werden.
Zu (2): Dies ist eine normative Aussage. Sie entspringt einem der Grundprinzipien der Wikipedia (man könnte argumentieren, daß sie schon im Titel freie Enzyklopädie impliziert ist).

In meiner Terminologie sagt (1), daß in einem bestimmten Punkt eine „demokratische“ und eine „rechtsstaatliche“ Forderung unvereinbar sind. (2) gibt dann der rechtsstaatlichen Position den Vorzug.

Aber manchmal geht es doch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Tatsache ist aber: Sowohl Adminwahlen als auch Benutzersperrungen laufen explizit nach demokratischem Verfahren, nämlich nach qualifizierter Mehrheit. Warum funktioniert dies trotz obigen Einwänden? Weil sich aus einigen Diskussionen inzwischen eine klare und im Konsens getragene Regel zur Wikipedia:Stimmberechtigung gefunden hat, die die oben aufgezeigten Probleme zumindest beschränken soll. Mit absoluter Sicherheit beseitigen kann sie sie nicht; aber bisher scheint sie recht erfolgreich zu sein. Man kann nie ganz sicher sein, ob sich hinter mehreren Accounts nicht doch nur eine Person verbirgt, die ihre Mehrfachaccounts zu Manipulationen mißbraucht; aber übertriebene Paranoia sollte man auch vermeiden. Mißbräuchliche Mehrfachaacounts sind in der Vergangenheit v.a. wegen der Offenheit des Systems (und / oder eigener Dummheit) aufgeflogen.

Was geschieht da?[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In diesen Punkten wird, anders als von Benutzer:Tsor und der offiziellen Darstellung vorausgesetzt, ein Grundprinzip der Wikipedia teilweise ausgesetzt. Das Grundproblem ist:

Wikipedia ist eine freie Enzyklopädie, keine enzyklopädische Freiheitsbewegung, d.h.

  • Primärziel: Enzyklopädie
  • Sekundärziel: Freiheit, darunter auch die Freiheit eines Benutzers, Inhalte zu ändern Dieser Punkt ist strittig, vgl. Diskussion
  • Das Primärziel erfordert Herrschaft (Schutz, Freigabe und Löschen von Seiten, Benutzersperrung).
  • Das Sekundärziel sagt hier: nur durch das Primärziel begründete Herrschaft kann legitim sein.

Die Existenz der Herrschaftsfunktionen

  1. Meinungsbilder, Löschkandidaten und Qualitätsdiskussionen
  2. Benutzersperrung
  3. Wahl, Abwahl und Tätigkeit von Administratoren

sind offenbar die einzigen Formen von Herrschaft, die derzeit im Konsens anerkannt werden. Hierfür kann das Sekundärziel soweit ausgesetzt werden, wie dies nötig ist (und nicht mehr). Genau dies tut die Wikipedia:Stimmberechtigung für die letzten beiden Fälle. Im ersten Fall wird dies derzeit offenbar nicht für nötig gehalten (und es funktioniert halbwegs).

noch einmal: Sicht des Demokraten und des Rechtsstaatlers[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Rechtsstaatler freut sich nicht über die Herrschaft, die in Punkt 2 und 3 ausgeübt wird; aber aufgrund des Primärziels erkennt er sie an. Glücklich ist aber der Demokrat (evtl. dieselbe Person): die Herrschaft, die der Rechtsstaatler widerwillig zuläßt, wird wenigstens demokratisch bestimmt.

„Mehr Demokratie“?[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

An denjenigen, der „mehr Demokratie“ fordert, ist also die Frage zu stellen: was meinst du?

