Future Library

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Die Future Library (norwegisch: Framtidsbiblioteket) ist ein Kunstprojekt der schottischen Künstlerin Katie Paterson. Über 100 Jahre entsteht dabei eine Anthologie aus 100 Texten, die im Jahr 2114 veröffentlicht werden soll. Währenddessen wächst in der Nordmarka nördlich von Oslo ein von Paterson angelegter Wald heran, um das Papier für die Anthologie zu liefern. Jedes Jahr wird ein weiteres Manuskript in die Future Library eingeführt und in der Deichmanske bibliotek in Oslo aufbewahrt.

Konzept[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Deichmanske bibliotek

Bis 2114 dürfen die Manuskripte von niemandem gelesen werden. Die Autoren dürfen nichts über ihr Werk bekannt geben außer dem Titel,[1] kein Lektorat hinzuziehen und keine Kopie ihres Textes behalten.[2] Ihre einzige Vorgabe sind die Themen „Fantasie“ und „Zeit“. Literaturgattung, Genre, Länge und Sprache der Beiträge sind freigestellt, allerdings dürfen keine Illustrationen enthalten oder vorgesehen sein. Der Future Library Trust, dem Katie Paterson angehört, erteilt die Einladungen zum Verfassen von Beiträgen zur Future Library. Das Gremium soll über 100 Jahre den Fortbestand des Projekts über die Lebenszeit der Künstlerin hinaus sichern.[3][4][5]

Jedes Jahr im Frühling findet in der Nordmarka die öffentliche Übergabe eines neuen Werks statt.[6] In dem 2020 eröffneten Neubau der Deichmanske bibliotek, der Stadtbibliothek von Oslo, wurde ein Raum für die Future Library eingeplant. Die Manuskripte sind darin hinter Glas ausgestellt. Die Stadt Oslo garantiert durch einen Vertrag den Erhalt der Bibliotheksräume über 100 Jahre.[7]

In der Nordmarka ließ Paterson einen Wald mit 1000 Bäumen pflanzen.[8] Ihr Holz soll nach Patersons Schätzung bis 2114 für Papier für ca. 3000 Drucke der gesamten Anthologie reichen.[2] Zur Unterstützung des Projekts können von Paterson gestaltete Zertifikate erworben werden, die zu einer vollständigen Ausgabe der zukünftigen Anthologie berechtigen.[9]

Beiträge[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Erste gewann Katie Paterson die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood für das Projekt. Paterson war vom Umfang des Werks überrascht, da sie eher Kurzgeschichten als Romane erwartet habe.[2] Über David Mitchells Werk ist bis auf den Titel From Me Flows What You Call Time[10] nur bekannt, dass es den Text des Beatles-Songs Here Comes the Sun enthält, der im Jahr 2114 gemeinfrei sein wird.[7] Als Dritter trug der Schriftsteller und Künstler Sjón ein Werk bei, das er auf Isländisch verfasste.[1][2] Es folgten die Beiträge der britisch-türkischen Schriftstellerin Elif Shafak und der südkoreanischen Schriftstellerin Han Kang. 2020 und 2021 fielen durch die COVID-19-Pandemie die Übergaben aus. Die Einführung der Manuskripte des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgård, des vietnamesisch-US-amerikanischen Lyrikers Ocean Vuong und der simbabwischen Autorin und Filmemacherin Tsitsi Dangarembga fand gemeinsam im Juni 2022 in dem neu eröffneten Bibliotheksraum statt.[11] Dangarembga verriet über ihr Werk Narini and Her Donkey, dass der Name der Titelfigur Narini in ihrer Muttersprache „Unendlichkeit“ bedeute.[1] Als neunte Autorin wurde die deutsche Schriftstellerin Judith Schalansky eingeladen.[12]

Liste der Texte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Interpretation und Reaktionen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bewertung durch die Autoren[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Margaret Atwood verglich die Future Library mit Dornröschen.[1] Sie machte sich Gedanken über die linguistische Expertise, derer es bedarf, um die Werke nach 100 Jahren zu entschlüsseln, weil die Sprache sich bis dahin verändert haben werde.[17] David Mitchell bezeichnete das Kunstprojekt als Vertrauensvotum an die Zukunft[18] und Akt des hartnäckigen Optimismus.[1] Als Autor biete es ihm außerdem die Freiheit, sich von der Rezeption seines Werks unabhängig zu fühlen[2] – ein Gefühl, das auch Tsitsi Dangarembga teilte.[7] Sjón, der seinen Beitrag auf Isländisch schrieb, überlegte, ob seine heute von nur rund 370 000 Menschen gesprochene Muttersprache im Jahr 2114 überhaupt noch verstanden werde. Er hält es für möglich, dass Isländisch in 100 Jahren nicht mehr gesprochen, sondern nur noch als ausgestorbene Sprache wissenschaftlich studiert wird. Sein Werk in der Future Library sieht Sjón als Beitrag zur Erhaltung der isländischen Kultur und Sprache.[1][2] Han Kang betonte den spirituellen Aspekt des Kunstwerks, indem sie es als ein hundert Jahre währendes Gebet bezeichnete.[15] Ocean Vuong sieht das Kunstprojekt als Gegenstück zu der allzu verbreiteten Haltung, nicht auf Ressourcen achtzugeben und nicht an spätere Generationen zu denken. Er halte außerdem diesen literarischen Beitrag für weniger egoistisch als das Publizieren sonst sei: Viele Veröffentlichungen seien von dem Wunsch getragen, den eigenen Namen in der Öffentlichkeit zu sehen; dieses Werk sei davon aber unabhängig.[16] Er nannte seine Teilnahme an dem Projekt den „Höhepunkt seiner Karriere als Autor und Mensch“.[1] Auch Tsitsi Dangarembga nannte die Future Library eines der wichtigsten Projekte, an denen sie je teilgenommen habe.[11]

