Dulde und liquidiere

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Dulde und liquidiere ist ein ursprünglich auf das allgemeine preußische Landrecht bezogener Rechtsgrundsatz, der Handlungsmöglichkeiten des Bürgers gegenüber dem Staat beschreibt. Die Paarformel stammt von dem Rechtsgelehrten Otto Mayer, welcher so die damalige rechtliche Stellung des Bürgers gegenüber dem Obrigkeitsstaat auf den Punkt brachte.

„Da man gegen den Staat selbst nichts ausrichtet und der Fiskus nicht mehr thun kann als zahlen, so läuft alle Garantie der bürgerlichen Freiheit im Polizeistaate auf den Satz hinaus: dulde und liquidiere.“

Otto Mayer: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.[1]

Als das allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (PrALR) 1794 erlassen wurde, befand sich die Gesellschaft am Übergang von der Ständeordnung zum Liberalismus.[2]:131 Die in den §§ 74 und 75 PrALR[3] festgelegte Verpflichtung der Obrigkeit,[4] dem Bürger für Sonderopfer eine Entschädigung zu zahlen,[2][1] stellte zu dieser Zeit eine wesentliche Verbesserung gegenüber den vormaligen landesherrlichen Hoheitsrechten dar.[5]:12

In der Folgezeit wurde diese Praxis zunächst als Gewohnheitsrecht vom Reichsgericht und später vom Bundesgerichtshof übernommen, bis das Bundesverfassungsgericht 1981 im Nassauskiesungsbeschluss den bis heute gültigen Vorrang des Primärrechtsschutzes festlegte.[6][7] Dieser Grundsatz verpflichtet den Bürger entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip, sich gegen staatliche Eingriffe vor Gericht zunächst auf dem verwaltungsgerichtlichen Weg zur Wehr zu setzen, bevor er einen Aufopferungsanspruch geltend machen kann.[6] In der heutigen Zeit wird „dulde und liquidiere“ vermehrt als ein geflügeltes Wort mit abwertender Bedeutung verwendet.[8][9]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b Otto Mayer: Deutsches Verwaltungsrecht. Erster Band, Leipzig, 1895, (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv)
  2. a b André Niesler: „Aufopferung“ und „Enteignung“ vom ALR bis zur WRV. In: Institut für Juristische Zeitgeschichte Hagen: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte. Band 8 2006/2007, ISBN 978-3-8305-1471-8 (Volltext in der Google-Buchsuche.)
  3. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten vom 1. Juni 1794, Einleitung (Volltext bei OpinioIuris: Die freie juristische Bibliothek).
  4. Wilhelm Merk: Deutsches Verwaltungsrecht. Erster Band, Duncker & Humblot Berlin, 1962, ISBN 978-3-428-01024-0 (Volltext in der Google-Buchsuche.)
  5. Karl-Edmund Hemmer, Achim Wüst: Staatshaftungsrecht. 5. Auflage. 2018, ISBN 978-3-86193-741-8 (E-Book) (Online als Leseprobe).
  6. a b Thomes Pfeiffer: Staatshaftung für Eigentumseingriffe, (Memento des Originals vom 15. Dezember 2017 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.muenster.de abgerufen am 27. April 2019.
  7. Hermann Pünder: „Dulde und liquidiere“ im Vergaberecht? Zum notwendigen Primärrechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte. In: Vergaberecht. Band 16, Ausgabe 6, S. 693–701, ISSN 2366-2247 (Online), ISSN 1617-1063 (Print), doi:10.1515/zgvr-2016-0604.
  8. Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Bert Schaffarzik (Hrsg.): Handbuch der Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Europa. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 2019, ISBN 978-3-642-41235-6 (E-Book), ISBN 978-3-642-41234-9 (Hardcover), doi:10.1007/978-3-642-41235-6 (Volltext in der Google-Buchsuche.)
  9. So bspw. vielfach in den Gesetzesmaterialien und Stellungnahmen zum Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren.