Benutzer Diskussion:Sonnenblumen/Communitas/Archiv

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Letzter Kommentar: vor 13 Jahren von Hardenacke in Abschnitt "Outside"
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Auf nach Lothringen!

Hallo Sonnenblumen, bei der Gelegenheit kann ich ja gleich mehrere Sachen ansprechen:

1. Deine Communitasseite habe ich gestern beim Stöbern entdeckt und gesehen, dass ich drauf Platz gefunden habe, noch bevor du dich an mich gewendet hast. Das macht mich doch sehr neugierig, wie du auf mich gestoßen bist.

2. Du nennst auf deiner Benutzerseite den Artikel "Projektive Identifikation" verbesserungsfähig, ich bin deiner Meinung. Die Crux ist doch, dass bei der projektiven Identifikation nicht nur, oder nicht einmal in erster Linie der, von dem sie ausgeht, den Adressaten der Identifikation als Teil seiner selbst empfindet, wie es im Artikel derzeit heißt - sondern dass der Adressat selbst die auf ihn übertragenen Gefühle empfindet und damit identifiziert ist. Und damit wird die Abgrenzung zur Gegenübertragung zum Problem. Ich habe gerade ein Problem mit dem Zugang zu meiner ganzen Literatur, deshalb schreibe ich das nur als Anregung und ganz unbelegt hier herein.

3. Was hast du gegen Bion? Ich finde ihn, gerade mit seinem Kantianismus, sehr sehr klärend und hilfreich. Der Artikel über ihn war überhaupt das erste Desiderat auf psychoanalytischem Gebiet, das ich in der deutschsprachigen Wikipedia unbedingt beheben wollte. Nun gut, ich habe von seinen "Transformationen" nicht allzu viel behalten ... Dafür sind β-Elemente und Containing mein tägliches Brot.

4. Ich wollte nicht mit psychoanalytischen Begriffen über die Geltung religiöser Ideen entscheiden. In meinem letzten Kenosis-Diskussionsbeitrag war da für mich eine klare Trennlinie zwischen dem ersten und dem zweiten Teil. Im zweiten kommt freilich noch der Begriff Projektion vor - aber nur aufgrund der Tatsache, dass ich mich auf eine Szene im Leben Jesu beziehe, die im Garten Gethsemane, bei der niemand zugegen war, und man kann sich auch schlecht vorstellen, dass Jesus selbst später noch davon erzählt hat. Meine Kritik an dieser Stelle ist aber nicht eigentlich psychoanalytisch. Sie verdankt sich zum einen den Anregungen Pascals (der, das muss ich zugeben, freilich mit Didier Anzieu gelesen, mit einem Kapitel seines Buches "Le corps de l'oeuvre"), zum anderen sind es einfach meine unbedarften Gedanken über die christliche Lehre vom Sinn des Kreuzestodes als Voraussetzung für die Erlösung der Menschen.

5. Jesus ist ein Symbol, und man kann an seiner historischen Realität zweifeln. Trotzdem würde ich sagen, dass er auf jeden Fall auch im Lacanschen Sinn real war / ist, es bleibt da bei aller Symbolisierung immer ein Rest.

Einen Gruß -- Ankallim 01:48, 2. Apr. 2008 (CEST)

Auf nach Lothringen. Ich beschränke mich für heute nacht auf Punkte 1 bis 3. 1) Wie ich auf Dich aufmerksam geworden bin, weiß ich nicht mehr, möglicherweise irgendwie über Psychoanalyse - könnte auch eine Diskussionseite gewesen sein. 2) Hab mir den Artikel nach längerer Zeit mal wieder angeschaut. Erstmal sollte auch klargestellt werden, dass das Konzept auch viel mehr außerhalb der Praxis und Übertragungs-Gegenübertragungssituation Anwendung findet. Gegenübertragung ist zwar vom Phänomen/Wirkungsweise her wohl ähnlich, aber wird doch seltener zur Beschreibung von Beziehungen verwendet. (Und normalerweise/idealerweise nicht agiert, während der projektiv Identifizierte ja in ein Handeln hineinmanövriert werden soll (und i.d.R. wird). Gegenübertragung ist auch in der Hinsicht noch weiter, dass man beim Übertragenden nicht so diesen Willen unterstellen muß, daß der andere dies-oder-das fühlt, Gegenübertragung hat m.W. doch auch recht verschiedene Konzeptionen; z.B. das unbewußte Gegenstück zu einer "gleichgültigen" Rede des Analysanden - das beim Analytiker eine Erinnerung an einen Sommertag oder eine erotische Phantasie aufsteigen läßt, ist ja keine P.I. Irgendwo las ich diese Unterscheidung innerhalb des Begriffs der P.I., die ich sehr sinnvoll finde, vermutlich im Kleinianischen Lexikon? P.I. als Abwehrmechanismus (Kommunikation zu verhindern) versus P.I. als quasi "einzig noch möglicher" Beziehungsversuch bzw. Kommunikationsversuch. 3) Ich habe nichts gegen Bion, interessiert mich auch weiterhin, beta-elemente und container kommt mir brauchbar vor (wird ja auch häufig angeführt), aber seine Kantbezüge stimmen einfach nicht, sie sind nicht mal richtig zitiert und "Ding an sich" ist bei Kant nun mal ganz was anderes. Ich müßte nachschlagen, um es genauer zu sagen, Lernen durch Erfahrung und Elemente... aber ich meine, er vergleicht sogar die beta-elemente mit den Dingen an sich, das geht überhaupt nicht - die Transformationen habe ich noch gar nicht gelesen, aber schonmal gekauft... Gruß,--Sonnenblumen 03:27, 2. Apr. 2008 (CEST)

