Der Richter und sein Henker

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Der Richter und sein Henker ist ein Roman des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt, der zuerst vom 15. Dezember 1950 bis zum 31. März 1951 in acht Folgen in der Wochenzeitschrift Der Schweizerische Beobachter erschien.

Inhalt

Im Roman geht es um zwei Kriminalfälle, die zeitlich weit auseinander liegen, aber durch die gegensätzlichen Charaktere des Berner Kommissärs Bärlach und des Abenteurers Gastmann verbunden sind, der sich inzwischen nach Lamboing oberhalb des Bieler Sees zurückgezogen hat. Vor vier Jahrzehnten wetteten die beiden um die Wirkung des Zufalls: Bärlach behauptete, dass der Zufall letztlich alle Verbrechen ans Tageslicht bringe, Gastmann dagegen, dass gerade die Verworrenheit der menschlichen Beziehungen die meisten Verbrechen nicht nur ungeahndet, sondern sogar ungeahnt lasse. Zum Beweis tötet er drei Tage später vor den Augen Bärlachs einen Kaufmann, und es gelingt Bärlach nicht, ihn dingfest zu machen. Während Gastmann eine erfolgreiche Verbrecherkarriere macht, ist Bärlach immer einen Schritt hinterher.

Nach vierzig zermürbenden Jahren und inzwischen todkrank, schleust Bärlach als letzten Versuch seinen besten Mitarbeiter Schmied unter falschem Namen in Gastmanns – in Politik und Finanzwelt gut vernetzte – gehobene Gesellschaft ein. Nach ersten Ergebnissen wird Schmied aber auf einer Landstraße zwischen Twann und Lamboing in seinem Auto ermordet aufgefunden. Damit beginnt der Roman. Zur Unterstützung erhält Bärlach einen jungen Polizisten namens Tschanz, der sehr eifrig versucht, Beweise dafür zu finden, dass Gastmann die Tat begangen hat. Tschanz dagegen ist verwundert und zunehmend verärgert, wie gleichmütig Bärlach die Untersuchung angeht. Es passieren allerlei rätselhafte Dinge: Bärlach äußert gegenüber seinem Vorgesetzten Lutz, dass er einen konkreten Verdacht hat, sagt ihn aber nicht. Er überrascht Tschanz, indem er nachts die Tat am Tatort nachstellt, nur dass jetzt Tschanz am Steuer sitzt. Bei Gastmann greift ein Bluthund Bärlach an, den Tschanz daraufhin erschießt, es stellt sich aber heraus, dass Bärlach sich durch Armverband und Pistole in der Tasche ohnehin geschützt hatte. Gastmann dringt bei Bärlach ein und nimmt die Mappe mit Schmieds Recherchen an sich. Bei diesem Dialog erfährt der Leser von der Wette.

Bei einem späteren Treffen teilt Bärlach Gastmann mit, dass er um dessen Unschuld im Hinblick auf Schmied weiß, ihm aber einen Henker schicken wird, der ihn tötet als Kompensation dafür, dass der Mord an dem Kaufmann noch immer ungesühnt ist. Dieser Henker ist Tschanz, der zunehmend energischer und verzweifelter versucht, den Verdacht auf Gastmann zu lenken. Er ist der Mörder Schmieds, weil er ihm den privaten und beruflichen Erfolg neidete und sich stets zurückgesetzt fühlte. Nachdem Tschanz Gastmann tatsächlich getötet hat, offenbart ihm Bärlach in einem großen Finale, dass er ihn von Anfang an in Verdacht hatte und ihn gut funktionalisieren konnte. Denn Tschanz musste den Verdacht von sich ablenken und war daher vehement auf Gastmann fokussiert, den wiederum Bärlach zur Strecke bringen wollte.

Personencharakteristik

Hans Bärlach

Bärlach ist ein Kriminalkommissär in Bern. Er ist von „schweigsamer, bedächtiger und hintergründiger Wesensart“.[1] Der todkranke Kommissar treibt ein doppelbödiges Spiel, in dem er sich im Hintergrund hält und von dort die Fäden zieht, um seinen alten Rivalen und Verbrecher Gastmann nach gut vier Jahrzehnten überführen zu können. Da er es nicht schafft, ihn mit legalen Mitteln festzunehmen, benutzt er Tschanz, seinen Assistenten, als „Henker“ und kann seinen Widersacher so zur Strecke bringen. Neben Bärlachs Lebenserfahrungen ist auch seine Haltung als Schweizer gegenüber dem Nationalsozialismus bezeichnend sowie der Kampf mit innerbehördlichen Hierarchien. Der rücksichtslose Einsatz der eigenen Person gipfelt in einem psychischen Zweikampf mit dem Mörder Schmieds, in dessen Verlauf Bärlach, der wirklich todkrank ist, vorgaukelt, seine Krankheit sei nur aus taktischen Gründen gespielt gewesen.

Tschanz

Tschanz ist ein Kriminalbeamter in Bern, den Bärlach zu seinem Assistenten in der „Mordsache Schmied“ macht. Wegen seines krankhaften Ehrgeizes bringt er „seinen Kollegen Schmied um, dem er Fähigkeit, Erfolg, Bildung und sein Mädchen neidet“.[2] Bärlach kann ihn aber schnell entlarven und benutzt ihn regelrecht als seinen „Henker“, um Gastmann zu erledigen. Am Ende wird Tschanz von einem Zug erfasst und stirbt.

Gastmann

Gastmann, „ein kühler, rechnender und selbstsicherer Verbrecherkönig“,[3] lebt in Lamboing oberhalb des Bielersees. Er wird als Gelegenheitsphilosoph und „Nihilist[4] bezeichnet und wegen einer Wette, die er mit Bärlach in Konstantinopel in jungen Jahren geschlossen hatte, von dem Kommissar seit 40 Jahren erfolglos gejagt. Obwohl er beim letzten Treffen mit Bärlach noch selbstsicher seine Überlegenheit auszuspielen versucht, zeigt er sich zum Schluss von Bärlach überrascht, dem es schließlich gelingt, Gastmann in eine Falle zu locken, in der dieser zu Tode kommt.

Dr. Lucius Lutz

Lutz ist der Vorgesetzte Bärlachs und vertraut, im Gegensatz zu diesem, den Methoden der „modernen Kriminalistik“. Er hat oft eine andere Meinung als der Kommissar.

Gestaltung

Der Roman gliedert sich in 21 Kapitel. Die Wette wird rückblickend von Gastmann im elften Kapitel erzählt und steht somit genau in der Mitte, wodurch der Roman axialsymmetrisch angelegt ist. Gemäß der Analyse von G. Knapp[5] gibt es mehrere Erzählabschnitte mit unterschiedlicher Funktion:

Kap. 1-3: Exposition

Kap. 4-7: Erste Erzählphase

Kap. 8-10: Erstes Zwischenspiel

Kap. 11-12: Zweite Erzählphase

Kap. 13-15: Zweites Zwischenspiel

Kap. 16-18: Dritte Erzählphase

Kap. 19: Erster Schluss

Kap. 20: Zweiter Schluss

Kap. 21: Nachspiel

Exposition und Erzählphasen folgen der Struktur des traditionellen Detektivromans, des sogenannten Whodunit. Ein Mord wird entdeckt und die Recherchen bringen immer mehr Details an Tageslicht, wodurch Spannung entsteht, gehalten und gesteigert wird. Allerdings gibt es bei Dürrenmatt immer wieder irritierende Brechungen. Zum Beispiel lobt Bärlach das völlig unangemessene Verhalten des Dorfpolizisten Clenin bei Auffinden der Leiche. Auch die fast schon lethargische Gleichmütigkeit Bärlachs ist gleichermaßen für Tschanz wie für den Leser verstörend. Die Zwischenspiele haben retardierende Wirkung, sie bringen die Aufklärung nicht voran, sondern vertiefen einzelne Aspekte. Das erste Zwischenspiel gibt ironisch-gesellschaftskritische Einblicke in die Vernetzung Gastmanns mit der abgeschotteten Elite und ihren korrupten und korrumpierenden Strukturen. Im zweiten Zwischenspiel erläutert ein Dichter im Gespräch mit Bärlach aus philosophischer Sicht den Charakter Gastmanns. Dieser sei ein Nihilist, der ohne Bindung an Moral und Gesetze handelt, und der Zufall oder seine Laune entscheide, ob er das Gute oder Böse tut. Das Böse ist dann Ausdruck „seiner Freiheit: der Freiheit des Nichts“. Der erste Schluss entspricht den traditionellen Detektivgeschichten, der Täter ist gefasst oder – wie hier – tot, der Fall ist gelöst, und für Lutz ist das auch so. Der zweite Schluss ist das Raffinement dieses Werks, der den wahren Sachverhalt darstellt und Tschanz als Täter entlarvt. Da Bärlach Tschanz nach seiner Entlarvung laufen lässt, gibt es noch ein Nachspiel, indem Tschanz in seinem Auto von einem Zug erfasst wird.

