Benutzer:Neitram/Gotische Kursive

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Codex in gotischer Kursive (ca. 1437)

Gotische Kursive oder Gotische Buchkursive bezeichnet in der Paläografie als Sammelbegriff gebrochene Kursivschriften aus der spätmittelalterlichen Epoche der Gotik. Sie wurden sowohl als Gebrauchsschriften als auch als Buchschriften verwendet und stellen die ältesten Vertreter der gebrochenen oder „spitzen“ Kursiven dar.[1]

Im Englischen wird die Schriftgruppe als gothic cursive, auf Lateinisch als cursiva bezeichnet, gelegentlich finden sich die Bezeichnungen cursiva gotica und gotica cursiva.

Eigenschaften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die gotische Kursive ließ sich deutlich schneller als die damals üblichen gebrochenen Buchschriften, etwa die Textura, schreiben. Sie besitzt eine große Formenvielfalt, innerhalb der sich bisher keine einheitliche Systematik und Terminologie durchgesetzt hat. Einzelne Regionen, Zentren und Schreiber haben deutliche Besonderheiten, es gibt aber auch fließende Übergänge zwischen diesen, was eine Systematik erschwert.

Ursprung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Wurzeln der gotischen Kursive liegen stark im Dunkeln. Ihr Aufkommen wird meistens auf das Ende des 13. Jahrhunderts[2] oder das 14. Jahrhundert[3] datiert. Früheste Formen dieser Kursive könnten möglicherweise bereits im 9. Jahrhundert entstanden sein, dies ist jedoch nur spekulativ.[2] Solchen frühen Ursprungshypothesen nach könnte die Schrift zunächst zum Schreiben routinemäßiger Aufzeichnungen auf Wachstafeln verwendet worden und im 11. Jahrhundert auch in Bücher eingedrungen sein.[4][2]

Als mögliche Vorläuferinnen gelten die karolingische Minuskel, deren Urkundenvariante Carolina diplomatica, die gotische Minuskel (textualis)[5], sowie die Notizschrift Notula.[5][2] Auch ein Einfluss von Kanzleischriften scheint in manchen Aspekten spürbar.[2] In jedem Fall entstand die Schrift aus dem Prozess der Wandlung einer Minuskel in eine Kursive, vermutlich vorranging aus dem Bedürfnis, schneller schreiben zu können. Hinzu kommen wahrscheinlich modebedingte Veränderungen mancher Buchstabenformen.[2] Es gilt als allgemein anerkannt, dass die gotische Kursive nicht an einem Ort entstand, sondern dass die Kursivierung der Schrift an verschiedenen Orten unabhängig eingesetzt hat.[2]

Vorgeschlagene Einteilungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Formen nach Lieftinck[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gerard Isaac Lieftinck unterteilte 1953 beim ersten internationalen Colloquium lateinischer Paläographie in Paris [6] die gotische Kursive nach ihrem Sorgfältigkeitsgrad in drei Stile:

  1. (Littera) cursiva formata, die leserlichste und kalligrafischste Form,
  2. (Littera) cursiva textualis, auch (littera) cursiva libraria, die häufigste Form, die zum Schreiben gewöhnlicher Bücher verwendet wurde; hierbei wurde meist eine größere Schreibfeder verwendet, wodurch die Buchstaben größer sind,
  3. (Littera) cursiva currens, der niedrigste Sorgfältigkeitsgrad, für „eilige, wenig sorgfältige“ Schriften.