Bion

Um kleinlich und analsadistisch zu werden - oder die Belege nicht schuldig zu bleiben: Bion, Lernen durch Erfahrung, S. 120: Bion paraphrasiert Kant "Namen, den man einem Ding an sich gibt, von dem man annimmt, daß es in der Wirklichkeit existiert, und das wir Kant zufolge nicht erkennen können" - Hier ist schon der Begriff Wirklichkeit ziemlich unklar und ich habe den Eindruck gehabt, daß Kant genau so unklar hier rezipiert ist. Das Ding an sich existiert nicht in der Erfahrungswirklichkeit; die Betaelemente (wenn ich diese Identifikation Bion jetzt nicht zu unrecht anlaste) sollen aber doch in der analytischen Erfahrung dem Analytiker spürbar sein. Die Fußnote verweist auf Kants Vorrede (!) zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Kant erörtert da kurz den Unterschied zwischen Erscheiung und Ding an sich selbst und warum er nötig ist. Ob sich Bion hier auf einen solchen nur erkenntnistheoretisch notwendigen Grenzbegriff in einem psychologischen und zugleich nicht-empirischen Sinne beziehen will, ist mir schon fragwürdig, also ob ein Patient, auch noch unbewußt vielleicht, etwa die Unscheidung zwischen Ding an sich und "Tatsache" (Bion) immer so mitlaufend machen würde, dass man sich darauf als eine eigene Klasse seiner Vorstellungen ("emotionale Erfahrung") beziehen kann. Gleich nach diesem luftigen Bezug schreibt Bion von Elementen bei ihm, die "entsprechen Kants sekundären und primären Qualitäten" (S. 120) - ein klarer Fehler, Kant spricht nicht von sekundären und primären Qualitäten, es müßte richtig heißen: Locke (im Locke-Artikel steht ein bißchen was darüber)! S. 159 gibt es eine Fußnote 3.2.1 und 2, wo Bion noch einmal die gleiche Locke-Kant-Verwechselung unterläuft. Zu den sekundären und primären Qualitäten gibt er eine Stelle aus Prolegomena an, wo nichts dergleichen steht. Das sind die ausdrücklichen Kantbezüge in Lernen durch Erfahrung, wenn dem Register zu trauen ist. Suhrkamp wirbt in den kleinen Einführungen jeweils S. 3f. zu meinem Ärger sowohl in Lernen durch Erfahrung als auch in Elemente... mit den "kantischen Fragen" und der Kant-Referenz Bions. Aber Bions Fehler hier treffen natürlich zuerst die Redlichkeit Bions selber, diese zwei Stellen genügen m.E. eigentlich, um ihn einer Hinsicht schon zu desavouiren. Ja, er ist trotzdem interessant, ich gebe es ja zu. Das Thema wäre vielleicht mal einen Aufsatz wert; vielleicht aber auch nicht. Leicht ist das Thema ja von beiden Seiten aus nicht, wenn man beiden dann auch wirklich gerecht werden will.--Sonnenblumen 13:48, 2. Apr. 2008 (CEST)
Bion meint mit Wirklichkeit offenbar etwas außerhalb der Erfahrung. Grundsätzlich finde ich, dass es eine Entsprechung, eine Homologie gibt zwischen Betaelement und Ding an sich, wenn man sich bewusst bleibt, dass das erste eben ein psychologischer und das zweite ein erkenntnistheoretischer Begriff ist, und wenn man zwei Einschränkungen anbringt (die in diesem Fall genau den Unterschied zwischen Psychologie und Erkenntnistheorie ausmachen): Das Betaelement ist so unerkennbar wie das Ding an sich, aber 1. nur für den Analysanden, nicht für den Analytiker (wie du schreibst: "sollen ... für den Analytiker spürbar sein"); und 2. auch nicht überhaupt: es wird der Sinneswahrnehmung und dem Erleben des Analysanden zugänglich sein, aber er nimmt es eben nicht als sein eigenes Produkt wahr, und darauf kommt es Bion, glaube ich, an. - Natürlich schwächen diese Vorbehalte die Homologie, und dazu kommt, dass "unerkennbar" hier nicht heißt: für alle Zeit, denn durch die Deutung des Analytikers kann dem Analysanden die Verbindung ja doch zugänglich gemacht werden. - Zu den primären und sekundären Qualitäten ... müsste ich wieder Bions Texte hier haben. Ich werde mich mal drum kümmern. -- Ankallim 14:26, 2. Apr. 2008 (CEST)
Na, ich kuriere mich gerade noch von einer kleinen Krankheit (schön, krank zu sein) und habe meine Bücher hier und kann mit weiteren kleinen Belegen dienen. Ja, an der Differenz zwischen Analysand(Erfahrung) und Analytiker(Erfahrung) hinsichtlich der immerhin "spürbaren" (Un)zugänglichkeit gewisser "Gegenstände" (beta-elemente) läßt sich schon herausarbeiten, dass Bions Erfahrungsbegriff - ohnehin nicht überraschend und von mir nun nicht polemisch gemeint - ein psychologischer ist. Kants Erfahrungsbegriff, den man fälschlich versucht sein kann, zugrundezulegen, weil eben Kant heranzitiert wird, würde ich mal tapfer den fundamentaleren nennen. Geht es doch um mögliche Erfahrung überhaupt; um die Begründung von Objektivität aus transzendentaler Subjektivität. Zu Bions Gunsten kann man vielleicht sagen (wäre noch genauer zu prüfen), daß er sich bei seinem Kant-Bezug wirklich strikt auf Vergleich und Analagie beschränkt. Was der Kantischen Philosophie die Dinge an sich sind, sind der Psychoanalyse die Beta-Elemente. (Auch dann die übers Ganze zu legende Frage: trägt die Analogie, ist sie wirklich sinnvoll?). Aber so mag es, der groben Orientierung nach, erstmal hingehen. Um mal was Positives über Bion zu sagen. Wo er schreibt (finde die Stelle nicht), daß die Psychoanalyse, um Wissenschaft zu sein - wie die Mathematik - ihren eigenen Gegenstandsbereich haben muß und somit eigene psychoanalytische Objekte, die nur mit psychoanalytischer Methode zugänglich und erforschbar sind, da finde ich ihn sehr gut; in solchen Momenten sehe ich auch eine saubere Abgrenzung zur Philosophie (und keine Vermessenheit und Vereinnahmung, wie ja auch die Philosophie der Psychoanalyse ihre Gegenstände lassen sollte). Was die konkrete Kant-Referenz angeht, so setzt sich das mit den sekundären und primären Qualitäten "im Sinne Kants" geradezu mechanisch auch in Elemente der Psychoanalyse fort (S. 34, 38). Zum Ding an sich steht da noch: "Nach dieser Definition ist klar, daß das angenommene psychoanalytische Element nicht beobachtet werden kann. In dieser Hinsicht ist es Kants Begriff des Ding-an-sich nicht unähnlich - es ist nicht erkennbar, obwohl primäre und sekundäre Qualitäten erkennbar sind." (S. 36) Bis zum Gedankenstrich: okay, vorsichtig, "nicht unähnlich" - aber danach kommt wieder diese merkwürdige Locke-Kant-Vermischung. In kantischer Terminologie ist der gedachte Träger der Qualitäten (Kant:"Akzidenzen") eines Gegenstandes die Substanz, die als solche ebenfalls niemals Gegenstand der Erfahrung sein kann, Substanz als Kategorie, als "reiner Verstandesbegriff" ist aber erfahrungsbegründend und damit schon in ganz anderem Sinne "nicht-Erfahrung" als das Ding an sich "nicht-Erfahrung" ist; m.E. wäre im Rahmen von Bions Begriffsanalogie der Begriff Substanz die naheliegende Entsprechung, nicht das Ding an sich als die (sinngemäß) unbekannte Seite der Erfahrung. - Meine Kritik an Bion ist nicht, dass ich den entwickelten Überlegungen keinen Sinn abgewinnen kann, sondern das die Bezüge philologisch und gedanklich/philosophisch nicht ordentlich sind - und es doch so großtönend, mathematisch/formalisiert-krypisch und der Sache nach schon schwierig genug, mit Kant im Gepäck, daherkommt (und in der Literatur wohl auch mal ganz gerne reproduziert wird). Das fällt für mich nicht zuletzt in das Gebiet der "Vertrauenswürdigkeit" - die damit insgesamt Schaden nimmt und also auch an Passagen, wo nicht von Kant die Rede ist. (Elemente, S. 39 und Kants Unterscheidung Wahrnehmungsurteil - Erfahrungsurteil in Prolegomena könnte man sich auch nochmal genauer ansehen; ich mache das jetzt nicht.)
Nochmal nachgeschlagen in den Prolegomena, Anm. II nach § 13, und ich muß mich etwas korrigieren: da steht doch ein bißchen was, der Verweis stimmt. Kant übernimmt unter namentlicher, aber mittelbarer Bezugnahme auf Locke ("was schon lange vor Lockes Zeiten...") eine Unterscheidung zwischen primarias (Ausdehnung, Ort, überhaupt den Raum etc.) und anderen Qualitäten (Wärme, Farbe, Geschmack etc.) - aber die Prolegomena sind eben nicht die Kritik der reinen Vernunft, sondern nur deren popularisierende Zusammenfassung. Es bleibt dabei, daß "primäre und sekundäre Qualitäten" wörtlich auch an dieser Stelle nicht auftauchen und kein Bestandteil der kantischen Terminologie sind, und man wirklich nur dann darauf kommen kann, sich so locker darauf als auf kantische Termini zu beziehen, wenn man die Kritik nicht gelesen hat und vielleicht zugleich irgendwie denkt, das sei die deutsche Version von Empirismus und vielleicht irgendwie "schicker" als Locke. Was den Raum als "Qualität" angeht, muß man von der Kritik aus diese Prolegomena-Stelle selber für mißverständlich ansehen. Bion hat die Kritik der reinen Vernunft nicht über das Vorwort hinaus gelesen, mindestens bis 1963 (Elements of Psychoanalysis) nicht, das möchte ich festhalten.
Hast Du eingentlich in den Bänden E. Bott-Spilius (hg.), "Melanie Klein heute" mal gelesen oder reingeschaut - ich kenne sie nicht, aber sie sind mir als Titel schon öfters begegnet und wenn Du jetzt auch sagst: muß man lesen, dann fällt es mir leichter, sie mir mal zu besorgen. Da ist m.W. auch Theory of Thinking von Bion enthalten.--Sonnenblumen 17:43, 2. Apr. 2008 (CEST)
Wenn die kantische Substanz erfahrungsbegründend ist, dann ist das bionsche Betaelement doch das exakte Gegenteil, nämlich erfahrungsvermeidend. Ich finde Bions Heranziehung des Dings an sich nach wie vor nicht verkehrt, weil sich dieser Begriff wie der seines Betaelements auf etwas Reales bezieht, während Kants Substanz eben ein Verstandesbegriff ist. Bion will die praktische Unmöglichkeit hervorheben, sein spezielles Ding an sich zu erfassen, und dynamisiert zugleich die Verhältnisse, indem er dem einen aktiven Ausschluss vorhergehen lässt, ein Nicht-Wahrhaben-Wollen, und zugleich die Möglichkeit der Aufhebung durch die Deutung folgen lässt. - Wie übernimmt denn Bion die Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten für sich? Sie steht ja doch eher für eine überwundene Phase der Wissenschaftsgeschichte und ihrer erkenntnistheoretischen Reflexion, als man so manches physikalische, biochemische, neurobiologische ... Phänomen halt noch nicht verstanden hat. Oder?
Die beiden Bände "Melanie Klein heute" lohnen sich auf alle Fälle. Sie enthalten vier Aufsätze von Bion, drei aus "Second Thoughts" plus die genialen "Notes on Memory and Desire" (in der Bibliographie zum Bion-Artikel habe ich alle aufgeführt), und auch sonst die besten Opuscula der englischen Kleinianer.
Soll ich dir jetzt eine gute Genesung wünschen oder nicht? Oder bist du lieber noch eine Weile krank?
Übrigens: (Ich bin einfach naseweis, ich stöbere hier in deinen "öffentlichen" Sachen herum:) Ich würde bei "Blutschuld" als einem Begriff aus dem "Alten Testament" (?) nicht von einer "Todsünde" sprechen, dieser Begriff ist doch ganz und gar christlich und meint auch gar nicht, was du meinst, dass man nämlich für ein Vergehen sterben muss, sondern dass man sich damit den ewigen Tod einhandelt, die Höllenstrafe.
Und noch so etwas Aufgestöbertes: Deine Ergänzung in "Triangulierung (Psychologie)" finde ich hervorragend. Einen Gruß -- Ankallim 22:11, 2. Apr. 2008 (CEST)
Danke für das Lob und den Hinweis. Das war ein richtiger Fehler und ja auch nur schnell als Spatenstich neben dem Grabungsort in die Erde gesetzt. (Ich war durch die Olympischen Spiele einerseits, von der Männer mit "Blutschande" ausgeschlossen waren, und andererseits durch das kürzliche Karlsruhe-Urteil auf das neue Lemma gekommen. Strafrecht (Altes Testament) wäre wohl ein eigenes Lemma wert (s.a. den Baustein bei Strafrecht).
