Boltzmann-Gehirn

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Ludwig Boltzmann, Namensgeber des Boltzmann-Gehirns (1902)

Das Boltzmann-Gehirn ist ein Konzept in einem Gedankenexperiment der Kosmologie im Hinblick auf Aspekte der statistischen Physik. Es ist nach dem österreichischen Physiker Ludwig Boltzmann benannt, der sich mit der Frage beschäftigte, wie sich das gegenwärtig strukturierte Universum entwickeln konnte, wenn gemäß des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik die Entropie nicht abnehmen kann.[1][2] Boltzmann folgerte unter Annahme der Ergodenhypothese in der Thermodynamik, dass es in einem unbeschränkten Zeitraum innerhalb eines statischen Universums nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich sei, dass sogar aus dem thermodynamischen Gleichgewicht, einem maximal gleichförmigen Zustand des Universums mit maximaler Entropie, ein Boltzmann-Universum entsteht, in dem, das anthropische Prinzip vorwegnehmend, möglicherweise auch ein denkendes Gehirn wie seines vorkommt, das diese Betrachtungen anstellt.

Das Boltzmann-Gehirn ist eine Reductio ad absurdum dieser Vorstellung, bis hin zu dem Punkt, dass es ausschließlich dieses Gehirn geben muss und alles außerhalb dieses Gehirns eine Illusion sein könne, und diese Hypothese sogar viel wahrscheinlicher sei als eine Realität mit vielen denkenden Gehirnen in einem komplexen strukturierten Universum. Der absurde Aspekt dieser Vorstellung liegt dabei darin, dass es nach der Reduktion gar kein über das Gehirn hinausgehendes Universum mehr geben muss, über dessen Entwicklung das Boltzmann-Gehirn nachdenken müsste.

In einer Theorie, welche Boltzmann-Gehirne zulässt, befindet sich die überwältigende Mehrheit der Boltzmann-Gehirne in einem ungeordneten thermodynamischen Gleichgewicht, im Kontrast zu unserer Beobachtung einer geordneten Welt mit tiefem Entropie-Zustand.[3][4][5] Um die Gesetze der Thermodynamik mit unseren Beobachtungen zu vereinen, muss die Existenz der Boltzmann-Gehirne also umschifft werden. Boltzmann formulierte hierfür die Vergangenheits-Hypothese, gemäß welcher das Universum in einem Zustand mit ungewöhnlich geringer Entropie startete.[1] Dieses Postulat wurde unter anderem von Richard Feynman[4] und Roger Penrose[6] diskutiert und dient heute als Anwärter für das Postulat, welches den empirisch beobachteten Zeitpfeil mit der Reversibilität der statistischen Mechanik versöhnt.[7]

Das Problem des Zeitpfeils und Boltzmanns Lösung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wir beobachten tagtäglich irreversible physikalische Prozesse. Die Gesetze der Physik sind jedoch (bis auf gewisse Ausnahmen wie beispielsweise der Kollaps der Wellenfunktion) allesamt zeit-symmetrisch, verhalten sich also in die Zukunft gerichtet identisch wie in die Vergangenheit gerichtet. Boltzmann ging davon aus, dieses Problem durch das zweite Gesetz der Thermodynamik gelöst zu haben. Dieses besagt nämlich, dass die Entropie eines geschlossenen physikalischen Systems mit „geringer Entropie“ mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ (eine genaue Definition dieses Begriffs ist für diesen Abschnitt zu lang) in der Zukunft in einen Zustand hoher Entropie übergeht.[8] Doch dieses Gesetz ist auch zeit-symmetrisch, denn dasselbe Phänomen tritt auch in der Vergangenheit auf. Es ist also als solches nicht in der Lage, irreversible Prozesse zu erklären. Boltzmann selbst lieferte zu diesem zusätzlichen Problem mehrere Lösungsvorschläge, darunter:[1]

  1. Das Universum befand sich vor einiger Zeit wegen einer zufälligen Fluktuation in einem Zustand sehr tiefer Entropie. Unsere Beobachtungen irreversibler Prozesse sind Manifestationen der Rückkehr dieses Zustands tiefer Entropie zum thermodynamischen Gleichgewicht. Zu Zeiten von Boltzmann gab es keine Relativitätstheorie und man ging von einem statischen Universum aus. In einem solchen scheint dieser Vorschlag aufgrund des Fluktuationstheorems äußerst sinnvoll.
  2. Das Universum befand sich kurz nach dem Urknall (die ursprüngliche Formulierung von Boltzmann war anders, da er nichts von einem Urknall wusste) in einem Zustand sehr tiefer Entropie. Seitdem finden irreversible Prozesse statt, da sich diese Entropie fortwährend erhöht.