Die Lieftincksche Nomenklatur wurde allerdings teilweise heftiger Kritik ausgesetzt, was sowohl seine Einteilung als auch die von ihm verwendeten Begriffe betrifft.[7]

Ältere und jüngere gotische Kursive[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einige Autoren unterscheiden zwischen einer älteren und einer jüngeren (Form der) gotischen Kursive.[8][9] Die jüngere Form hebt sich im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts von der älteren Form ab und wird schließlich ihrerseits von der Bastarda abgelöst.[10]

Nach Karin Schneider (1977) sind Charakteristika der älteren Form:[10]

  • das oft über die Mittellinie erhöhte zweistöckige a
  • das kurze, gern 8-förmige g, dessen geschlossene Schleife nur eine geringe Unterlänge hat
  • häufig dreieckig geformte und mitunter verdickte Schleifen in den Oberlängen

und Charakteristika der jüngeren Form:[10]

  • eine generelle Vereinfachung und Beschleunigung der Schrift
  • das einstöckige a (ɑ)
  • der offene Bogen des g
  • Schleifen an den Buchstaben v und w

Nachfolger[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Alphabet einer Bastarda

Die Nachfolgerin Bastarda, die manchmal auch Hybrida genannt wird, ist weniger kursiv und steht in ihren Formen „zwitterhaft“ zwischen der gotischen Kursive und der Textura. Der Übergang zur Gruppe der Bastarden scheint fließend, manche Autoren unterscheiden deshalb nicht genauer zwischen der gotischen Kursive und den Bastarden.

Aus der jüngeren gotischen Kursive bzw. der Bastarda entstand später die deutsche Kurrentschrift.

Auch die Satzschrift Schwabacher soll auf eine gotische Kursive des 15. Jahrhunderts zurückgehen.[11][5]

Schriftbeispiel der Civilité

Aus einer französischen gotischen Kursive soll die runde französische Schreibschrift Ronde entstanden sein. Außerdem soll 1557 aus einer formalen französischen Renaissance-Variante der gotischen Kursive die Satzschrift Civilité hervorgegangen sein.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Wolfgang Hendlmeier: Gebrochene Kursiven und Gebrochene Schrägschriften. Abgerufen am 18. November 2021. (PDF)
  2. a b c d e f g Pavel Spunar: Zum Aufkommen der gotischen Kursive im Mitteleuropa. In: Scriptorium. Band 54, Nr. 1, 2000, S. 14–19, doi:10.3406/scrip.2000.1901 (persee.fr).
  3. Peter Zahn: Neue Studien zur Buch- und Geschäftsschrift des Mittelalters und der frühen Neuzeit. (German). In: Bibliothek Forschung und Praxis. Band 19, Nr. 3, 1995, S. 434–435 (oclc.org).
  4. Ljudmila Ilʹinična Kiseleva: Gotičeskij kursiv XIII - XV vv. Nauka, 1974 (books.google.com).
  5. a b c Friedrich Jaeger: Enzyklopädie der Neuzeit: Band 11: Renaissance–Signatur. Springer-Verlag, 2017, ISBN 978-3-476-00060-6, S. 870 (books.google.com).
  6. G. J. Lieftinck: Pour une nomenclature de l'écriture livresque de la periode dite gothique. In: Nomenclature des écritures livresques du IXe au XVIe siècle. Centre national de la Recherche scientifique, Paris 1974, ISBN 978-90-04-03999-5, S. 15–32.
  7. J. P. Gumbert: Die Utrechter Kartäuser und ihre Bücher im frühen fünfzehnten Jahrhundert: Mit Textfiguren u. 165 Abb. Brill Archive, 1974, ISBN 978-90-04-03999-5, S. 207 (books.google.com).
  8. Michael Elmentaler: Historische Graphematik des Deutschen: Eine Einführung. Narr Francke Attempto Verlag, 2018, ISBN 978-3-8233-7927-0, S. 65 (books.google.de).
  9. Herrad Spilling: Die Handschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. 2° Cod 1 - 100. Otto Harrassowitz Verlag, 1978, ISBN 978-3-447-01992-7, S. xv (books.google.com).
  10. a b c Herrad Spilling: Die Handschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. 2° Cod 1 - 100. Otto Harrassowitz Verlag, 1978, ISBN 978-3-447-01992-7, S. xvi (books.google.com).
  11. Fritz Funke: Buchkunde: Ein Überblick über die Geschichte des Buches. Walter de Gruyter & Co KG, 2012, ISBN 978-3-11-094929-2, S. 39 (books.google.com).