Cannabis-Hyperemesis-Syndrom

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Das Cannabis-Hyperemesis-Syndrom oder Cannabinoid-Hyperemesis-Syndrom ist unter Umständen eine Erkrankung, die als paradoxe Reaktion auf Cannabis durch jahrelangen hohen Cannabiskonsum auftreten könnte.[1][2][3] Ob dies aber tatsächlich so ist, ist umstritten, nicht zuletzt aufgrund der sehr geringen Fallzahlen, mangelnden Diagnosekriterien sowie die nicht einzuschätzende Ehrlichkeit bezüglich eines möglichen Cannabiskonsums durch die Patienten.[4]

Symptome[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Typischerweise besteht ein mehrjähriger, täglicher Cannabiskonsum bevor Übelkeit und Erbrechen einsetzen. Das Erbrechen wird als zyklisch beschrieben. Alle paar Wochen oder Monate kommt es zu häufigeren, insbesondere morgendlichen, starken Erbrechen, was wenige Tage anhalte. Seltener ist das Erbrechen nach dem Essen. Begleitend treten Bauchschmerzen, Schwitzen, leichte Änderungen der Körpertemperatur und Gewichtsverlust auf. Es trifft typischerweise junge Patienten. Jedoch sind die Symptome praktisch identisch zu denen des viel häufiger vorkommenden Syndroms des zyklischen Erbrechens.

In der australischen Erstbeschreibung von 2004 wird erwähnt, dass neun von zehn Patienten sich während der Phasen des Erbrechens sehr häufig heiß badeten und wuschen, was zu einer Besserung der Symptome führen würde.[5] Dieses Verhalten fiel während der stationären Behandlung auf. Die Patienten seien sogar nachts aufgewacht, um sich zu waschen. Auch in einer weiteren Fallsammlung mit 98 Patienten wird bei etwas mehr der Hälfte berichtet, dass sie sich heiß duschen oder baden würden, um das Erbrechen zu lindern.[6]

Pathomechanismus[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Pathomechanismus ist nicht geklärt. Merkwürdigerweise hat Cannabis eher antiemetische Eigenschaften und wird selten gegen Übelkeit und Erbrechen nach einer Chemotherapie eingesetzt.[7] Die Pathophysiologie müsste also erklären, warum Cannabis antiemetisch und zyklisch emetisch wirkt. Vermutet werden Änderungen in der Hypopthalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse. Das heiße Duschen ist ein häufig genanntes Argument für die Beteiligung dieser Hormon-Achse. Jedoch handelt es sich hierbei nur um Spekulationen. Ein Tiermodell für das Cannabis-Hyperemesis-Syndrom ist nicht etabliert und entsprechende Studien an Menschen liegen ebenfalls nicht vor.[8]

Therapie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Symptomatisch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der hyperemetischen Phase werden Antiemetika gegeben sowie auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr – allenfalls mit Infusionen – geachtet. Antiemetika sollen schlechter als üblich wirken. 2021 wurde eine randomisierte kontrollierte Studie veröffentlicht, die eine Überlegenheit von Haloperidol zeigte, jedoch bestanden ebenfalls erhebliche Bedenken über die Durchführung.[9] Beispielsweise sind viele Patienten nicht in die Studie eingeschlossen worden oder haben die Studie vorzeitig beendet.[10]

Kausal[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sollte das Cannabinoid-Hyperemesis-Syndrom tatsächlich durch Cannabiskonsum hervorgerufen werden, liegt die Empfehlung nahe, durch den völligen Verzicht auf Cannabis die Wahrscheinlichkeit eines Wiederauftretens des Syndroms zu mindern.

Kontroverse über Existenz des Syndroms[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Es ist unklar, ob das Cannabis-Hyperemesis-Syndrom eine eigenständige Erkrankung ist oder die Patienten missdiagnostiziert sind und eigentlich an einem Syndrom des zyklischen Erbrechens mit begleitend erhöhten Cannabiskonsum leiden. Ein Unterscheidung wäre angebracht, wenn sich die betroffenen Patienten stark unterscheiden, die Symptome sich deutlich voneinander abheben, der Verlauf anders ist, eine eindeutige Pathophysiologie beschrieben wäre oder spezifische Therapien für je ein Syndrom bestehen würden.[11]

In den anerkannten Rome-IV-Kriterien von 2016 wird das Cannabis-Hyperemsis-Syndrom unter den funktionellen gastrointestinalen Syndromen geführt, zu dem auch das Reizdarmsyndrom gehört.[12] Das Syndrom sei nicht ausreichend charakterisiert und akzeptiert, um als eigene Erkrankung eingestuft zu werden. Gleichzeitig wurden damit Diagnosekriterien definiert, die unter anderem fordern, dass die Symptome nach Cannabisabstinenz verschwinden.

Die Fallbeschreibungen und Daten zu Cannabis-Hyperemesis-Syndrom sind heterogen. Die unterschiedlichen Autoren haben unterschiedliche Einschlusskriterien und unterschiedliche diagnostische Herangehensweisen. Die Patienten werden selten nachverfolgt. Letztlich ist damit unklar, ob Cannabis kausal ist, eine simple Assoziation zum Syndrom des zyklischen Erbrechens oder ein Trigger für eine genetische Disposition. Beispielsweise konnte gezeigt werden, dass Patienten mit einem Syndrom des zyklischen Erbrechens zur Eigentherapie Cannabis aufgrund seiner antiemetischen Eigenschaften verwenden.[13] In dieser Studie erfüllte letztlich nur einer von 140 Patienten, die oben genannten Rome-IV-Kriterien.

Das teilweise als beweisend beschriebene heiße Baden und Duschen bei chronischen Cannabiskonsum und zyklischen Erbrechen tritt auch beim allgemeinen Syndrom des zyklischen Erbrechens auf und ist allenfalls durch Cannabiskonsum etwas verstärkt.[14]

Es wäre zu erwarten, dass bei zunehmenden Cannabiskonsum, z. B. im Rahme einer Legalisierung, sich mehr Patienten mit Cannabis-Hyperemesis-Syndrom präsentieren. Das wäre ein Argument für die Existenz des Syndroms. Um diese Frage zu beantworten, sind epidemiologische Studien erfolgt, die sich die Häufigkeit nach Legalisierung von Cannabis anschauen. Tatsächlich hat die Zahl zyklischen Erbrechens nach Legalisierung in den untersuchten Gegenden in Ontario und Colorado zugenommen, was für die Existenz eines Cannabis-Hyperemesis-Syndroms spräche.[15][16] Die Fallzahlerhöhung kann auf einen Verfügbarkeitsfehler zurückgeführt werden und Ärzte nach der Legalisierung häufiger nach zyklischem Erbrechen fragten.