Allgemeiner noch zu einer Problematik, die mit bei der Opposition Bion-Kant auffällig wurde: Wäre nicht auch Konzept (Psychoanalyse) erwägenswert? - Ich find es, obwohl es ein historischer Umstand gewesen mag, der die heutige Redeweise begründet (Emigration der Psychoanalyse in den angloamerikanischen Raum in Folge des 3. Reichs), in der Sache aussagekräftig, daß nicht von Begriffen gesprochen wird. Es liegt darin für mein Gefühl auch immer der vorherrschende Aspekt der Anwendbarkeit, Brauchbarkeit (Pragmatismus; Heilung) gegenüber dem einer Richtigkeit/Wahrheit versus Falschheit, unter dem Begriffe der Philosophie (und Theologie) ihrem Anspruch nach stehen. Modellcharakter des Konzepts. Obwohl es sich natürlich immer wieder vermischt und unscharf wird, z.B. Jenseits des Lustprinzips (Libido, Thanatos, Trieb-Begriff), Das Ich und das Es. Das sind so die Stellen, wo ich geneigt bin, philosophische Einwände zu machen - je nachdem, auf welcher Ebene es gemeint ist - und sofern der Sinn und Anspruch in der Brauchbarkeit liegt (und nicht anthropologisch bis ontologisch erweitert wird), und Richtigkeit/Wahrheit - Falschheit nicht die richtigen Kategorien zur Beurteilung dieser Begriffe sind, verschwindet die philosophische Angriffsfläche. Das Bion-Konzept des Containers ist vielleicht ein besonders gutes Beispiel. Es muß ihn nicht geben. Kants Kategorien dagegen wollen mehr als Modell sein und müssen es auch sein. - Zu der von Dir gegebenen Opposition erfahrungsbegründend - erfahrungsvermeidend: da sehe ich wieder den anderen Erfahrungsbegriff von Kant und der Psychologie wirksam, so daß die Opposition so m.E. nicht gebildet werden kann. Erfahrung ist bei Kant terminologisch nicht individuell, sondern mündet in objektive, wahrheits- und falschheitsfähige, Urteile. Gegenbegriff bei Kant ist Wahrnehmungsurteil (Mir ist kalt), das keine objektive Gültigkeit beansprucht. (Einwurf: Was ist mit P-S als Urteil über die Position des Analysanden?) Die Substanz habe ich nicht deshalb angeführt, weil ich sie für Bions Vergleich inhaltlich passender fände, sondern weil sie bei der Nennung der Qualitäten (die Bion nicht wirklich zu interessieren scheinen) das richtige Pendant in der Durchführung der Analogie innerhalb von Kant wäre. Das "Ding an sich" steht nicht in begrifflicher Opposion zu Qualitäten/Akzidenzen, sondern in Opposiosion zu "Erscheinung", und die "Erscheinung" wiederum ist durch Verstandesbegriffe in Akzidenzien und Substanz unterschieden, was nur heißen soll, daß Eigenschaften immer Eigenschaft an oder von etwas sind und einen Träger brauchen, und dieser Träger ist eben nicht das Ding an sich, das Bion aber gerne in der Analogie verwenden möchte. Er hätte dann vielleicht statt Qualitäten Erscheinung sagen sollen, und dieses Durcheinander plus Anbringung der Analogie verrät die nicht genaue Kant-Kenntnis; womit nichts gegen Bions eigene Gedanken gesagt sein soll; man braucht Kant nicht, würde ich mittlerweile mal umgekehrt sagen, um Bion zu verstehen. - Danke für die nachdrückliche Empfehlung von Melanie Klein heute! - Bin wieder gesund. Ich will versuchen, mir trotzdem die Zeit zu nehmen, gelegentlich was längeres zu schreiben, es ist ja immer noch kurz - und der Weg nach Lothringen weit, und in bloßen Stichworten kann man sich ja nicht verständigen bei diesen Themen; schon diesen wieder langen Beitrag empfinde ich noch als stichwortartig. Viele Grüße und bis bald! --Sonnenblumen 11:11, 3. Apr. 2008 (CEST)
Habe heute Morgen in meinem Bücherdepot nachgeschaut, mir Notizen zu Bions Kantstellen gemacht, und sie liegen gelassen. Dass er Kants Kategorien vermischt, ist auch mir aufgefallen: Er übersetzt (in Lernen ..., S. 120) "primäre Sinnesqualitäten" für sich mit "definitorische Hypothese", was aber gerade Kants Substanzbegriff entsprechen würde. Solche definitorischen Hypothesen sind dann (in Elemente ..., S. 36) Behälter und Inhalt, aber nicht die Betaelemente, die willst nur du mit der Substanz identifizieren. Ich würde aber das ganze Problem nicht überstrapazieren. Bion spielt sich selbst nicht als Kantexeget auf, er wirft ein paar Begriffe rein, die aus dem Oberstufen-Philosophieunterricht stammen mögen und an ein Vorverständnis seiner Leser appellieren. Der Suhrkampverlag oder die im übrigen bewundernswerte Erika Krejci (so genau habe ich das heute nicht nachgelesen) heben die Kantbezüge hervor, um ein deutsches akademisches Publikum anzusprechen, das an englischer Psychoanalyse sonst vielleicht achtlos vorbeiginge - was dazu führt, dass genaue BeobachterInnen wie du darauf stoßen, dass Bions Kantlektüre eine Fehllektüre ist, dass er Kant missversteht. Dem kann ich nur entgegenhalten, dass ich Fehllektüren mag, bin schließlich Harold Bloom-Fan (gilt zumindest für einen Teil von dessen Werk) (Frau Braun hat mich da auf meiner Benutzer-Diskussionsseite auf einen Artikel aufmerksam gemacht, in dem ich die hier relevanten Passagen selbst verfasst habe ... - hab's ihr geschrieben).
Mit dem Einwand gegen meine direkte Opposition erfahrungsbegründend - erfahrungsvermeidend hast du natürlich Recht, sie hat sich mir gerade wegen ihrer Schrägheit aufgedrängt. Hat nicht das Christentum in Gott eine Opposition erlösungsbegründend (Jesus) - erlösungsvermeidend (sein Vater: der Gott der Prädestinationslehre, und in christlicher Rückprojektion (das Kreuz-Ass!) der "gesetzliche" Gott des "Alten Testaments") geschaffen? Wieder so ein schräger gedanklicher Rösselsprung.
Du scheinst Fragen der Wahrheit / Geltung nicht stellen zu wollen. Für mich stellen sie sich, aber als ethische Fragen. Wo die Erkenntnistheorie, seit Kant, keinen rechten Halt mehr gibt, werden die letzten Fragen solche der Verantwortung als eines Anspruch an sich selbst, Rechenschaft ablegen zu können für das eigene Verhalten und Nichtverhalten. Ich habe nichts gegen Begriffe, ich brauche sie für eine praktische Orientierung in der Welt. Da begegnen wir uns sicher auch. (Mein privates Lieblings-Berenikethema ist da natürlich so unpraktisch, wie es nur geht ... Da lebe ich also meine Ambivalenz.)
Einen schönen Abend noch. -- Ankallim 22:42, 3. Apr. 2008 (CEST)
Nochmal zu Konzept und Begriff: Über Begriffe habe ich gelernt, dass sie immer von anderen Begriffen her zu verstehen sind und letztlich auf ein System verweisen, was vor allem im deutschen Idealismus mit größter Reichweite umgesetzt wurde. "Konzepte" kommen meines Wissens nicht mit diesem holistischen Impetus daher. Dafür steckt in "Konzept" der Hinweis auf eine "Urszene", hier eben des Denkens, die Bion in seiner "Theorie des Denkens" auch beschreibt. Es ist sicher diese Konnotation, die den Begriff Konzept für die Psychoanalyse, abgesehen von der Umpflanzung ins Angelsächsische, attraktiv macht.
Und doch noch einmal zu "Bion su Kant": Abgesehen davon, dass Bion Kants primäre Sinnesqualitäten und seinen Substanzbegriff zusammenwirft, finde ich, dass er doch sehr sinnvoll an Kant anknüpft. Mit der Bildung von Behälter-Inhalt-Vorstellungen findet durchaus genau die subjektive Aneignung eines "an sich" nicht assimilierbaren Objekts statt, die auch Kant im Sinn hat. Er leistet keine Kant-Exegese, aber er denkt, als Psychologe, kantianisch. Und das, was da jeweils als Behälter-Inhalt-Verbindung etabliert wird, behält auch genau den hypothetischen, nicht-fundamentalen Charakter, den für Kant die Erscheinungen und ihre verstandesbegriffsmäßige Aufarbeitung haben.
Das mit der Fehllektüre in diesem Fall überlege ich mir also noch mal. Einen Gruß -- Ankallim 05:02, 4. Apr. 2008 (CEST)
Lieber Ankallim, damit können wir das Thema Bion/Kant vielleicht erst einmal ruhen lassen. Bion würde ich gerne zu einem anderen Zeitpunkt mit Dir mal wieder aufgreifen, z.B. wenn ich Melanie Klein heute und die Transformationen gelesen habe (beides liegt allerdings nicht ganz oben auf meinem imaginären Bücherstapel). Es ist schon reizvoll, was aus einer dahingeworfenen Bemerkung (Klammer auf, Klammer zu) so werden kann... Einige Bemerkungen zu Deiner letzten Antwort noch. An Wahrheit bin ich sehr wohl interessiert. Mein Vorschlag, diese "Kategorie" wahr/falsch für einige psychoanalytische Begriffe mal auszusetzen, war eher ein Rettungsversuch für eben solche Begriffe. Aber natürlich ist ein solcher Versuch etwas halbseiden, und man kommt mit solchem Pragmatismus dann letztlich zu so fragwürdigen Axiomen wie "Wer heilt, hat recht" oder "Hauptsache, es geht dir besser", die einen philosophischen Charakter nicht befriedigen können. Man braucht den Wahrheitsbegriff, wenn ich Dir da folge, auch noch dort, wo sich die Wahrheit nicht erkenntnistheoretisch zur Evidenz bringen lässt. Das würde auch Kant unterschreiben, denke ich. Und das sind ja letztlich die wirklich relevanten Gebiete, nicht ob die Rose rot ist oder nicht, sondern synthetische Urteile a priori wie "Gott ist." und die ethische Dimension unserer Existenz.
Krejci: ich kenne ihren Namen nur als Bion-Übersetzerin, aber die Übersetzer sind ja oft viel weniger bekannt und in ihrer Leistung gewürdigt, als es ihnen gebührt.
Harold Bloom kenne ich nur vom Vorübergehen, Einflußangst und Kabbala; er ist mir etwas zu plauderig, glaube ich, aber Einflußangst fand ich interessant. Literaturwissenschaft ist nicht so meine Sache. Und mein Hingezogensein zur Dichtung ist selbst ambivalent. Letztlich kann man doch nur in weniges wirklich eindringen. Bei Celan z.B., der ja in Deinem Nick-Namen vorkommt, habe ich nach Jahren der Faszination irgendwann aufgehört, tiefer verstehen zu wollen - vielleicht kommt es wieder. Kallimachos möchte ich mal lesen, ich kann mich an kein Gedicht von ihm erinnern. Da Du gelegentlich stöberst, wie ich auch, hast Du vielleicht gesehen, dass ich mich in der Löschdiskussion zu Georg Bondi Verlag ins Zeug gelegt habe. Da merke ich dann an meinem Agieren, dass mir an etwas liegt. Gruß, --Sonnenblumen 16:58, 6. Apr. 2008 (CEST)
Gut, lassen wir Bion vorerst ruhen. - "Ethik als Erste Philosophie" ist übrigens ein Motto, das auch Emmanuel Levinas für sich aus Kant herausgelesen hat. Ich denke, man kann, man sollte Kant wohl so verstehen. - Ich weiß nicht, ob ich dir Kallimachos empfehlen kann, er erschließt sich nur schwer, läuft immer mit einer Fülle mythologischen Gepäcks herum, und wenn dann noch seine sprachliche Eleganz in der Übersetzung flöten geht ... Hier ist z. B. sein fünfter Hymnus, den ich im Mittagsdämon-Artikel zitiert habe, in einer englischen Übersetzung. Der Hymnus, angeblich bei einer rituellen Waschung der Statue der Athene in Argos vorzutragen, verfolgt einen speziellen Gag. Er erzählt mittendrin, wie Teiresias, als er einmal Athene nackt beim Baden erblickte, zur Strafe geblendet wurde. Niemand darf die Göttin nackt sehen, oder er wird das Augenlicht verlieren. Und jetzt seht, gleich kommt sie und wird gewaschen ... Das muss man erst einmal herausfinden. Aber wenn man es gefunden hat, wollte man (und frau) es überhaupt lesen und wissen? Nichts ist da so ansprechend wie bei Sappho oder später bei Catull, der Kallimachos gleichwohl übersetzt hat. Trotzdem finde ich ihn aufschlussreich, nicht nur mythologisch, auch psychologisch. - Celan ... ich behaupte nicht ihn zu verstehen. Ich möchte gerne dahin gelangen, dass ich einmal etwas Fundiertes zu ihm sagen kann, fühle mich da aber noch völlig ungenügend. Also denn, meine Grüße zurück, Sonnenblumen -- Ankallim 00:20, 7. Apr. 2008 (CEST) P.S. Dein leidenschaftliches Plädoyer habe ich gelesen. George ist, glaube ich, nicht mein Fall. Woher rührt deine Sympathie?

Stefan George

Für den mache ich doch gleich einen neuen Abschnitt auf. Wäre ich nicht im Herzen ein wohl recht unpolitischer Mensch, wären mir Georges Ausfälle wohl schwer erträglich. Aber ich schätze gerade auch Der Stern des Bundes aufgrund seiner ästhetischen Radikalität. George hat mit dem heimlichen Traum manches Dichters, eine Art Religionsstifter zu werden, ästhetisch ernst gemacht (wenn es überhaupt einen ästhetischen Ernst gibt). Darin ist er für mich ein Repräsentant eines wirklich zu-Ende-gedachten Ästhetizismus, als einer Existenzform. Mallarmé, den ich in ähnlicher Hinsicht verehre, wäre eine andere Spielart dieses Extrems. Oscar Wilde fällt künstlerisch dagegen schon weit ab, würde ich sagen. Außerdem mag ich George, weil er vollkommene und schöne Gedichte geschrieben hat; weil sein künstlerischer Gestaltungswille so auf den Gedichtband geht und die größere Ordnung im Sinne hat, darunter die Einzelstücke auf cum grano salis gleichbleibendem Niveau, keine wirklichen "Ausfälle" (wie anders bei Rilke z.B., der auch wunderbare Gedichte hat, aber vieles Unausgegorene dazwischen, m.E.). Der schönste Gedichtband ist am Ende wohl (leider) doch der berühmteste, Das Jahr der Seele. Die früheren Bände haben aber auch schon eine hohe künstlerische Reife. Ich habe an George, dessen Schlichtheit mich zuerst befremdete, gerade das als Tiefe und mit viel größerer Sorgfalt im Wortgebrauch kennen und lieben gelernt. Ich würde so weit gehen zu sagen, daß er mein Denken über das Gedicht überhaupt, was es kann, was es darf, was es sein soll, "geprägt" hat oder daß ich viel von ihm gelernt habe. Ich denke auch, George ist erst noch im Kommen und in seiner Potenz unter den deutschen Dichtern eher unter- als überschätzt. Beispielverse sind immer schwierig, Du wirst ja Deine Annäherungsversuche gemacht haben. Aber wie ist es mit diesem:

Wir werden heute nicht zum garten gehen ·
Denn wie uns manchmal rasch und unerklärt
Dies leichte duften oder leise wehen
Mit lang vergessner freude wieder nährt
So bringt uns jenes mahnende gespenster (...)

Vor allem Vers 1 und Vers 4, beim ersten die Einfachheit, beim 4. die Subtilität der mitgeteilten Empfindung. Vers 1 ist einfach vollkommen, ich würde ihn sofort zu einem der schönsten Verse der deutschen Sprache erklären!

Oder lies einmal den Mittelteil von "Landschaft" aus Der Siebente Ring... Ich könnte jetzt viele Gedichte nennen, aber ich denke, einen Zugang bekommt man am besten über ein ganzes Werk, einen Gedichtband, und am besten wohl beim ideologisch noch unproblematischen George des Jahrs der Seele; das war bei mir der Einstieg und ist immer noch mein liebster Band. Dann habe ich das ganze Werk und die Übersetzungen durchgelesen und in den Jahren immer mal wieder gelesen. Meine Wertschätzung ist da mit der Zeit noch gestiegen, während ich oft eher die umgekehrte Wahrnehmug einer Urteilsänderung feststelle. Auch Rimbaud finde ich immer besser, je älter ich werde. - Genug für heute abend! Gruß, --Sonnenblumen 01:25, 8. Apr. 2008 (CEST)

Ich hatte schon überlegt, ob ich meine letzte Frage wieder zurücknehmen, überschreiben soll, weil ich sie doch sehr persönlich fand. Und jetzt fällt es mir schwer zu antworten. Das Gedicht, das du zitierst, ist schön. Auch ich bin bewegt, wenn ich "this still, sad music of humanity" (das ist eine meiner Lieblingszeilen, von Wordsworth) in einem Gedicht finde. Und doch - nach der ersten Zeile, die du ja auch vom Weiteren absetzst; die von einem Voranschreiten handelt, wie es auch die von George so geschätzte Göttliche Komödie prägt: danach also kippt das Gedicht in ein reines Fühlen und Empfinden, das mir rasch - zu luftig ist. Du kennst dieses Gedicht von Celan, das erste aus Atemwende:
Du darfst mich getrost
mit Schnee bewirten:
sooft ich Schulter an Schulter
mit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommer,
schrie sein jüngstes
Blatt.
Auch hier Schreiten, und Erinnerungen. Aber das Bild zerreißt am Schluss, es kann die Erinnerung nicht fassen. Das Gedicht artikuliert die Unverhältnismäßigkeit von Erfahrung (auch so ein Wort!), Erinnerung (genau besehen auch!), Bild und Sprache, einen unauflösbaren Widerstreit, der mir mehr entspricht; allgemeiner: den zu artikulieren ich nötig finde. Gerade im Deutschen. Man mag es als Anachronismus sehen, wenn ich hier solche Forderungen an ältere Dichter stelle. Aber es gibt ja auch ältere Dichter, die sie erfüllen.
Du nennst als Ideal des Dichters, "eine Art Religionsstifter" zu sein. Dass George damit Ernst gemacht hat, ist radikal - aber verliert es je ganz seine Lächerlichkeit? Er kleidete sich als Dante (na ja!); Dante, von dem ich annehme, dass er sich in dem großartigen Satyrspiel Inferno 21 f. in der Figur des Alichino selbst auf die Schippe genommen hat (ein paar Bemerkungen dazu habe ich hier schon einmal gemacht); der die Göttliche Komödie durchgängig doppelt kodiert hat, theologisch und blasphemisch; Dante, der für mich letztlich genau den genannten Widerstreit bewundernswert zum Ausdruck bringt: und was macht George aus ihm? Einen Priester? - Aber du sagst ja, du bevorzugst den früheren George.
Das Ideal des Dichters ist für mich der Schamane, Orpheus: "Nur, wer die Leier schon hob ...", oder bei Auden (In Memory of W. B. Yeats, die letzten Strophen):
Follow, poet, follow right
To the bottom of the night,
With your unconstraining voice
Still persuade us to rejoice;
With the farming of a verse
Make a vineyard of the curse,
Sing of human unsuccess
In a rapture of distress;
In the deserts of the heart
Let the healing fountain start,
In the prison of his days
Teach the free man how to praise.
Hannah Arendts Lieblingsverse ... Das sind so die Überlegungen und die Eindrücke, auf die ich baue und die ich vertiefen will. Rilke - fast geschenkt. (Zum obigen Orpheus-Sonett fällt mir übrigens als Schlusskadenz nach den ersten beiden Strophen gern Goethe ein: "Du danke Gott, wenn er dich presst, und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt.") In diesem Sinn, einen schönen Abend -- Ankallim 22:23, 9. Apr. 2008 (CEST)

Priester und Schamanen

Das ist ein schöner Gegensatz! Die Orpheus-Sonette sind meiner jetzigen Einschätzung nach (und ich habe eine wechselhafte Beziehung zu Rilke gehabt..) mit das beste, was er geschrieben hat, obwohl natürlich auch etliche einzelne gedichte von ihm da heranreichen. gerade auch aus den Neuen Gedichten. Die Duineser Elegien haben dagegen den Nachteil, daß sie mit der Zeit immer deutlicher den Lehrgedichtscharakter hervortreten lassen... Das Celan-Gedicht, das Du zitierst, gehört für mich auch zu den großen Stücken; Wordsworth kenne ich nicht gut; ich kann auch nicht sonderlich gut englisch, weshalb ich für die Aneignung und das Verstehen englischer Gedichte immer etwas länger brauche und mich auch dann in meinem Urteil noch nicht so sicher fühle. T.S.Eliot Four Quartets finde ich sehr faszinierend. Und Pound, obwohl ich wenig verstehe. W.B. Yeats und Auden habe ich auch hier, aber noch keine wirkliche Werkerfahrung. Bester Grabspruch: Yeats! - Du weißt vielleicht, Melchior Lechter hat sich schließlich auf demselben kleinen Friedhof wie Rilke in Raron beerdigen lassen; ich war mal dort. - George würde ich jederzeit verteidigen, aber es gibt da eben die genannten Punkte, wo ich mich persönlich nicht weiter einlasse, trotz der Faszination; ja, es hat ein Moment von Lächerlichkeit. Meine liebsten deutschen Dichter sind mit Abstand Hölderlin und Trakl, wobei mir Trakl noch lieber ist als Hölderlin. - Habe Deinen Artikel zum Mittagsdämon mir ein bißchen angesehen, aber noch nicht richtig. Sieht sehr schön aus! - Wir könnten irgendwann auch mal über das Verhältnis Psychoanalyse - Dichtung plaudern, fällt mir ein, wäre auch ein spannendes Thema. "Zum letzten Mal Psycho-/logie..." "Klagerastert tut sich Freuds Stirn auf" "Auf Bewußtseitsschotter unterwegs zu Erinnerungsbläschen"... - ja, Celan ist schon sehr sehr großartig! - komischerweise schlage ich ihn aber kaum mehr auf seit Jahren. George allerdings auch nicht sehr oft. Mit dem leichten Einwand gegen Verse 2 und 3 gebe ich Dir recht, auch wenn ich sie selber dann getragen von der Umrahmung durchgehen lasse. Mir fällt noch eine Versvergleichsmöglichkeit Rilke-George ein, wo der Meister den Stich macht: dieser schon unerträglich zitierte Vers: "Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr" und dagegen die thematisch recht ähnlichen aus Georges Nietzsche-Gedicht:

Der kam zu spät der flehend zu dir sagte:
Dort ist kein weg mehr über eisige felsen
Und horste grauser vögel - nun ist not:
Sich bannen in den kreis den liebe schliesst ..

Gerade der letztzitierte Vers gehört zu denen, die mich über die Jahre, wie ein Gedanke oder auch ein fast moralisches Maß, eine Orientierung, begleitet haben, und es sind am Ende fast mehr die Verse als die ganzen Gedichte, die mir den Geschmack und die Ahnung, die Luft eines Werks wieder vermitteln, so wie der Hauch in dem Gedicht von George weiter oben. Bei Trakl oder Hölderlin würde es mir aber schon schwerfallen, einen Lieblingsvers zu nennen. Meine volle Bewunderung aus den oben etwas abschätzig genannten Duineser Elegien hat die Stelle aus der Achten: "Wie wenn ein Sprung durch eine Tasse geht/ So reißt die Spur der Fledermaus durchs Porzellan des Abends" - Ist vielleicht eine Umdrehung zuviel, aber ich mag's. Oder "Die Rosenschale". Ich habe aber auch immer wieder das Verlagen, meine Wertschätzungen zu überprüfen und ggf. altersgemäß neu zu justieren. George ist auch ein Bekenntnis zur Endlichkeit, Rilke fliegt immer so leicht davon, mit seinem geheimnisvollen "Doppelbereich". Schönen Abend auch, --Sonnenblumen 23:04, 9. Apr. 2008 (CEST)

