Hermann Reis

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Stolpersteine für Hermann, Selma und Marion Reis, Marburg, Friedrichstr. 2
Gedenktafel für die ermordeten jüdischen Mitschüler der Martin-Luther-Schule Marburg, von denen exemplarisch drei, darunter Hermann Reis, benannt werden

Hermann Reis (* 16. September 1896 in Allendorf (Eder); gest. nach dem 29. September 1944 in Auschwitz) war ein deutsch-jüdischer Rechtsanwalt und Notar in Marburg, letzter Vorsitzender der 1939 in einen Verein umgewandelten jüdischen Gemeinde Marburgs und Sachwalter jüdischer Angelegenheiten. Er wurde mit Frau und Tochter in Auschwitz ermordet.

Herkunft und Ausbildung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Hermann Reis wurde am 16. September 1896 in Allendorf (Eder) als Sohn des Viehhändlers Moses Reis geboren. Nach Besuch der jüdischen Grundschule in Battenfeld 1908 erfolgte die Einschulung in die Quinta der Martin-Luther-Schule (Marburg) in Marburg, wo er in Dr. Schlesingers Schülerheim, Schwanallee 15, lebte. Im Juni 1915 legte er das Kriegsabitur ab und meldet sich freiwillig zum Kriegsdienst in einem Feldartillerieregiment. Ihm wurde das Eiserne Kreuz verliehen. Zum Wintersemester 1918/19 immatrikulierte er sich an der Philipps-Universität Marburg als Jurastudent, gleichzeitig mit seinem jüngeren Bruder Justus, der Medizin studierte. Dieses Studium setze er in Göttingen und Frankfurt (Main) fort. Am 1. September 1920 legte er das Staatsexamen ab und absolvierte ein Rechtsreferendariat in einer Marburger Kanzlei. Zum Wintersemester 1921/22 setzte er das Studium an der Philipps-Universität Marburg mit Promotion zum Dr. jur. im August 1922 bei Friedrich Bernhard André: Der Inhalt des Erbbaurechts fort. Es folgte eine Tätigkeit am Amtsgericht zunächst in Battenberg, ab 1923 in Marburg und Kassel. Im Mai 1924 heiratete er in Marburg Selma Levy aus Treysa. Am 12. April wurde eine Tochter, Marion, geboren.

Berufsleben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach der zweiten Staatsprüfung in Berlin und Rückkehr nach Marburg führte er gemeinsam mit Willi Wertheim (geboren am 28. Januar 1892 in Hatzbach) eine Anwaltskanzlei, ab 1931 als Notariat. Er war aktiv im Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in der Bekämpfung des Antisemitismus und der Wahrung der staatsbürgerlichen Rechte. Nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums konnte Reis 1933 das Notariat und die Anwaltstätigkeit nicht fortführen. Sein Partner floh nach Frankreich und ist seit 1943 im KZ Majdanek verschollen. Reis konnte als Rechtsberater für ausreisewillig gemachte Juden weiterarbeiten. Bei der Zerstörung der Synagoge in Marburg am 9. November 1938 und der Verhaftung von 31 jüdischen Männern, die in das KZ Buchenwald deportiert wurden, blieb Reis verschont und wurde 1939 Obmann der jüdischen Gemeinde in den Beziehungen zur Staatsgewalt. Bis zum Schluss war er mit der Wahrnehmung jüdischer Rechtsangelegenheiten beauftragt. Damit stand er in konflikthafter Beziehung zu manchen Gemeindemitgliedern, die ihn als Schergen der Nationalsozialisten ansahen. Freiwillig meldet er sich zu Straßen- und Feldarbeit, um nicht als privilegiert angesehen zu werden. Im Dezember 1941 gelang es ihm noch, seine Tochter Marion vor der Deportation zu bewahren. Die Familie musste ihre Wohnung verlassen und wurde 1942 in einem Judenhaus einquartiert.

Fluchtversuch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die in Marburg lebende Witwe des Staatsrechtlers Albert Hensel, Marie Luise Hensel, versuchte im August 1942, die Familie Reis über die Grenze am Bodensee in die Schweiz zu retten. Aufgrund einer Denunziation wurde sie dort festgenommen und in ein Konstanzer Gefängnis gebracht. Nach dreitägigen Verhören nahm sie sich das Leben, um keinen Verrat zu begehen. Der Fluchtversuch endet mit der Inhaftierung der Familie Reis im Gefängnis der Gestapo in Kassel wegen versuchter Beihilfe zum Schmuggel jüdischen Besitzes in die Schweiz. Der Fluchtversuch wurde 1960 von Marie Luise Kaschnitz in der Erzählung Das rote Netz: In memoriam Marie-Louise Hensel, literarisch bearbeitet.

Deportation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am 6. September 1942 erfolgte die Deportation der Familie mit 73 weiteren Marburger Juden zunächst nach Kassel[1] und am 8. September weiter nach Theresienstadt. Marburg wurde als „judenfrei“ erklärt.[2] Am 29. September 1944 wurde Hermann nach Auschwitz verbracht.[3] Selma und Marion Reis wurden zwei Wochen später[4] nach Auschwitz deportiert. Es gab keine Zeugen, die Hermann Reis oder seine Frau und Tochter danach noch einmal gesehen haben.

Quellen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Universitätsbibliothek Marburg, Handschriftensammlung, Nachlass Dickinson, Signatur 1039.01 – 05
  • Marie Luise Kaschnitz: Das rote Netz (Erzählung) in: Lange Schatten, Claassen-Verlag 1960
  • John K. Dickinson: German and Jew: The Life and death of Sigmund Stein, Quadrangle Book, Chicago 1967 (anonymisierte Erstausgabe)
  • John K. Dickinson: German & Jew: The Life and Death of Sigmund Stein, with a foreword by Raul Hilberg. Ivan R Dee, Inc; 2001 (enthält die allerdings inkomplette Entschlüsselung der Personen-, Orts- und Strassennamen der Erstausgabe)
  • Horst J. Rieth: Zwei Marburger. Szenische Annäherung an Hermann Reis und Hans Krawielitzki. Osiander/bookmundo 2020

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Transport XV/1 als Nr. 705 -707. Es gab dabei insgesamt 846 Deportierte, von denen nur 73 überlebten. https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/28349-hermann-reis/ eingesehen am 9. November 2022
  2. Quelle?
  3. Transport El, al Nr. 544. Von den 1500 Deportierten überleben 157, Hermann Reis war nicht darunter
  4. Transport Eq am 12. Oktober 1944, Nr. 759 und 760, 1500 Menschen, von denen 112 überleben, nicht aber Selma und Marion