Willst du anzweifeln, daß eine der Herrschaftsfunktionen (s.o.) überhaupt nötig ist? Oder zumindest, daß für die zweite oder dritte Herrschaftsfunktion eine Einschränkung der Freiheit (Stimmberechtigung) nötig ist? Findest Du, daß hierfür ein Verfahren ähnlich denen bei der ersten Herrschaftsfunktion ausreichen würde? (Rechtsstaatler)

oder

Findest du umgekehrt, daß auch im ersten Punkt oder sogar in weiteren Bereichen ein Verfahren wie in Punkt 2 und 3 nötig ist? (Demokrat)

Beide Forderungen sind natürlich diskutabel. (Der Autor teilt sie derzeit nicht.) Man sollte sich allerdings dessen bewußt sein, daß die zweite Forderung den „Rechtsstaats“-Gedanken zugunsten des „Demokratie“-Gedankens zurückdrängt und damit tendenziell einem Grundprinzip der Wikipedia entgegensteht. Unter dem Begriff der „Demokratisierung“ wird hier in Wirklichkeit die Einführung von Herrschaft in einen zuvor herrschaftsfreien Raum gefordert.

Nachtrag: Zur „Gewaltenteilung“[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • These 1: Gewaltenteilung ist in der Wikipedia nicht so notwendig wie z.B. in einem Staat.
  • These 2: Dort, wo in der Wikipedia „Gewalt“ ausgeübt wird, gibt es bereits Züge einer Gewaltenteilung.
  • These 3: Einige Forderungen, die nach „mehr Gewaltenteilung“ aussehen, führen in Wirklichkeit zur Schaffung von Gewalt, wo vorher keine war.

Gefordert wurde im Zusammenhang obiger Diskussionen auch oft mehr Gewaltenteilung. Diese Forderung ist nach obiger Terminologie nicht originär demokratisch, sondern rechtsstaatlich. Das Thema wird oben in Überlegung 2 angeschnitten, hier möchte ich es noch einmal explizit aufgreifen.

Gewaltenteilung soll in einem Staatswesen Herrschaft beschränken und kontrollieren. Wie oben dargelegt, gibt es in der Wikipedia deutlich weniger Machtstrukturen als in einem Staat; daher ist es schon fragwürdig, ob Gewaltenteilung in dem Maße notwendig ist.

Zweitens stellt man bei Durchsicht der ganz oben beschriebenen Herrschaftsfunktionen fest, daß es bereits so etwas wie Gewaltenteilung gibt. Löschungen von Artikeln werden beschlossen in einer Diskussion, an der jeder Nutzer teilnehmen kann. Durchgeführt werden sie von einem Admin, oft einem, der an der Diskussion gar nicht beteiligt war (wobei Admins bei unklaren Mehrheiten eine Art Prüfungsrecht in Anspruch nehmen; aber gerade diese ihre Macht ist erheblich dadurch beschränkt, daß ihre Entscheidung für jedermann transparent ist, sie können also schwer Unsinn machen). Benutzersperrung und Adminwahlen laufen nach recht festen Regularien, so daß der durchführende Admin gar keine Ermessensentscheidung trifft und damit kaum Macht hat. Adminwahlen werden von Nutzern durchgeführt, das Ergebnis stellt ein Bürokrat fest und setzt es durch - ebenfalls in Übereinstimmung mit Regularien und unter ständiger Beobachtung durch die Nutzergemeinschaft.

Drittens stellt sich die Frage nach der Machbarkeit; insbesondere die Einführung einer Art Judikative wurde vor einiger Zeit abgelehnt (s. Wikipedia:Schiedsgericht, wichtige Einwände auf der zugehörigen Diskussionsseite hier, hier und hier). Ein Problem scheint mir zu sein, daß immer wieder Leute glauben: Dinge, die in der Realität funktionieren, funktionieren auch in der Wikipedia. Es ist aber im konkreten Fall so, daß eine Judikative

  • entweder nicht funktioniert, weil sie in einem offenen System Entscheidungen nicht durchsetzen kann
  • oder funktioniert, aber unter der Bedingung, daß Elemente der Offenheit eingeschränkt werden. Z.B. ein Gericht, das verbindliche Entscheidungen treffen und durchsetzen kann, halte ich für unmöglich, solange die offene Struktur nicht eingeschränkt wird.

Auch hier gilt also: Die offene Struktur ist die beste Garantie dafür, daß Herrschaft in der Wikipedia beschränkt wird. Zum Ziele der „Gewaltenteilung“ neue „Gewalten“ einzuführen oder bestehende zu verstärken, ist zu kurz gedacht und nicht zielführend.