"Sich bannen in den kreis den liebe schliesst" wäre ja auch ein alternativer Titel für diese Seite, die ringförmige Übersetzung von "Communitas" ... In Raron war ich auch mal in meiner auch schon eine Weile zurückliegenden Jugend. Lechter habe ich allerdings nicht in Erinnerung behalten.
Zum Verhältnis Psychoanalyse und Dichtung schlage ich Hölderlin als Ausgangspunkt vor, mit den ebenfalls oft zitierten Zeilen aus dem zweiten Mnemosyne-Entwurf:
Ein Zeichen sind wir, deutungslos
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.
Freud kommt da fast zu spät. Ich bin aber auch hier für Doppeltkodierungen, Fehllektüren und Widerstreit offen. So viel für heute in aller Kürze. Einen Gruß -- Ankallim 21:42, 10. Apr. 2008 (CEST)
Das Zitat ist gewaltig, ich kenne die Stelle natürlich. Poststrukturalismus avant la lettre, und Wasser auf die Mühlen des lacanianschen Denkens. Was die Communitas der Wikipedia betrifft, so scheint wir mir ein sehr bunt zusammengewürfelter Haufen zu sein. Ich habe erst damit begonnen zu versuchen, dieses System zu begreifen. Mir scheint, es wäre eine Verstärkung der jetzt schon in Form der Richtlinien vorliegenden Rechtsförmigkeit der deutschen Wikipedia wünschenswert. Gegen all die Behauptungen von Willkür der Admins und gegen die tatsächlich Willkür. Dies, das Fehlen untereinander widerspruchsfreier bzw. gegeneinander in ihrem Rang bestimmter Richtlinien und etwa einer Gewaltenteilung, ist mir besonders anhand der Entscheidung des Schiedsgerichts zu Mißtrauenslisten aufgefallen. Ich plane im Moment und bin noch ganz am Anfang, eine Umfrage dazu vorzubereiten. Die Frage sollte etwa sein: Braucht die Wikipedia eine "Verfassung", ein System des Rechts, das die bisher bestehenden (rechtsförmigen) Regelungen genauer bestimmt? Neben der Begründung dieser Umfrage wäre m.E. - und spätestens hier fühle ich mich allein überfordert - schon ein umfassender Gesetzesentwurf auszuarbeiten oder wenigstens zu skizzieren; nicht um diesen selbst zum Gegenstand der Umfrage zu machen, sondern als deren Rückhalt, um zu zeigen, dass diese Idee nicht lächerlich oder fernliegend oder unrealisierbar ist. Ich denke, das ganze müßte wohl am ehesten in ein "Projekt: Verfassung" o.ä. münden, wo so ein übergreifendes Gesetz von allen gemeinsam in langen Diskussionen erarbeitet wird. Die jetzigen Diskussionen um Einzelnes kommen mir jedenfalls zerfahren und nicht auf einen Fixpunkt bezogen vor. - Ich finde es faszinierend zu sehen, wie sich in dieser Welt der Wikipedia bestimmte Prozesse ähnlich der Entwicklung eines Rechtsstaates abspielen und wiederholen; es ist viel zu beobachten, und es hat m.E. auch ein gewisses Realgewicht. Und wie ich gerne mir etwas Konkretes zum Anlass nehme, um mich mit bestimmten Themen zu befassen, treibt mich diese Idee, aus der vielleicht am Ende gar nichts wird, dazu, mich zum ersten Mal mit Rousseau und Montisquieu zu befassen; ich habe mir gerade auch noch Hegels Rechtsphilosophie bestellt und lese quer durcheinander Kants Metaphysik der Sitten, Cicero De re publica und Platons Nomoi und Der Staat und denke über die Theorie des Gemeinwesens nach... Aristoteles' Politik liegt auch schon bereit! Ich weiß, das dies ein bißchen irre wirken muß (und: lohnt sich dieser Aufwand?).
Zum Thema Psychoanalyse/Dichtung frage ich mich oft, wie weit die Psychoanalyse in ihrem Deutungsanspruch bzw. Erklärungsanspruch eines dichterischen Werks gehen darf. Wenn ich eine psychoanalytische Interpretation eines Werkes las, schwang für mich so manches Mal der Anspruch des Autors mit, das Werk nicht nur aus einer bestimmten perspektive zu beleuchten, sondern eine ja mehr oder weniger letztgültige Interpretation des Werks zu geben. Das finde ich sehr problematisch. Ich würde da die Dichtung eigentlich ganz ähnlich wie die Philosophie ansehen und von ihr sagen, dass die Grenze ihres "Sinns" und ihrer "Deutbarkeit" nur durch sie selber gezogen werden kann. So wenig also Soziologie oder Psychoanalyse "überlegene" Meta-Ebenen zur Beurteilung von Philosophie oder Theologie darstellen, so wenig bei der Dichtung, es ist m.E. nur die Beleuchtung aus einer bestimmten Perspektive, die sich natürlich für sich selbst dogmatisch als maßgebende setzten kann (wie etwa eine christliche Interpretation à la Romano Guardini), und das kann ja sehr spannend sein, aber es ist damit immer ein Standpunkt außerhalb der Dichtung und außerhalb der sich zwischen Autor Text und Leser entfaltenden Realität eingenommen. Wenn man hochherzig von der Dichtung denkt und nicht in rationalistischer Verengung, kann man schon sagen, daß mit ihr alles philosophischen, psychoanalystischen, theologischen usw. Fragen selbst auf dem Spiel stehen, daß das Dichten oder das künstlerische Verhalten (rezeptiv oder produktiv) ein genuin eigener und irreduzibler Zugang des Menschen zur Welt/Wirklichkeit ist, der nicht von höherer Warte einfach eingeordnet werden kann. Hier fand ich mal ein kraftvolles Wort von Celan, es ging, wenn ich mich recht erinnere, mit der Metapher des Schachspiels, etwa so, daß in jeden geglückten Gedicht der "Wirklichkeit" ein für alle Mal "Schach geboten" wird. Hier ist auch ein Berührungspunkt mit dem "deutungslos", insofern "Wirklichkeit" ja auch gerne das Immer-schon-Verstandene und nicht Fragwürdige ist. Gruß, --Sonnenblumen 16:44, 12. Apr. 2008 (CEST)
Hallo Sonnenblumen, ich zögere gerade, hier eine neue Überschrift einzufügen. "Irre!" wäre vielleicht doch zu schrill ... Was ich noch auf deinen Bücherstapel drauflegen würde: Hannah Arendt, "Über die Revolution", über den fruchtbaren Moment bei vielen sozialen Umwälzungen, wo sehr viel möglich ist und der gerne verspielt wird; Karl Raimund Popper, "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", vor allem Bd. 1 über den "Protofaschismus" Platons (habe hier zwei Mal auf dieses Werk Bezug genommen); und Friedrich August von Hayek, "Der Weg zur Knechtschaft" und evt. "Die Verfassung der Freiheit". Hayek hat mir einen Begriff von der Wichtigkeit gesetzlicher Regelungen gegen die Wühlarbeit von Lobbygruppen vermittelt, wobei er lediglich zu einseitig gegen die Gewerkschaften schießt, schließlich gilt dasselbe auch für Arbeitgeberkartelle. Nicht, dass ich deine Literatur schon komplett gelesen und verarbeitet hätte, aber ich habe doch das meiste auch hier bzw. im Depot ... Ich denke, für dein Anliegen dürfte die liberale Tradition, von den Genannten Montesquieu und Kant, am wichtigsten sein. Die Wikipedia muss keine kosmische Ordnung abbilden und keine begrenzten Reichtümer verteilen. Sie will das Vordringen wirtschaftlicher Interessen begrenzen (was die Crux ist bei Artikeln über wirtschaftliche Unternehmen wie Buchverlage); sie will sich offen halten für das gleichberechtigte Mitwirken möglichst vieler; sie will aber auch einen möglichst hohen Standard an Objektivität und Relevanz sichern. Mit der Relevanz wird's schwierig. Dir geht es auch um die Begrenzung der Entscheidungsmacht einzelner, um Gewaltenteilung, checks and balances, "Legitimation durch Verfahren" (ein Buchtitel Luhmanns!). Wo ansetzen? Was zeichnet die Öffnung von Entscheidungs-"Räumen" aus? Hier sind, glaube ich, die zeitlich begrenzten Abstimmungsverfahren wichtig, sie sind sicher ein wesentliches basisdemokratisches Element. Wo werden sie theoretisch reflektiert? Die Admins als delegierte "Umsetzer" von Entscheidungen, die anderswo gefunden werden?
Du siehst, ich finde deine Initiative anregend. So grundsätzlich wie das Literaturstudium sollte dabei m. E auch die Analyse der Strukturen der Wikipedia vorgenommen werden. Wobei du da sicher schon weiter bist als ich.
Zum Thema Dichtung und Psychoanalyse stimme ich dir zu, du gibst mir da einiges zu denken. Die Begegnung, die das Gedicht vermittelt, und ihr Vorrang vor der ideologie- oder doch methodegegründeten Interpretation. Mich beschäftigt, dass Celan in seinen Gedichten so oft Toten und Totem begegnet. Was kann, was muss man da deuten? Was sagt das über ihn, was über die Wirklichkeit, in der er gelebt hat und in der wir leben?
Ich hab mir in deinem "Blutschuld"-Entwurf eine kleine Ergänzung erlaubt. Das Problem war weniger, das Zitat zu finden, als die Formatierung als Gedicht und Zitat. Die Vorlage Gedicht mit <poem> und </poem> ist offenbar mit der Vorlage Zitat nicht kombinierbar, aber mit <br/> habe ich die Darstellung schließlich geschafft. Einen Gruß -- Ankallim 06:29, 13. Apr. 2008 (CEST)
Nur ganz kurz ein Danke! für den Schiller-Zitatnachweis!--Sonnenblumen 13:29, 13. Apr. 2008 (CEST)
Wieder nur kurz: Die Celan-Stelle mit dem Schach! an die Wirklichkeit steht in der Prosa aus dem Nachlaß, Mikrolithen sind's, Steinchen, S. 102 - der Band als ganzer hält nach meinem Dafürhalten leider nicht ganz, was er "verspricht" und wirkt durch den Kommentar ziemlich aufgeblasen. Celan ist nunmal kein Prosaautor und wußte das auch, aber natürlich läßt sich der Wert einzelner poetologischer Reflexionen nicht taxieren; nur mein Gefühl angesichts des dicken Buchs war dann doch eine Enttäuschung. Jetzt hab ich aber auch mal eine von den vielen wunderbaren Trakl-Stellen, die mir neulich in den Kopf kam und etwas entlegen ist, eine frühere Fassung von Am Mönchsberg (dtv, S. 209) endet:
