CANVAS (Erkrankung)

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

CANVAS (Cerebellar Ataxia, Neuropathy, Vestibular Areflexia Syndrome) ist eine genetisch bedingte neurodegenerative Erkrankung mit autosomal-rezessivem Erbgang. Die Ursache ist eine biallelische Mutation des RFC1 (replication factor C subunit 1)-Genes.[1]

Klassifikation nach ICD-10
G11.8 Sonstige hereditäre Ataxie
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Symptome[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Erste Symptome der Erkrankung treten meist im mittleren Lebensalter nach dem 35. Lebensjahr auf. Die Erkrankung wird durch die drei namensgebenden Hauptsymptome (Zerebelläre Ataxie, Neuropathie und Vestibulopathie) charakterisiert, wobei sich diese meist nacheinander und schleichend einstellen. In vielen Fällen ist eine Störung des Berührungsempfindens in Folge einer Nervenschädigung (sensible Polyneuropathie) das erste neurologische Symptom, die beiden anderen Symptomkomplexe können im Verlauf von Monaten bis Jahren hinzutreten. Den neurologischen Symptomen um Jahrzehnte voraus geht bei einem Großteil der Patienten ein trockener Reizhusten. Symptomkonstellationen neben dem klassischen „CANVAS“ werden unter dem Begriff der „RFC1-Spektrum-Erkrankungen“[2] zusammengefasst, sofern bei der betroffenen Person eine biallelische Mutation des RFC1-Genes nachgewiesen wurde.

Neuropathie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Erstes neurologisches Symptom ist häufig eine sensible Neuropathie.[3] Die betroffenen Personen beklagen zunächst Gefühlsstörungen (z. B. Taubheit, Pelzigkeit) und Missempfindungen (Spannungsgefühl, Kribbeln) der Füße, insbesondere der Zehen. Oft sind schon im frühen Krankheitsverlauf die Hände betroffen. Das Vibrations- und Lageempfinden ist gestört. Im weiteren Verlauf wird die Trittsicherheit dadurch zunehmend beeinträchtigt, vor allem auf unebenem Untergrund oder in der Dunkelheit kann es zu vermehrtem Stolpern und Stürzen kommen. Die Feinmotorik der Hände kann herabgesetzt sein.

Zerebelläre Ataxie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Erkrankung kann eine zunehmende Schädigung und Schrumpfung des Kleinhirns bewirken. Folgen dieser zerebellären Ataxie sind Störungen der Koordination, Bewegungen der Arme und Beine werden ungenau, das anvisierte Ziel verfehlt. Der Stand und das Gangbild werden unsicher oder schwankend, die Sprache undeutlich artikuliert oder verwaschen.

Vestibulopathie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Erkrankung kann die Funktion der Gleichgewichtsorgane des Innenohrs betreffen. Folgen sind Gangunsicherheit und Schwindelsymptome. Da die Gleichgewichtsorgane auch Bedeutung für die Steuerung von Augenbewegungen haben (Vestibulo-okulärer Reflex), können Betroffene unter Sehstörungen leiden, das Fixieren des Blickes beim Gehen oder bei Bewegungen des Kopfes ist erschwert (Oszillopsien).

Weitere Symptome[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der Literatur werden zahlreiche weitere Symptome beschrieben. Die folgende Auflistung zeigt die Verteilung der Häufigkeiten:[4]

Andere Symptome (beispielsweise Demenz, Beeinträchtigungen von Motoneuronen und Parkinson-ähnliche Symptome) werden zwar in einigen Fällen berichtet,[5][6] in Symptombeschreibungen anderer Studien jedoch nicht aufgeführt,[4] verneint[7] und sogar zur differentialdiagnostischen Abgrenzung herangezogen. So wird beispielsweise das Fehlen von Demenz zur Abgrenzung gegenüber dem Gerstmann-Sträussler-Scheinker-Syndrom genutzt.[2] Derartige Symptome sind daher als umstritten zu betrachten.

Ursache[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die genetische Ursache von CANVAS gilt seit 2019 als geklärt.[1] Der Erkrankung liegt eine biallelische Nukleotidexpansion zugrunde. Am häufigsten handelt es sich um ein krankheitsauslösendes Pentanukleotid „AAGGG-Motiv“ mit mehr als 400 Wiederholungen auf beiden Allelen.[2] Nach vorherrschender Meinung führt nur eine Mutation beider Allele zur Erkrankung, d. h. die Vererbung folgt einem autosomal-rezessiven Muster.

Verbreitung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Häufigkeit von heterozygoten Trägern einer AAGGG-Repeatmutation auf einem Allel wird in Europa mit 0,7 % bis 4,0 % der Bevölkerung angegeben.[2] Demnach liegt die Prävalenz der krankheitsauslösenden biallelischen Mutation zwischen 0,0049 % und 0,16 %. Bislang wird die Erkrankung jedoch nur bei einem kleinen Teil der Betroffenen erkannt, so dass CANVAS in der Datenbank Orphanet als seltene Erkrankung (rare disease) mit einer Prävalenz von weniger als 0,0001 % gelistet wird.[8]

Diagnose[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die neurologischen Symptome und die Beurteilung ihres Schweregrades werden mit der körperlichen Untersuchung durch einen Facharzt für Neurologie erfasst. Zusätzlich können apparative Untersuchungen angewandt werden, beispielsweise die Elektroneurographie (ENG) zur Beurteilung der Neuropathie, die Kernspintomographie zur Darstellung des Kleinhirnes oder eine kalorische Vestibularisprüfung zur Beurteilung der Funktion der Gleichgewichtsorgane. Zur Diagnosesicherung ist eine humangenetische Testung mit Nachweis der Mutation des RFC1-Genes auf beiden Allelen erforderlich.

