Eisenbahnunfall von Saint-Michel-de-Maurienne

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Unfallstelle

Der Eisenbahnunfall von Saint-Michel-de-Maurienne war die Entgleisung eines am 12. Dezember 1917 im Gefälle außer Kontrolle geratenen Militärzuges auf der Bahnstrecke Culoz–Modane, einer Bahnstrecke der Compagnie des Chemins de fer de Paris à Lyon et à la Méditerranée. Die Zahl der Toten wird auf annähernd 700 geschätzt.[1] Dies ist einer der Eisenbahnunfälle mit der größten Zahl an Todesopfern weltweit, die durch einen Eisenbahnbetrieb verursacht wurden.[Anmerkung 1]

Ausgangslage[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Militärzug 612 mit französischen Soldaten auf dem Weg nach Chambéry in den Weihnachtsurlaub kam aus Italien von der italienischen Front im Ersten Weltkrieg. Er war über den Mont-Cenis-Eisenbahntunnel zum Scheitel- und französischen Grenzbahnhof Modane gelangt. Dort wurden zwei weitere Wagen an den Zug gehängt. Weil Mangel an Lokomotiven herrschte, wurde für die Talfahrt über die Nordrampe, die ein Gefälle von bis zu 33 ‰ aufweist, nur eine Lokomotive (Achsfolge 2'C) bereitgestellt. Offiziell befanden sich 982 Soldaten als Passagiere in dem Zug, wahrscheinlich waren es aber mehr. Der Zug bestand nun aus 19 Wagen: je ein Gepäckwagen am Anfang und am Ende, 15 vierachsige Reisezugwagen mit Drehgestellen, alle älterer italienischer Bauart mit Stahlrahmen und Holzaufbau, und die beiden in Modane angehängten zweiachsigen Wagen. Von den Wagen besaßen nur die ersten drei eine Druckluftbremse, sieben hatten nur Hand-, die anderen überhaupt keine Bremsen. Der Zug wog 526 Tonnen und wies damit ein Gewicht auf, das das Vierfache des Zulässigen betrug. Er war 350 Meter lang.

Unfallhergang[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Höhenprofil der 16 km langen Strecke von Modane bis Saint-Michel-de-Maurienne

Der Lokführer hatte Bedenken, den schweren, größtenteils nur handgebremsten Zug unter Kontrolle halten zu können. Ein Offizier drohte ihm mit einem Kriegsgerichtsverfahren, falls er die Weiterfahrt verweigere. Daraufhin fuhr er den Zug um 23:15 Uhr talwärts und begann sofort zu bremsen.

Ab Freney zeigte das aber kaum noch Wirkung. Der Zug bewegte sich mit zunehmender Geschwindigkeit talwärts und erreichte bis zu 135 km/h. Nach etwa 6,5 km bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h (40 km/h waren hier zugelassen) entgleiste 1.300 Meter vor dem Bahnhof Saint-Michel-de-Maurienne der erste Wagen in einer scharfen Kurve in einem Einschnitt und stellte sich quer. Die übrigen Wagen liefen auf ihn auf und schoben sich zusammen. Kerzen, die in den Wagen als Beleuchtung dienten, steckten die Trümmer in Brand und das sich ausbreitende Feuer brachte von Soldaten illegal mitgeführte Munition zur Explosion. Die Kupplung zwischen Schlepptender und Wagen riss und es gelang dem Lokomotivführer, die Maschine im Bahnhof von Saint-Michel-de-Maurienne zum Halten zu bringen. Völlig fixiert auf das Bremsen bemerkte er erst hier, dass er den Zug verloren hatte.

Folgen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Zug war an einer schwer erreichbaren Stelle verunglückt, was die Rettungsarbeiten erschwerte. Das Feuer war zudem so stark, dass es erst nach etwa 24 Stunden gelöscht werden konnte. Die Zahl der Toten wird auf 700 geschätzt, identifiziert wurden nur 425 Opfer. Die übrigen Leichen waren durch die Kraft des Zusammenstoßes und das nachfolgende Feuer so entstellt, dass es nicht mehr möglich war, sie zu identifizieren. Die Opfer wurden auf dem Friedhof von Saint Michel de Maurienne beerdigt. 1961 wurden sie auf den nationalen Militärfriedhof Lyon-La Doua umgebettet.

Der Unfall wurde sofort zum Militärgeheimnis erklärt, so dass er in der Presse kaum erwähnt wurde. Sechs Angestellte der Compagnie des Chemins de fer de Paris à Lyon et à la Méditerranée, darunter auch der Lokomotivführer, mussten sich vor einem Kriegsgericht verantworten, wurden aber freigesprochen. Der Offizier, der die Talfahrt angeordnet hatte, wurde nicht belangt.

Gedenkstele (... 425 poilus victimes) von 1998 am Ort des Unfalls

Im Juni 1923 weihte der französische Verkehrsminister André Maginot ein Denkmal für die Opfer des Unfalls auf dem Friedhof von Saint-Michel-de-Maurienne ein. 1998 wurde ein weiteres Denkmal in La Saussaz, nahe der Unfallstelle, eingeweiht.

In John Bergers Roman Auf dem Weg zur Hochzeit (1995) wird von diesem Unfall erzählt.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Bruno Carrière: La tragédie du train fou de Saint-Michel-de-Maurienne. In: Rail Passion 12 (November 1996), S. 70–77.
  • Jean-Louis Chardans: Le train fou de Saint-Michel-de-Maurienne. In: Historia 311 (Oktober 1972).
  • André Pallatier: Le tragique destin d'un train de permissionnaires: Maurienne 12 décembre 1917. Éditions L’Harmattan 2013. ISBN 2-343-00849-3 et 9-782-3430-0849-3

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Accident ferroviaire de Saint-Michel-de-Maurienne – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Anmerkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Der durch einen Tsunami am 26. Dezember 2004 ausgelöste Eisenbahnunfall von Peraliya hat mit weit mehr als 1000 Opfern zwar mehr Tote gefordert, gilt aber, weil durch eine Naturkatastrophe verursacht, nicht als ein durch den Eisenbahnbetrieb verursachter Unfall. Bei dem Eisenbahnunfall von Hamont, Belgien, am 19. November 1918 explodierte ein Munitionstransport inmitten von Lazarettzügen. Je nach Quelle starben 1007 bis 1750 Menschen. Bei diesem Vorfall ist es Ansichtssache, ob der Unfall „durch Eisenbahnbetrieb“ verursacht wurde. Die Zahl der Toten beim Eisenbahnunfall von Ciurea, Rumänien, vom 13. Januar 1917 variiert, je nach Quelle, zwischen 600 und 1.000.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Il y a 100 ans, la plus grande catastrophe ferroviaire de France, à Saint-Michel de Maurienne bei france3-regions, abgerufen am 8. Juni 2023

Koordinaten: 45° 12′ 39,9″ N, 6° 29′ 11,1″ O