Rezeption durch Dritte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Richard Fisher schrieb für BBC Future über das Kunstwerk und lobte, dass es eine langfristige Sichtweise fördere und zur Reflexion der Verantwortung anrege, künftigen Generationen etwas Positives zu hinterlassen.[7] Das Projekt der Future Library stieß aber auch auf Kritik. Moze Halperin verglich das Projekt mit John Malkovichs Film 100 Years und dem Album Once Upon a Time in Shaolin der Band Wu-Tang Clan. Er sieht alle drei Projekte (in unterschiedlichem Maß) kritisch, da sie Kunst zu einem exklusiven Gut machten. Er würdigt zwar die Ernsthaftigkeit, mit der die Future Library sich langfristigen Fragen nähert, kritisiert aber ihre Exklusivität durch die niedrige geplante Auflage und den hohen Verkaufspreis. Bis zur Veröffentlichung der Werke einige Generationen zu überspringen sei durchaus ein interessantes Konzept; ärmere Gesellschaftsschichten auszuschließen hingegen nicht. So erschaffe das Projekt letztlich eine weniger optimistische Zukunftsperspektive als beabsichtigt, nämlich eine, die nur für Wohlhabende lebenswert ist.[19] Dagegen argumentiert Fisher: Obwohl das Kunstprojekt gewissermaßen dem Ziel einer Bibliothek widerspreche, Literatur so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen, biete die Future Library doch einen Nutzen jenseits der unmittelbaren Verfügbarkeit von Literatur. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass man, um künftigen Generationen zu nützen, heute auf Güter verzichten müsse, bereite die Future Library sowohl in der Zukunft als auch in der Gegenwart Freude. Ein Besuch in der Future Library fühle sich an wie das Durchschreiten eines Portals zu einer anderen Welt. Es habe sich zudem eine lokale Gemeinschaft um die Bibliothek gebildet, die das Projekt als große Bereicherung vor Ort empfinde.[7]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e f g h Rosie Goldsmith: Future Library opens secret archive of unseen texts in Oslo. In: The Guardian. 14. Juni 2022, abgerufen am 1. September 2022 (englisch).
  2. a b c d e f Charley Locke: Margaret Atwood and David Mitchell Have Written New Fiction—If You Can Wait 98 Years to Read It. In: Wired. ISSN 1059-1028 (wired.com [abgerufen am 2. September 2022]).
  3. Future Library, abgerufen am 28. September 2022.
  4. Projektmanagerin Anne Beate Hovind im Podcast The Europeans (22 Minuten) vom 11. September 2018, abgerufen am 2. September 2022.
  5. Siehe Transkription des Videos Artist talk | Katie Paterson answers questions on Future Library 2014-2114, National Galleries Scotland (englisch).
  6. Future Library, abgerufen am 28. September 2022.
  7. a b c d e Richard Fisher: The Norwegian library with unreadable books. In: BBC Future. Abgerufen am 2. September 2022 (englisch).
  8. Alison Flood: Tsitsi Dangarembga’s next work won’t be read by anyone until 2114. In: The Guardian. 25. August 2021, abgerufen am 1. September 2022 (englisch).
  9. Zertifikat in der Sammlung der National Galleries of Scotland, abgerufen am 28. September 2022.
  10. a b Patrick Clarke: David Mitchell buries manuscript for Future Library project. In: The Bookseller. 31. Mai 2016, abgerufen am 10. Januar 2018 (englisch).
  11. a b c d Alva Gehrmann: Buch-Projekt in Norwegen: Tsitsi Dangarembga und die „Future Library“. In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 1. September 2022]).
  12. Sarah Shaffi: Judith Schalansky is ninth author to write secret work for Future Library. In: The Guardian. 28. September 2022, abgerufen am 28. September 2022 (englisch).
  13. Alison Flood: Margaret Atwood reveals her Future Library book, Scribbler Moon. In: The Guardian. 27. Mai 2015, abgerufen am 10. Januar 2018 (englisch).
  14. Alex Johnson: The Norwegian forest that will become an anthology of 100 books in 100 years. In: The Independent. 31. Oktober 2018, abgerufen am 29. September 2022 (englisch).
  15. a b Han Kang hands over book to Norway's 'Future Library' project. In: The Korea Times. 27. Mai 2019, abgerufen am 2. September 2022 (englisch).
  16. a b Sian Cain: 'You'll have to die to get these texts': Ocean Vuong’s next manuscript to be unveiled in 2114. In: The Guardian. 19. August 2020, abgerufen am 1. September 2022 (englisch).
  17. Alison Flood: Margaret Atwood's new work will remain unseen for a century. In: The Guardian. 5. September 2014, abgerufen am 10. Januar 2018 (englisch).
  18. Alison Flood: Karl Ove Knausgaard's latest work to remain unseen until 2114. In: The Guardian. 20. Oktober 2019, abgerufen am 1. September 2022 (englisch).
  19. Moze Halperin: John Malkovich’s Silly Cognac-Based ‘100 Years’ Project Raises Important Questions, Even If We’ll Never See It. In: Flavorwire. 6. Mai 2016, abgerufen am 2. September 2022 (englisch).