Wie ein Polizeiprotokoll wird die Handlung durch genaue Orts- und Zeitangaben strukturiert. Die erzählte Zeit erstreckt sich über fünf Tage, von Donnerstagmorgen, 3. November 1948, bis zum Morgen des Dienstags (8.11.). Die Erzählzeit ist für den dritten, mittleren Tag am längsten: der Samstag umfasst allein acht Kapitel (8-15) und am Mittag, genau in der Mitte des Tages, wird von der Wette berichtet. Der Weg von Bern, dem Wohnort Bärlachs, zum knapp fünfzig Kilometer entfernten Lamboing führt über Biel nördlich um den Bieler See. Tschanz wählt aber zunächst den zehn Kilometer längeren Weg südlich über Ligertz um den See. Bärlach ist verwundert, durchschaut aber bald, dass Tschanz eine falsche Spur legen will. Dürrenmatt hat zur Zeit der Abfassung des Romans in Ligertz gewohnt, kannte sich mit den Orten also bestens aus, die dann in beiden Richtungen zuhauf im Roman erscheinen.

Ständig begegnet Bärlachs Magen-Darm-Krankheit als Leitmotiv, zum Teil auch taktisch von ihm thematisiert. Umso erstaunlicher ist, dass er dann zum großen Showdown am Schluss Tschanz mit einem opulenten Essen empfängt und dabei unmäßig zugreift, während Tschanz der Appetit vergeht. Diese Art Finale taucht bei Dürrenmatt öfter auf, zum Beispiel auch in „Die Panne“.

Es gibt eine Reihe von Naturbeschreibungen, oft während der Fahrt von Bern nach Lamboing bzw. umgekehrt oder beim nächtlichen Einbruch in Bärlachs Wohnung. Sie schaffen eine eigene, zum Teil geheimnisvolle Stimmung, haben aber oft auch Verweischarakter, zum Beispiel, wenn auf der Fahrt entlang des Ufers des Bieler Sees Wolkenungetüme und unbeständiges Wetter die Frustration Bärlachs und die Verzweiflung Tschanz’ spiegeln. Umwelt und Natur werden als Schauerkulisse und Spiegel des Inneren eingesetzt[6].

Bärlach verliert letztlich die Wette, weil es ihm nicht gelingt, Gastmann seiner Verbrechen zu überführen. Der von ihm apostrophierte Zufall ist ihm vier Jahrzehnte nicht zu Hilfe gekommen. Er übt Selbstjustiz, da er Gastmann für einen nicht begangenen Mord töten lässt. Dass er das überhaupt einfädeln kann, beruht allerdings auf einer ganzen Reihe von Zufällen, da Tschanz Schmied zeitlich passend ermordet und dann immer wieder Fehler macht, um seine Tat zu verschleiern, mit denen Bärlach nicht rechnen kann. Der hergebrachte Detektivroman will gerade den Zufall ausschließen, denn hier führen Recherchen und die gute Kombinationsgabe des Detektivs zur Aufklärung. G. Knapp charakterisiert „Dürrenmatts Ästhetik des Zufalls“ wie folgt[7]:

"Der Zufall wächst derart in Dürrenmatts erstem Detektivroman weit über sich selbst hinaus und gerät indirekt wieder zu einer Regelhaftigkeit, jener stillschweigend vorausgesetzten Teleologie, die zu den Grundlagen der Gattung gehört. Indem der Autor dem Element des Zufälligen Einlass in die Gattung gewährt, es aber paradoxerweise zum Helfershelfer der gattungsbedingten Planmäßigkeit macht, erfüllt er die Form des Detektivromans auf unkonventionelle Weise und stellt sie zugleich ironisch infrage."