Ein weiteres Argument gegen die Existenz als eigenständiges Syndrom ist der Jahrhunderte alte Gebrauch von Cannabis. Es wäre zu erwarten, dass bereits früher ein Cannabis-Hyperemesis-Syndrom beschrieben worden wäre. Befürworter äußern, dass sich die Zusammensetzung von THC und CBD in Cannabis verändert haben und deswegen erste Beschreibungen erst nach 2000 erfolgten.[17]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. J. A. Galli, R. A. Sawaya, F. K. Friedenberg: Cannabinoid hyperemesis syndrome. In: Current drug abuse reviews. Band 4, Nummer 4, Dezember 2011, S. 241–249, PMID 22150623, PMC 3576702 (freier Volltext) (Review).
  2. J. K. Ruffle, S. Bajgoric, K. Samra, S. Chandrapalan, Q. Aziz, A. D. Farmer: Cannabinoid hyperemesis syndrome: an important differential diagnosis of persistent unexplained vomiting. In: European journal of gastroenterology & hepatology. Band 27, Nummer 12, Dezember 2015, S. 1403–1408, doi:10.1097/MEG.0000000000000489, PMID 26445382.
  3. Pauline Bartolone: Heavy marijuana use linked to rare vomiting illness. In: edition.cnn.com. 4. Dezember 2017, abgerufen am 13. Februar 2024 (englisch).
  4. H. S. Kim, J. D. Anderson, O. Saghafi, K. J. Heard, A. A. Monte: Cyclic vomiting presentations following marijuana liberalization in Colorado. In: Academic Emergency Medicine. Band 22, Nummer 6, Juni 2015, S. 694–699, doi:10.1111/acem.12655, PMID 25903855, PMC 4469074 (freier Volltext).
  5. J H Allen, G M de Moore, R Heddle, J C Twartz: Cannabinoid hyperemesis: cyclical hyperemesis in association with chronic cannabis abuse. In: Gut. Band 53, Nr. 11, November 2004, ISSN 0017-5749, S. 1566–1570, doi:10.1136/gut.2003.036350, PMID 15479672, PMC 1774264 (freier Volltext).
  6. Douglas A. Simonetto, Amy S. Oxentenko, Margot L. Herman, Jason H. Szostek: Cannabinoid Hyperemesis: A Case Series of 98 Patients. In: Mayo Clinic Proceedings. Band 87, Nr. 2, Februar 2012, ISSN 0025-6196, S. 114–119, doi:10.1016/j.mayocp.2011.10.005, PMID 22305024, PMC 3538402 (freier Volltext).
  7. Cannabis als Medizin? Abgerufen am 18. Januar 2024.
  8. Abhilash Perisetti, Mahesh Gajendran, Chandra Shekhar Dasari, Pardeep Bansal, Muhammad Aziz, Sumant Inamdar, Benjamin Tharian, Hemant Goyal: Cannabis hyperemesis syndrome: an update on the pathophysiology and management. In: Annals of Gastroenterology. Band 33, Nr. 6, 2020, ISSN 1108-7471, S. 571–578, doi:10.20524/aog.2020.0528, PMID 33162734, PMC 7599351 (freier Volltext).
  9. Aaron J. Ruberto, Marco L. A. Sivilotti, Savannah Forrester, Andrew K. Hall, Frances M. Crawford, Andrew G. Day: Intravenous Haloperidol Versus Ondansetron for Cannabis Hyperemesis Syndrome (HaVOC): A Randomized, Controlled Trial. In: Annals of Emergency Medicine. Band 77, Nr. 6, Juni 2021, ISSN 1097-6760, S. 613–619, doi:10.1016/j.annemergmed.2020.08.021, PMID 33160719 (nih.gov [abgerufen am 18. Januar 2024]).
  10. Ghina Moussa, Madeleine Genest, Eric Villeneuve, Josh J. Wang: Intravenous Haloperidol Versus Ondansetron for Cannabis Hyperemesis Syndrome (HaVOC): A Randomized, Controlled Trial. In: Annals of Emergency Medicine. Band 77, Nr. 5, Mai 2021, ISSN 0196-0644, S. 555, doi:10.1016/j.annemergmed.2020.12.016.
  11. Thangam Venkatesan, Cecilia J. Hillard, Lisa Rein, Anjishnu Banerjee, Krista Lisdahl: Patterns of Cannabis Use in Patients With Cyclic Vomiting Syndrome. In: Clinical Gastroenterology and Hepatology: The Official Clinical Practice Journal of the American Gastroenterological Association. Band 18, Nr. 5, Mai 2020, ISSN 1542-7714, S. 1082–1090.e2, doi:10.1016/j.cgh.2019.07.039, PMID 31352091 (nih.gov [abgerufen am 18. Januar 2024]).
  12. Douglas A. Drossman: Functional Gastrointestinal Disorders: History, Pathophysiology, Clinical Features, and Rome IV. In: Gastroenterology. Band 150, Nr. 6, Mai 2016, ISSN 0016-5085, S. 1262–1279.e2, doi:10.1053/j.gastro.2016.02.032.
  13. Thangam Venkatesan, Cecilia J. Hillard, Lisa Rein, Anjishnu Banerjee, Krista Lisdahl: Patterns of Cannabis Use in Patients With Cyclic Vomiting Syndrome. In: Clinical Gastroenterology and Hepatology: The Official Clinical Practice Journal of the American Gastroenterological Association. Band 18, Nr. 5, Mai 2020, ISSN 1542-7714, S. 1082–1090.e2, doi:10.1016/j.cgh.2019.07.039, PMID 31352091 (nih.gov [abgerufen am 18. Januar 2024]).
  14. Imran Aziz, Olafur S. Palsson, William E. Whitehead, Ami D. Sperber, Magnus Simrén, Hans Törnblom: Epidemiology, Clinical Characteristics, and Associations for Rome IV Functional Nausea and Vomiting Disorders in Adults. In: Clinical Gastroenterology and Hepatology. Band 17, Nr. 5, April 2019, ISSN 1542-3565, S. 878–886, doi:10.1016/j.cgh.2018.05.020.
  15. Daniel Thomas Myran, Rhiannon Roberts, Michael Pugliese, Monica Taljaard, Peter Tanuseputro, Rosalie Liccardo Pacula: Changes in Emergency Department Visits for Cannabis Hyperemesis Syndrome Following Recreational Cannabis Legalization and Subsequent Commercialization in Ontario, Canada. In: JAMA Network Open. Band 5, Nr. 9, 16. September 2022, ISSN 2574-3805, S. e2231937, doi:10.1001/jamanetworkopen.2022.31937, PMID 36112372, PMC 9482056 (freier Volltext).
  16. George Sam Wang, Christine Buttorff, Asa Wilks, Daniel Schwam, Gregory Tung, Rosalie Liccardo Pacula: Changes in Emergency Department Encounters for Vomiting After Cannabis Legalization in Colorado. In: JAMA Network Open. Band 4, Nr. 9, 17. September 2021, ISSN 2574-3805, S. e2125063, doi:10.1001/jamanetworkopen.2021.25063, PMID 34533572, PMC 8449280 (freier Volltext).
  17. Mahmoud A. ElSohly, Zlatko Mehmedic, Susan Foster, Chandrani Gon, Suman Chandra, James C. Church: Changes in Cannabis Potency Over the Last 2 Decades (1995–2014): Analysis of Current Data in the United States. In: Biological Psychiatry. Band 79, Nr. 7, April 2016, ISSN 0006-3223, S. 613–619, doi:10.1016/j.biopsych.2016.01.004, PMID 26903403, PMC 4987131 (freier Volltext).