Therapie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eine kausale Therapie ist nicht bekannt. Die Behandlung erfolgt bislang rein symptomorientiert. Physiotherapie und Neurorehabilitation können evtl. dazu beitragen, die Funktion möglichst lange zu erhalten.

Analog zu anderen genetisch bedingten neurodegenerativen Erkrankungen, denen eine Nukleotidexpansion zugrunde liegt, scheint die Entwicklung einer spezifischen Gentherapie („gene silencing“) auch bei RFC1-assoziierten Erkrankungen in naher Zukunft möglich.

Verlauf[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Verlauf RFC1-assoziierter Erkrankungen ist individuell verschieden. Bei einigen Betroffenen kann die Erkrankung über Jahrzehnte auf eine sensible Polyneuropathie beschränkt bleiben. Meist ist der Krankheitsverlauf langsam und die durchschnittliche Lebenserwartung nicht reduziert (im Gegensatz etwa zur Multisystematrophie). Allerdings benötigten in einer Patientenkohorte rund 50 % der Betroffenen nach 10 Jahren einen Gehstock, ein Viertel war nach 15 Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen.[2]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Andreas Thieme, Christel Depienne, Dagmar Timmann et al.: Cerebellar ataxia, neuropathy and vestibular areflexia syndrome (CANVAS): from clinical diagnosis towards genetic testing. In: Medizinische Genetik. Band 33, Nr. 4, 2021, S. 301–310, doi:10.1515/medgen-2021-2098.
  • Tobias Meindl et al.: CANVAS: Fallbericht einer neuen Repeat-Erkrankung mit spät beginnender Ataxie. In: Nervenarzt. Band 91, Nr. 6, 2020, S. 537–540, doi:10.1007/s00115-020-00912-1, PMID 32367146.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b Andrea Cortese et al.: Biallelic expansion of an intronic repeat in RFC1 is a common cause of late-onset ataxia. In: Nature Genetics. Band 51, Nr. 4, 2019, S. 649–658, doi:10.1038/s41588-019-0372-4, PMID 30926972.
  2. a b c d e Andrea Cortese: RFC1 CANVAS / Spectrum Disorder 2020, In: Gene Reviews. PMID 33237689
  3. Riccardo Currò et al.: RFC1 expansions are a common cause of idiopathic sensory neuropathy. In: Brain. Band 144, Nr. 5, 2021, S. 1542–1550, doi:10.1093/brain/awab072, PMID 33969391.
  4. a b Natalia Dominik, Valentina Galassi Deforie, Andrea Cortese, Henry Houlden: CANVAS: a late onset ataxia due to biallelic intronic AAGGG expansions. In: Journal of Neurology. Band 268, Nr. 3, 10. September 2020, S. 1119–1126, doi:10.1007/s00415-020-10183-0.
  5. Anita Korpioja, Johanna Krüger, Anri Hurme-Niiranen, Eino Solje, Kasper Katisko, Joonas Lipponen, Maria Lehtilahti, Anne M. Remes, Kari Majamaa, Laura Kytövuori: Cognitive impairment is not uncommon in patients with biallelic RFC1 AAGGG repeat expansion, but the expansion is rare in patients with cognitive disease. In: Parkinsonism & Related Disorders. Band 103, 1. Oktober 2022, S. 98–101, doi:10.1016/j.parkreldis.2022.08.034.
  6. Vincent Deramecourt, Giulia Coarelli, Christian Guemy, Susana Boluda, Rabab Debs, Fanny Mochel, Tanya Stojkovic, David Grabli, Thierry Maisonobe, Bertrand Gaymard, Timothée Lenglet, Céline Tard, Jean-Baptiste Davion, Bernard Sablonnière, Marie-Lorraine Monin, Claire Ewenczyk, Karine Viala, Perrine Charles, Isabelle Le Ber, Mary M. Reilly, Henry Houlden, Andrea Cortese, Danielle Seilhean, Alexis Brice, Alexandra Durr: Motor neuron pathology in CANVAS due to RFC1 expansions. In: Brain. Band 145, Nr. 6, 20. Dezember 2021, S. 2121–2132, doi:10.1093/brain/awab449.
  7. Andrea Cortese, Roberto Simone, Roisin Sullivan, Jana Vandrovcova, Huma Tariq, King Wai Yau, Jack Humphrey, Zane Jaunmuktane, Prasanth Sivakumar, James M. Polke, Muhammad Ilyas, Eloise Tribollet, Pedro J. Tomaselli, Grazia Devigili, Ilaria Callegari, Maurizio Versino, Vincenzo Salpietro, Stephanie Efthymiou, Diego Kaski, Nicholas W. Wood, Nadja S. Andrade, Elena Buglo, Stephan Züchner, Mary M. Reilly, Adolfo M. Bronstein, Pietro Fratta, Wilson Marques, Stephan Züchner, Henry Houlden: Biallelic expansion of an intronic repeat in RFC1 is a common cause of late-onset ataxia. In: Nature Genetics. Band 51, Nr. 4, 29. März 2019, S. 649–658, doi:10.1038/s41588-019-0372-4.
  8. Webseite des Orphanet (Datenbankeintrag "CANVAS" vom 18. Juni 2023)