Die Figur des Kommissar Bärlach ist auch die Hauptfigur in Dürrenmatts Roman Der Verdacht. Die grundlegende Kritik an der Figur des Detektivs, der richtig ermittelnd zum falschen und falsch ermittelnd zum richtigen Ergebnis kommt, findet eine Fortsetzung in dem Roman Das Versprechen.

„Seine Krimis folgen dem klassischen Schema, ragen aber durch Ironie, Zynismus sowie gesellschaftskritische bzw. philosophische Ansätze weit über das im Genre Übliche hinaus.“[8]

Adaptionen

Siehe auch

Buchausgaben

  • Der Richter und sein Henker. Benziger, Einsiedeln 1952
  • Der Richter und sein Henker. Roman. Mit 14 Zeichnungen von Karl Staudinger. Rowohlt, Reinbek 1955, ISBN 3-499-10150-5
  • Der Richter und sein Henker / Der Verdacht. Die zwei Kriminalromane um Kommissär Bärlach. Diogenes, Zürich 1980, ISBN 3-257-20849-9 (Werkausgabe 16)
  • Der Richter und sein Henker. Kriminalroman. Mit zahlreichen Fotos aus dem Film und einem Anhang. Diogenes, Zürich 1985, ISBN 3-257-22535-0

Literatur

  • Gerhard P. Knapp: Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Diesterweg, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-425-06037-6
  • Bernd Matzkowski: Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Bange, Hollfeld 2001, ISBN 3-8044-1733-7 (Königs Erläuterungen und Materialien 42)
  • Wolfgang Pasche: Interpretationshilfen Friedrich Dürrenmatts Kriminalromane. Klett. Stuttgart 1997, ISBN 3-12-922609-5
  • Theodor Pelster: Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler. Reclam, Stuttgart 2006, ISBN 3-15-015374-3
  • Walter Seifert: Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Interpretation. Oldenbourg, München 1975; 5. erg. A. 1996, ISBN 3-637-88616-2

Einzelnachweise

  1. Annemarie van Rinsum, Wolfgang van Rinsum: Lexikon literarischer Gestalten. Band 1: Deutschsprachige Literatur (= Kröners Taschenausgabe. Band 420). 2., durchgesehene Auflage. Kröner, Stuttgart 1993, ISBN 3-520-42002-3, S. 36.
  2. van Rinsum: Lexikon literarischer Gestalten deutschsprachiger Literatur, S. 464
  3. van Rinsum: Lexikon literarischer Gestalten deutschsprachiger Literatur, S. 150
  4. So wörtlich vom Schriftsteller in Kap. 13
  5. Gerhard P. Knapp: Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker, 2. Auflage, Diesterweg, Frankfurt a. Main 1985, ISBN 3-425-06037-6, S. 20–24
  6. Walter Seifert: Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker, Oldenbourg Interpretationen Band 8, 5. überarbeitete und ergänzte Auflage, Oldenbourg Verlag, München, 1988, ISBN 3-486-88616-9, S. 49–54
  7. Gerhard P. Knapp: Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker, 2. Auflage, Diesterweg, Frankfurt a. Main 1985, ISBN 3-425-06037-6, S. 12
  8. Klaus-Peter Walter (Hrsg.): Reclams Krimi-Lexikon. Autoren und Werke. Philipp Reclam Jun., Stuttgart 2002, ISBN 3-15-010509-9, S. 110.
  9. Der Richter und sein Henker (1957) bei IMDb
  10. "BBC Sunday-Night Play" The Judge and His Hangman (1961) bei IMDb
  11. A bíró és a hóhér (1968) bei IMDb
  12. Il giudice e il suo boia (1972) bei IMDb
  13. Le juge et son bourreau (1974) bei IMDb
  14. Der Richter und sein Henker (1975) bei IMDb
  15. Hörspieldatenbank HÖRDAT
  16. Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker: Comic auf der Grundlage des Romans. Bern: Zytglogge, 6. Auflage 2003, ISBN 3-7296-0305-1.