Das Problem des ersten Lösungsvorschlages[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der erste Vorschlag leidet nun unter dem Problem der Boltzmann-Gehirne. Wie Richard Feynman beispielsweise 1965 beschrieb,[4] ist eine Fluktuation, die einen intelligenten Beobachter (also beispielsweise einen Menschen) hervorruft, mit hoher Wahrscheinlichkeit so, dass sich die Umgebung dieses Beobachters in vollständigem Chaos befindet. Der erste Vorschlag von Boltzmann unterstützt also nicht nur ungewollt den Solipsismus (da beispielsweise gemäß diesem Vorschlag alle Erinnerungen dieses Beobachters höchstwahrscheinlich nur das Ergebnis einer zufälligen Fluktuation sind), er macht auch die falsche Vorhersage, dass die von uns beobachtete Entropie sehr hoch ist. Somit ist der erste Vorschlag falsifiziert.

(Es sei noch bemerkt, dass, je nachdem, welche a-priori-Wahrscheinlichkeiten postuliert werden, sich der erste Vorschlag möglicherweise nicht so leicht falsifizieren lässt.[9] Doch in jedem Fall steht fest, dass das erste Postulat epistemologisch unvereinbar ist mit anderen Postulaten (wie beispielsweise den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie, der Atomistik und der Thermodynamik), welche benötigt werden, um diesen Lösungsvorschlag überhaupt zu formulieren. Also kann dieser Lösungsvorschlag nicht als richtig angenommen werden.)

Probleme des zweiten Lösungsvorschlages[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der englische Mathematiker Roger Penrose hat die Wahrscheinlichkeit dafür abgeschätzt, dass die Anfangsbedingungen des Universums genau so sind, wie sie sind, falls sie zufällig ausgewählt wurden:[10] Sie beträgt 1 zu .[10] Dies scheint auf den ersten Blick ein großes Problem des zweiten Lösungsvorschlages zu sein, da er unglaublich unwahrscheinlich zu sein scheint. Doch bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass man nicht schlussfolgern kann, dass der zweite Lösungsvorschlag unwahrscheinlich ist, ohne einen Kategorienfehler zu begehen. Denn die Anfangsbedingungen des Universums unterliegen keineswegs den statistischen Postulaten der mikroskopischen statistischen Mechanik.[11] Es gibt keinen physikalischen, philosophischen (oder sonstigen) Grund anzunehmen, dass die Anfangsbedingungen zufällig gewählt wurden.[12]

Es gibt heutzutage allerdings keinen Konsens, ob und wie sich das zweite Gesetz der Thermodynamik auf das gesamte Universum anwenden lässt, ob und wie es sich mit der Gravitation vereinigen lässt, und ob der zweite Vorschlag von Boltzmann unter Einbezug der Gravitation überhaupt wohl-definiert ist.[8] Zudem gibt es keinen vollständigen Konsens, ob und wie sich der zweite Vorschlag sinnvoll durch Argumente aus der Kosmologie ableiten lassen kann.[8] Ein kontroverser Mechanismus, der eine solche Ableitung ermöglichen könnte, ist die Inflation.[13]