Weich umschmeichelt ein spärliches Grün das Knie des Fremdlings,
Ein milder Gott die sehr ermüdete Stirn,
Tastet silbern der Schritt in die Stille zurück.
Vor allem das "sehr" hier, einmalig - das Gemeinsame, was ich an Trakl und auch an George schätze, ist (ich sagte das vielleicht schon oben) das relativ gleichbleibende Niveau der einzelnen Werke, bei Trakl mindestens ab der Sebastian im Traum-Phase. Das strahlt für mich irgendwie eine Ruhe im eigenen Ingenium aus. Aber ich will mich auch nicht pauschal für dieses Kriterium einsetzen, nur glaub ich, das es meinen Wertschätzungen auch zugrundeliegt. Ich glaube, ich könnte einen gleichmäßig "mittelmäßigen" Dichter fast genauso mögen wie einen, dem viel mehr Vollkommenes glückt, der aber auch etliche Male "danebenhaut". Zu etwas ganz anderem: Hast Du Dich mal mit Yeats A Vision beschäftigt? Ich habe nur so einen billigen Gedichte-Auswahlband auf Englisch aus der Wordsworth-Classics-Library (oder ähnlich) und auf deutsch die Autobiographie, aber ich habe irgendwie noch nicht den Zug gefunden, wo ich aufspringen oder das Herz dieses Dichters vielleicht finden kann. Sag mir mal ein paar Gedichte! Gruß, --Sonnenblumen 23:16, 14. Apr. 2008 (CEST)
Hallo Sonnenblumen! Ich hab hier gerade nicht viel Muße für die Muse ... Das Trakl-Zitat ist schön, aber bei meinen Lesegewohnheiten nehme ich so etwas kaum wahr, bin da zu ungeduldig, brauche stärkere Aromen. Lasse mich aber doch gerne darauf hinweisen. Zu Celan: Kürzlich hatte ich den Band mit den Vorarbeiten zur Meridian-Rede in den Händen und habe dort wie du festgestellt, dass sich seine Gedichte eher nicht durch seine „prosaischen“ Äußerungen erschließen. Es sei denn, man dringt durch die Oberfläche der Texte hindurch und schaut auf die Bilder, die durch sie hindurchdriften. Ein Fund, über den ich da ganz glücklich war, war das hier. Dieser Levine ist ein großartiger Leser, und sein letztes Buch, das da habe ich gleich anschließend mit Gewinn gelesen. Derzeit bin ich übrigens an einem, zu dem ich mir schon mehrfach „(→ Yeats!)“ ins Exzerpt geschrieben habe. Es heißt "The Beribboned Bomb" und handelt unter anderem davon, wie manche Surrealisten Frauen als „Medien“ benutzten, um sich die Schätze des Unbewussten zu erschließen – so wie Yeats es mit seiner Frau George gemacht hat. A Vision habe ich nicht gelesen, hat mich nicht sonderlich interessiert, aber ich habe in den Bänden von Yeats' Vision Papers geblättert, weil mich interessierte, wie George ihm die Materialien, auf die er hoffte, zuspielte. (Abgedruckt sind dort ihre „mechanischen“ bzw. „diktierten“ Aufzeichnungen und die Karteikarteneinträge, die er auf dieser Grundlage anfertigte – wobei zumindest er ihre Texte ziemlich automatisch abgeschrieben hat.) Das Gedicht Veronica's Napkin, aus dem ich auf meiner Benutzerseite zitiere, geht auf eine solche Sitzung (von 1919) zurück, in der der „Geist“, der auf George wirkte, sie (oder Yeats) aufforderte, in einem Band von Frazers The Golden Bough, den er abgeblich unaufgeschnitten dastehen hatte, an einer bestimmten Stelle nach dem „Haar der Berenike“ zu schauen. Am angegebenen Ort ging es dann tatsächlich um abgeschnittene Haare, die der Berenike kommen freilich in dem ganzen Werk nicht vor. Über Catull, seine Quelle für das Haar der Berenike, hatte Yeats einige Zeit vorher in dem Gedicht The Scholars geschrieben, aus dem ich hier mal zitiert habe. Darf man spekulieren, was George ihm sagen wollte? Ich habe den Eindruck, dass er in Veronica's Napkin, geschrieben 1929 nach einer schweren Krankheit, etwas davon begriffen hat.
Harold Bloom hat Yeats irgendwo ein erstaunliches Alterswerk bescheinigt. Dir einzelne Gedichte zu nennen fällt mir schwer, ich bin da insgesamt kein guter Leser, wie gesagt, oft hektisch, ich brauche meistens erst mal eine geballte Interpretation, um auf ein Gedicht aufmerksam zu werden. Oder ich bin auf einer bestimmten Fährte und mache dann meine Überraschungsfunde, die aber mit meiner speziellen Suche zu tun haben.
Belton verknüpft in seinem Buch Psychoanalyse und die Analyse rhetorischer Figuren, wie ich finde, ganz fruchtbar. Mir selbst drängt sich eine solche Verknüpfung immer wieder auf. Bei Harold Bloom habe ich sie erstmals ausgearbeitet gefunden, Lacan mit seiner Entgegensetzung von Metapher und Metonymie zählt da noch nicht so recht. Lacan bezieht die rhetorischen Tropen auch nicht auf die Abwehrmechanismen, und schließlich geht es mir darum. Das zielt jetzt aber wieder sehr auf Theorie. Die Begegnung, die das Gedicht vermittelt ... In Veronica's Napkin begegne ich, glaube ich, einer Begegnung, der von Yeats mit seiner Frau, und darüber mit sich selbst. Einen herzlichen Gruß -- Ankallim 22:26, 16. Apr. 2008 (CEST)
Schreibst Du an einer Doktorarbeit oder ähnlichem? - Dein letztgenanntes Interesse kommt mir sehr spezialisiert vor, ich gestehe jedenfalls meine Neugier - möchte Dich aber nicht öffentlich ausfragen. (Und hier auch selbst nicht gern viel von mir preisgeben, was Rückschlüsse auf meine reale Person zuläßt; ich habe zumindest versucht, eine E-mail-Kontaktmöglichkeit für "Sonnenblumen" einzurichten, weiß aber nicht, wie anonym die ist.) - In den "Meridian-Papers" habe ich auch mal geblättert, die Rede selbst kenne ich einigermaßen gut. Wäre man doch gern in Darmstadt dabeigewesen. (Wer auf dem Kopf geht, meine Damen und Herren,...") Nur ertrage ich vieles "Geschriebene" über Gedichte nicht mehr, und bin der wissenschaftlichen Prosa müde geworden; natürlich gibt es immer wieder gute Arbeiten, vieles ist aber sehr unlebendig und selbstverliebt. Ich schaue mir Einflussangst aber auf jeden Fall nochmal genauer an, da Du Bloom so schätzt, und dieses Buch fand ich selbst auf Anhieb auch interssant, nur war ich mit den Dichtern selbst nicht so vertraut, was dann ja auch eine Schwierigkeit ausmacht. Meine voreilige Rigorosität im Urteilen habe ich ja schon bei Bion an den Tag gelegt; nun, meine erste Begegnung mit Bloom war ein Zitat im Nachwort zum Reclam-Bändchen Trakl: Fünfzig Gedichte, da heißt es: "Dieser Befund spiegelt sich in Harold Blooms skeptischer Lektüre-Prognose für das neue Jahrhundert: "Bei Rilke, Trakl, Celan stellt sich die Frage: Können sie ohne Vermittlung durch eine ernsthafte Exegese bestehen?"" (Zitat Bloom aus: Was sollen die Deutschen im 21. Jh. lesen, FAZ, 3.1.2000) - Diese Frage ist m.E. ganz klar mit Ja zu beantworten, und es wäre auch eine Schmach für einen Dichter, eine Dichtung, wenn er/sie der "Vermittlung" essentiell bedürfte. Natürlich, ja, ich habe es auch erlebt, durch eine Interpretation erst auf etwas zu kommen, aber wenn sich die Vermittlung so selbstherrlich aufspielt, bin ich mehr als geneigt mich abzukehren - und auf die direkte Kommunikation mit einem Kunstwerk zu setzen, die m.E. am Anfang und am Ende steht. Ich würde heutzutage, wo viele vermitteln wollen und noch mehr anscheinend vermittelt bekommen wollen, mich eher für den Gedanken stark machen wollen, es gebe und bedürfte auch keiner Vermittlung. (Der so einseitig zwar auch eine Halbwahrheit bleibt.) Gerade blätterte ich in einem neuen grellgrünen Reclam-Heft der Reihe "Erläuterungen und Dokumente", Friedrich Hölderlin: 10 Gedichte mit allgemeiner Interpretation und Stellenkommentar. Neben manchem, was ich als Bereicherung meiner eigenen Lektüre eingestehen mußte, war es der Grundton einerseits dem Leser andererseits dem Gedicht gegenüber, den ich bei aller wissenschaftlichen oder pädagogischen Seriosität als unwahrhaftig empfand, und das Überwiegende des Zeilenkommentars ist auf eine komische Weise nicht falsch, aber daneben zu nennen. Eine Frage, die sich mir stellt, ist da eher: Wie kann man angemessen über Gedichte schreiben, ohne dem Leser die Faszination und dem Gedicht (scheinbar) das Geheimnis zu nehmen und ohne zum "Volkshochschullehrer" zu werden? Die Gedichte, gerade auch die Celans, haben ja eine Tiefe, die alle rationale Reflexion, die man darauf wirft, eigentlich mitziehen muß in solche Tiefe, weshalb die wahre Interpretation demgemäß eine sein müßte, die nicht auf Anwort, Erklärung, Beschreibung aus ist, sondern durch ihre Bewegung selbst eine Tiefe und Unausdeutbarkeit, die dem flüchtigen Lesen entgeht, herausstellt. Um den Anfang von Ernst Jüngers Marmorklippen zu variieren: Ihr alle kennt den schalen Nachgeschmack, der uns so oft nach den "Erklärungen" im Mund zurückblieb. Wenn Du schreibend an etwas dran bist, möchte ich Dich jedenfalls nicht provoziert haben. Eine Grundentscheidung scheint mir die zu sein, wo man als ein über Gedichte Schreibender selbst steht, und ich halte (um es nochmal zu betonen) den psychoanalytischen Boden für eine durchaus seriöse Basis, wenn er sich klar als solcher und als ein damit perspektivisch begrenzer und nur seinen Gegenstand auslegender Standpunkt ausgibt. Und das "Gedicht an sich" oder das "Gedicht selbst" ist mehr als was in das "Gedicht als Gegenstand psychoanalytischer Betrachtung" eingeht. So long. Herzlich, --Sonnenblumen 21:24, 19. Apr. 2008 (CEST)

