Hans Geissel

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Foto von Hans Geissel
Hans Geissel (2023)

Hans Geissel (* 13. Mai 1950 in Alsfeld; † 29. April 2024)[1] war ein deutscher Experimentalphysiker und Hochschullehrer, der sich mit der atomaren und nuklearen Wechselwirkung energiereicher Schwerionen mit Materie beschäftigte. Dabei bildeten die Entdeckungen neuer Isotope und die Untersuchung ihrer Eigenschaften einen besonderen Schwerpunkt.[2]

Biografie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Hans Geissel studierte Physik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Diplomarbeit, betreut von Gottfried Münzenberg, beschäftigte sich 1977 mit dem Bau von Flugzeitmassenspektrometern im Rahmen des Aufbaus des Schwerionen-Separators SHIP, dem Herzstück der Anlage zur Erzeugung der schwersten Elemente an der 1969 gegründeten Gesellschaft für Schwerionenforschung in Darmstadt (heute GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung). Seine Dissertation in der Gruppe von Peter Armbruster befasste sich mit dem Studium der atomaren Wechselwirkung von energiereichen Schwerionen in Materie im Energiebereich bis 10 MeV/u. Der universelle lineare Beschleuniger UNILAC ist seit 1974 an der GSI in der Lage, weltweit erstmals alle Spezies von Ionen, vom Wasserstoffion bis zu den schwersten Uranionen für Experimente zur Verfügung zu stellen.[2]

Von 1982 bis 1984 war Geissel Post-Doktorand am kanadischen Atomic Energy of Canada Limited in den Chalk River Laboratories. Seine dortige Forschung in der Festkörperphysik-Gruppe von William N. Lennard führte er am dortigen Forschungsreaktor und an kleineren Ionenbeschleunigern durch.[3] 1984 kehrte er an die GSI zurück.

Er habilitierte sich 1994 im Fachbereich Physik an seiner Alma Mater im II. Physikalischen Institut, das damals von Volker Metag geleitet wurde. Seitdem war er Mitglied der IONAS (IonenOptik, Nukleare Astrophysik und Struktur), die im Jahr 2000 gegründet wurde und an der GSI die Struktur und Eigenschaften exotischer Kerne untersucht.[2]

Geissel war außerplanmäßiger Professor am II. Physikalischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2015[4] und war Leiter der Abteilung FRS/Super-FRS beim GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt, wo er als Helmholtz-Professor tätig war.[5]

Forschungsschwerpunkte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Aufbau des Fragment-Separators FRS bei GSI[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Geissel kehrte 1984 aus Kanada an die GSI zurück, um dort am von Paul Kienle, Bernhard Franzke und Dieter Böhne konzipierten Projekt eines Schwerionen-Synchrotrons (SIS-18) mit dem Experimentier-Speicherring (ESR) die Konzeption, Berechnung und den Aufbau des Projektil-Fragment-Separators (FRS) mit Gottfried Münzenberg und der GSI Infrastruktur zu realisieren.[6]

Erzeugung und Untersuchung neuer Atomkerne[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Geissel erbrachte am FRS der GSI über drei Jahrzehnte herausragende Forschungsleistungen, insbesondere zur Erzeugung und Untersuchung neuer, instabiler Isotope.[7] So wurde die GSI für ihre Beiträge zur Erzeugung und Massenbestimmung schwerer Kerne 1999 mit der 7. SUN-AMCO-Medaille der IUPAP ausgezeichnet, die Hans Geissel und Sigurd Hofmann für die GSI entgegennahmen.[8] Seit 2012 führt Geissel ein vom Discovery of Nuclides Project erstelltes Ranking der Forscher mit den meisten neu erzeugten Isotopen an.[9]

Der ALADIN-Magnet
Der ALADIN-Magnet

Der erste Protonen-Halokern[10] und die 2-Protonen-Radioaktivität sind weitere Beispiele für bedeutende Entdeckungen mit dem FRS und seinen Detektorsystemen. Neue schwere neutronenreiche Isotope sind astrophysikalisch von großer Bedeutung für das detaillierte Verständnis der Elementsynthese in Sternen. Mit dem FRS-Zweig in Kombination mit dem Speicher- und Kühlerring ESR wurden hunderte von neuen Grundzustandsmassen erstmals gemessen.[11] Dabei wird die neue β-Zerfallsart in gebundenen atomaren Elektronenzuständen untersucht. Pionierexperimente der internationalen FRS-ESR-Kollaboration wurden von Geissel geleitet.[12] Am dritten FRS-Zweig, der relativistische exotische Projektilstrahlen zu den großen Detektorsystemen LAND und ALADIN leitet, wurden durch vollständige kinematische Messungen aller nuklearen Reaktionsprodukte ebenfalls zahlreiche neue Kerneigenschaften entdeckt.[13]

Da der FRS gleichzeitig ein hochauflösendes Magnetspektrometer darstellt, werden auch neue atomare Eigenschaften hochionisierter Schwerionen erforscht.[14] Die experimentellen Ergebnisse bei relativistischen Geschwindigkeiten zeigen klar starke Abweichungen zur noch häufig benutzten Bethe-Theorie.[15] Genaue Daten zur atomaren Wechselwirkung sind auch für die Tumortherapie mit schweren Ionen notwendig.[16] Anfang der 1990er Jahre war Geissel maßgeblich an Experimenten zur Anwendung von Positronen-Emittern in der Tumortherapie beteiligt.[17] Ein weiterer Meilenstein in Geissels wissenschaftlicher Arbeit ist die experimentelle Entdeckung gebundener pionischer Zustände in schweren Atomen (Pb, Sn).[18]

Viele der genannten atom- und kernphysikalischen Fragestellungen untersuchte er mit Kollegen in internationalen Forscherteams auch an Beschleunigern in Frankreich, Japan, Kanada und den USA.[19] Die erfolgreichen Experimente mit dem FRS werden in naher Zukunft mit dem am FAIR-Projekt in Bau befindlichen Super-FRS[20] zu höheren Raten und Genauigkeiten führen können.

Auszeichnungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Traueranzeigen von Hans Geissel | www.vrm-trauer.de. Abgerufen am 4. Mai 2024 (deutsch).
  2. a b c Spiegel der Forschung, 21. Jg./Nr. 1/2 November 2004, GSI Darmstadt; erneut abgerufen am 2. Februar 2024
  3. W.N. Lennard, H. Geissel, D. Phillips, D.P. Jackson: Heavy-ion straggling: Possible evidence for inner-shell excitation. Phys. Rev. Lett. 57 (1986) 318
  4. II. Physikalisches Institut: AG Schneidenberger. In: uni-giessen.de. Abgerufen am 12. August 2023.
  5. a b Website der FRS-Gruppe. In: gsi.de. Abgerufen am 12. August 2023.
  6. H. Geissel, P. Armbruster, K. H. Behr et al.: The GSI projectile fragment separator (FRS): a versatile magnetic system for relativistic heavy ions. In: Nuclear Instruments & Methods in Physics Research B, Bd. 70 (1–4), S. 286–297 (1992). doi:10.1016/0168-583X(92)95944-M
  7. H.Geissel, Gottfried Münzenberg, K. Riisager: Secondary Exotic Nuclear Beams. In: Annual Review of Nuclear and Particle Science, Bd. 45(1) (1995), S. 163–203. doi:10.1146/annurev.ns.45.120195.001115
  8. Report to the 1999 General Assembly for 1996-99. In: iupap.org. C2. Commission on Symbols, Units, Nomenclature, Atomic Masses and Fundamental Constants (SUNAMCO), abgerufen am 18. November 2023 (englisch).
  9. Er ist der Forscher mit den meisten Koautorschaften in Artikeln, die ein neues Isotop nachweisen (Stand 2022) mit 277 Koautorschaften/Isotopen. Siehe Michael Thoennessen: Top 1000 (co)authors 2022. Abgerufen am 12. August 2023. Im Jahr 2012 führte er erstmals die Liste [1] mit 272 Koautorschaften an. Für die verwendeten Kriterien, vgl. Discovery of Nuclides Project.
  10. W. Schwab, H. Geissel, et. al: Observation of a Proton Halo in 8B. Z. Phys. A350 (1995), S. 283
  11. T. Radon, Th. Kerscher, et al.: Schottky Mass Measurements of Cooled Proton-Rich Nuclei in the Storage Ring ESR. In: Phys. Rev. Lett. 78 (1997), S. 4701
  12. Litvinov, Yu.A.; Geissel, H.; Radon, T.; et al.: Mass measurement of cooled neutron-deficient bismuth projectile fragments with time-resolved Schottky mass spectrometry at the FRS-ESR facility. In: Nucl. Phys. A756 (2005), S. 3.
  13. Simon, H.; Meister, M.; et al.: Systematic investigation of the drip-line nuclei Li-11 and Be-14 and their unbound subsystems Li-10 and Be-13. In: Nucl. Phys. A 791 (2007), S. 267.
  14. H. Geissel, H. Weick, C. Scheidenberger, R. Bimbot, D. Gardes: Experimental Studies of Heavy-Ion Slowing Down in Matter. In: Nucl. Inst. Meth. B195 (2002), S. 3
  15. H. Geissel, H. Weick, C. Scheidenberger et al.: Experimental studies of heavy-ion slowing down in matter. In: Nuclear Instruments & Methods Physics Research B 195 (2002), S. 3–54. doi:10.1016/S0168-583X(02)01311-3
  16. G. Kraft, N. Angert, K. Blasche, et al.: The GSI Project: Biomedical and Radiobiological Activities. In: Proc. EULIMA workshop on potential value of light ion beam therapy, Nizza 1988; GSI Preprint GSI-88-60
  17. Kostyleva, Daria, et al.: Precision of the PET activity range during irradiation with ¹⁰C, ¹¹C, and ¹²C beams. In: Physics in Medicine & Biology 1 (2023)>
  18. A. Gillitzer, H. Geissel, et al.: Discovery of deeply bound pi – states in the 208Pb(d,3He) reaction. In: Act. Phys. Pol. B29 (1998), S. 3035
  19. Ahn, Deuk Soon, et al.: Discovery of Na 39. In: Physical Review Letters Vol. 129. Nr. 21 (2022). Article-Nr: 212502.
  20. H.Geissel, H. Weick, M. Winkler et al.: The Super-FRS project at GSI. In: Nuclear Instruments & Methods in Physics Research B 204 (2003), S. 71–85. doi:10.1016/S0168-583X(02)01893-1
  21. H. Geissel, W. N. Lennard, H. R. Andrews, D. Ward, D. Phillips: Problems of interpreting energy loss data for non-zero emergent angles. In: Phys. Lett. A106 (1984), S. 371
  22. Membership Awards. In: gsi.de. Abgerufen am 6. November 2023.
  23. Justus-Liebig-Universität Gießen: Ehrendoktor für Prof. Dr. Hans Geissel. 28. Juli 2010, abgerufen am 30. Juni 2023.
  24. Michael Thoennessen: Table of top 1000 (co)authors. 2012, abgerufen am 12. August 2023.
  25. Auszeichnung der Foundation for Polish Science für Prof. Hans Geissel. In: idw. Justus-Liebig-Universität Gießen, 9. Februar 2020, abgerufen am 30. Juni 2023.