Rückkehr der Boltzmann-Gehirne[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Problem der Boltzmann-Gehirne gewann in den letzten 20 Jahren wieder an Bedeutung, da sich, unter gewissen, spekulativen[14] (und umstrittenen[15]) Annahmen in der Quantenfeldtheorie und einer gewissen Interpretation des holografischen Prinzips ableiten lässt, dass sich in der fernen Zukunft des Universums zahlreiche Boltzmann-Gehirne formen werden.[16] Der Physiker Sean M. Carroll argumentierte beispielsweise, dass sich physikalische Modelle falsifizieren lassen, falls sie die Formierung von Boltzmann-Gehirnen vorhersagen.[3]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Dennis Overbye: Big Brain Theory: Have Cosmologists Lost Theirs? In: The New York Times. 15. Januar 2008 (nytimes.com [abgerufen am 16. Oktober 2019]).
  • Greene, Brian. Bis zum Ende der Zeit: Der Mensch, das Universum und unsere Suche nach dem Sinn des Lebens. Deutschland: Siedler Verlag, 2020.
  • Aigner, Florian. Der Zufall, das Universum und du: Die Wissenschaft des Glücks. Österreich: Christian Brandstätter Verlag, 2017.
  • Rauner, Max, Hürter, Tobias. Die verrückte Welt der Paralleluniversen: Wie oft gibt es uns wirklich?. Deutschland: Piper ebooks, 2012.
  • Chown, Marcus. Intelligentes Leben im Universum: Was wir im Alltag über Physik lernen können. Deutschland: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2012.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c Ludwig Boltzmann: Zu Hrn. Zermelo's Abhandlung „Ueber die mechanische Erklärung irreversibler Vorgänge“. In: Annalen der Physik und Chemie. Band 296, Nr. 2, 1897, ISSN 1521-3889, S. 392–398, doi:10.1002/andp.18972960216 (wiley.com [abgerufen am 7. Januar 2023]).
  2. S. G. Brush: Kinetische Theorie II: Irreversible Prozesse: Einführung und Originaltexte. In: Kinetische Theorie II: Irreversible Prozesse. De Gruyter, 2022, ISBN 978-3-11-259676-0, doi:10.1515/9783112596760/html (degruyter.com [abgerufen am 2. Januar 2024]).
  3. a b S. M. Carroll: Why Boltzmann brains are bad. Ithaca NY 2017; arxiv:1702.00850.
  4. a b c Richard P. Feynman: The character of physical law. M.I.T. Press, Cambridge, Mass. 1965, ISBN 0-262-06016-7.
  5. Don N. Page: Bayes Keeps Boltzmann Brains at Bay. 1. August 2017, abgerufen am 7. Januar 2023.
  6. Penrose R.: Singularities and time-asymmetry. In: Cambridge University Press. 1979 (englisch, iaea.org).
  7. Dan Falk: A Debate Over the Physics of Time. In: Quanta Magazine. 19. Juli 2016, abgerufen am 27. Februar 2022 (englisch).
  8. a b c The “Past Hypothesis”: Not even false. In: Studies in History and Philosophy of Science Part B: Studies in History and Philosophy of Modern Physics. Band 37, Nr. 3, 1. September 2006, ISSN 1355-2198, S. 399–430, doi:10.1016/j.shpsb.2006.03.002 (sciencedirect.com [abgerufen am 23. Mai 2021]).
  9. Eric Winsberg: Bumps on the Road to Here (from Eternity). In: Entropy. Band 14, Nr. 3, März 2012, S. 390–406, doi:10.3390/e14030390 (mdpi.com [abgerufen am 24. Mai 2021]).
  10. a b Riedochse: Boltzmann-Gehirne – Das Introversum. In: introversum.de. 3. April 2016, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 2. März 2021; abgerufen am 16. Oktober 2019 (deutsch).
  11. Miles Alexander Dawborne: Explaining Low Entropy: An Examination of the Efficacy of Cosmological Explanations for the Second Law of Thermodynamics. 2014, doi:10.7916/d8057fwf (Columbia University).
  12. S. Hossenfelder: Screams for Explanation: Finetuning and Naturalness in the Foundations of Physics. 7. Januar 2018, doi:10.1007/s11229-019-02377-5.
  13. Sabine Hossenfelder: Sabine Hossenfelder: Backreaction: Inflation: Status Update. In: Sabine Hossenfelder. 8. März 2019, abgerufen am 23. Mai 2021.
  14. Krauss on Boltzmann Brains | Not Even Wrong. Abgerufen am 23. Mai 2021 (amerikanisches Englisch).
  15. Urban Myths in Contemporary Cosmology. In: The n-Category Café. Abgerufen am 24. Mai 2021 (englisch).
  16. Lisa Dyson, Matthew Kleban, Leonard Susskind: Disturbing Implications of a Cosmological Constant. In: Journal of High Energy Physics. Band 2002, 12. November 2002, doi:10.1088/1126-6708/2002/10/011.