Gedichte lesen

Hallo Sonnenblumen, ich fang hier mal einen neuen Abschnitt an, um Scrollzeit zu sparen. Ich setze unsere Diskussion gerne fort, da musst du keine Sorge haben. An einer Dissertation sitze ich übrigens nicht, bin weit davon entfernt und in meinen Interessen für so etwas auch viel zu uferlos. Es ist jetzt fast zehn Jahre her, dass mir die Ähnlichkeit der Abwehrmechanismen der Psychoanalyse und der rhetorischen Tropen auffiel, und damals bin ich auch auf Bloom gestoßen – ich habe so eine Unart, bei jedem Gedanken wissen zu wollen, wer ihn auch schon gedacht hat, aber ich mache damit erstaunliche Funde. Vico, auf den Bloom sich in diesem Zusammenhang gerne bezieht, war schon davor einer meiner Lieblingsphilosophen, und so kam eins zum anderen. Die englischen und amerikanischen Dichter, von denen er in Einflussangst und den anschließenden Büchern handelt, waren auch mir erst mal fremd, ich erlebte die Beschäftigung mit ihnen aber als große Bereicherung.

Was das Einbringen persönlicher Auskünfte hier betrifft, falle ich ja auch nicht gerade mit der Tür ins Haus, am allerwenigsten auf meiner Benutzerseite, auf der ich wenig mehr als mein Symptom, meinen Fetisch präsentiere. In meiner langen Diskussion mit Reiner Stoppok letztes Jahr (die wir hier begannen) habe ich aber doch einiges von mir gegeben, am meisten hier. Eigentlich sollte die Wikipedia ja nicht unbedingt für diese persönlichen Sachen herhalten, ich weiß. Aber wenn sich durch einen solchen Austausch viele Themen und Verbesserungsmöglichkeiten erst ergeben ... Und gegenüber E-mails hat der Austausch hier auch den großen Vorteil, dass man den Diskussionsverlauf auf einmal vor Augen hat. (Übrigens habe ich die E-mail-Funktion für mich auch eingerichtet. Wenn du magst, kannst du sie gerne nutzen.)

Ich gebe dir Recht, dass Gedichte unmittelbar wirken und verständlich (oder unverständlich) sein sollten. Auch bei Sachen, die ich schon hundertmal gelesen habe, frage ich mich immer wieder, was sagen sie mir unmittelbar, wenn ich alles vergesse, was ich über sie weiß (so wie Bion es als Haltung des Analytikers in der therapeutischen Sitzung empfiehlt, in seinen Anmerkungen zu Erinnerung und Wunsch). Andererseits verändert das, was ich über ein Gedicht als Hintergrund erfahre, ja mich selbst, es verändert meine Sensibilität, es „bildet“ mich. Dabei gibt es natürlich viel, von dem ich gar nicht gebildet werden will, was eine sinnvolle Abwehr sein kann, aber auch eine, die man sich dann wiederum anschauen sollte ... Mein letztes Argument für die „theoretische“ Beschäftigung mit Gedichten ist, dass ich sie nicht unbedingt um ihrer selbst willen lese, oft nicht: Dass sie mir helfen sollen mehr zu verstehen – über mich selbst, darüber, was mit Sprache möglich ist, und schließlich über die Wirklichkeit, die ja ein Stück weit auch mit dichterischer Sprache erst geschaffen wird (das war die „priesterliche“ Aufgabe des Dichters, von der wir es kürzlich hatten: mein Kronzeuge für diese Funktion ist, vermittelt durch Bloom, Shelley mit seiner Defence of Poetry, deren Aussage er im viel zitierten letzten Satz bündelt). Das sind meine allgemeinen Motive, und dann kommen speziellere hinzu, die die konkrete Form von Gedichten, ihre besonderen Motive und Verfahren, möglicherweise auch ihre Beschränkungen betreffen. Hier ist mir einerseits die Psychoanalyse wichtig, andererseits ein historisches Verständnis, die geschichtliche Einbettung sowohl des Gedichts wie auch meines Zugangs zu ihm. Hier fand ich übrigens – jetzt nicht speziell für Gedichte, sondern für Literatur überhaupt – sehr hilfreich Fredric Jameson, Das politische Unbewusste (sein weitaus bestes Buch, wie ich finde, die anderen haben mir nicht so viel gegeben). Ein sehr globaler Anspruch, den ich da habe und der mich oft zurückwirft, lähmt. Am Ende werde ich Fragmente zu bieten haben, wie ich sie hier ja auch schon dauernd vorstelle. – Du scheinst mir in deinem Zugang zu Gedichten konzentrierter, von einem spezifischeren Gefühl (oder eben überhaupt von einem bestimmten Gefühl) ausgehend, was nicht weniger Reflexion bedeutet, sondern vielleicht mehr ...

Einen herzlichen Gruß zurück, -- Ankallim 09:13, 20. Apr. 2008 (CEST)

(Archivierungsedit.)-- Sonnenblumen 10:31, 5. Nov. 2008 (CET)

"Outside"

Hallo Sonnenblumen,

ich fordere Dich auf, meinen Namen aus Deiner umseitigen Prangerliste zu entfernen.

Gruß vom --Hardenacke 19:07, 14. Aug. 2010 (CEST)

Ich habe den Passus gelöscht. Es kann nicht angehen, rechtsextremer Propaganda Raum zu bieten. --Hardenacke 19:31, 14. Aug. 2010 (CEST)