Imperiale Lebensweise

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Der Begriff imperiale Lebensweise (englisch: imperial mode of living) wurde von den beiden Politikwissenschaftlern Ulrich Brand und Markus Wissen in die internationale politische Diskussion eingeführt und durch ein 2017 erschienenes gleichnamiges Buch systematisch ausgearbeitet.[1][2] Der Begriff ist in der sozialwissenschaftlichen und politischen Diskussion seither häufig aufgenommen worden und steht als Chiffre für eine fundamentale Kritik der bestehenden globalen sozial-ökologischen Ungleichheitsordnung und ihrer Verankerung nicht nur in den abstrakten Strukturen von wachstumsorientierter kapitalistischer Produktionsweise und Staat, sondern auch in Gewohnheiten und Praxismustern des Alltags.

Begriff[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Imperiale Lebensweise ist ein erstmals 2009 verwendeter Begriff[3] der in der Zusammenarbeit von Ulrich Brand und Markus Wissen in den Folgejahren – ähnlich wie der Begriff Sozial-ökologische Transformation – weitere Ausformulierungen erfahren hat.[4][5] Er zielt darauf, globale Ungleichheiten zu analysieren, die nicht nur aus ungleichen ökonomischen und politischen Verhältnissen resultieren, sondern auch aus einer hegemonial verbreiteten dominanten Lebensweise vor allem in den hochindustrialisierten Ländern Westeuropas und den USA, aber auch in privilegierten Bevölkerungsteilen anderswo. Dabei nehmen sie insbesondere die ökologischen Kosten eines global nicht verallgemeinerbaren hohen Ressourcenverbrauchs in den Ländern des Globalen Nordens in den Blick.
Semantisch folgt er der Formulierung der „neoliberal-imperialen Politik“[6] in früheren Publikationen. Der Diskurs schließt weiterhin an Christoph Görg an, der die Umweltproblematik als „ökologischen Imperialismus“[7] fasst und dabei auch den Begriff der Lebensweise aufgreift.[8] Dessen Text endet mit der Forderung nach einer Imperialismustheorie der Umweltproblematik.[9] 2017 ist der Begriff der Imperialen Lebensweise erstmals ausführlich systematisiert[10] und empirisch untermauert worden.[11] Eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Begriff der solidarischen Lebensweise ist 2019 erfolgt.[12]

Der Begriff verknüpft die soziale und ökologische Kritik an dem Weltwirtschaftssystem. Unter imperiale Produktionsweise verstehen die beiden Autoren eine Produktionsweise, bei der Ressourcen (Rohstoffe wie Erdöl und Land, aber auch Arbeitskraft) aus dem Süden ausgebeutet (extrahiert), überwiegend im Norden verbraucht und über die Senken des Südens wieder entsorgt werden. Die Autoren sind der Auffassung, dass es sich dabei um eine Krise handelt, deren zugrunde liegenden Konsum- und Produktionsmuster sich allerdings nur schwer in politisch relevante Kritik umwandeln lasse, weil sie für viele Menschen im Norden und Süden noch immer trotz sichtbarer Folgen wie Klimaerwärmung, Ressourcenübernutzung und Artensterben als attraktiv eingeschätzt würden. In der Mittel- und Oberschicht des Nordens hätten sich, so die Autoren, diese Konsums- und Produktionsmuster in den letzten Jahrzehnten immer weiter verfestigt und würden nach außen verteidigt.[13] Im Rahmen einer weltweiten Hegemonie der imperialen Lebensweise verbreitet sich auch in Ländern des Globalen Südens vielerorts eine periphere imperiale Lebensweise, die aus der Orientierung besser gestellter Lohnabhängiger und der privilegierten Klassen an der westlichen Lebensweise resultiert.[14]

Zu dem Begriff „imperial“ schreiben die Autoren an anderer Stelle:

„»Imperial« kennzeichnet für uns nicht die »Herrschaft – einer Minderheit – über eine übergroße Mehrheit« (…) Vielmehr geht es uns – etwa in der Tradition von Rosa Luxemburg und jüngst Klaus Dörre – um den Zugriff des Kapitalismus auf sein Äußeres, eben eine Produktions- und Lebensweise, die strukturell den Menschen aufgezwungen wird und die ihnen gleichzeitig unter den gegebenen Bedingungen erweiterte Lebens- und Handlungsspielräume gibt.“[15]

Ulrich Brand und Markus Wissen begreifen den Begriff imperiale Lebensweise auch als ein Forschungsprogramm im Sinne einer empirischen Auseinandersetzung in den Lebensbereichen Wohnen, Ernährung und Kleidung.[16]

Kritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Soziologe Klaus Dörre kritisierte 2018, dass der Begriff der imperialen Lebensweise Gefahr läuft, die Bevölkerungen des Globalen Nordens in einem „vereinnahmenden 'Wir'“ zu vereinheitlichen, soziale Unterschiede und unterschiedliche Konsumniveaus auszublenden und eine „starke Relativierung von Ausbeutung, Entfremdung, Ungleichheit und Unsicherheit im Inneren“ dieser Gesellschaften begünstigt.[17] Gleichzeitig hält er die Analyse der Autoren Brand und Wissen im Grunde für einen „common sense gesellschaftlicher Transformationsdebatten“ und erkennt in ihrer Kritik weniger einen analytischen, sondern vielmehr politischen Nutzen, weil der gesellschaftliche Trend zu neuen Konsummustern, zu vegetarischer oder veganer Ernährung auf diese Weise eine politische bzw. kapitalismuskritische Ausrichtung erfahre. Ohnmachtserfahrungen und apokalyptische Visionen, wie sie häufig mit der Analyse ökologischer Gefahren verbunden seien, würden relativiert, um eine Emanzipationsperspektive offen zu halten: „Die befreiende Einsicht lautet: Jede und jeder einzelne kann jederzeit etwas tun. Die Ethik ökologischen Verzichts lässt sich zuallererst auf das eigene Leben anwenden.“[17]

Ähnlich argumentierte 2016 der Soziologe Stephan Lessenich: „Es ist recht leicht und steht letztlich jedem Einzelnen offen, anders zu trinken und anders zu essen, bewusster zu kaufen und reflektierter zu konsumieren.“[18] Im Sinne einer radikalen gesellschaftlichen Veränderung in Richtung von Nachhaltigkeit könne dies nach Auffassung von Lessenich allerdings nur ein erster Schritt sein. Hans Günter Bell und Paul Schäfer kritisierten 2018 an dem Buch von Brand/Wissen die Unschärfe in Bezug auf die politischen Handlungsmöglichkeiten: „Wenn aber Brand/Wissen ‚by the way‘ all das, was es im linksalternativen Milieu an Ideen und Vorstellungen gibt, unter diese Rubrik ‚Suchbewegung‘ subsumieren – um zwei Beispiele zu nennen: De-Growth oder bedingungsloses Grundeinkommen –, so halten wir das für wenig produktiv und zielführend. Eine progressive Linke, die stärker und wirkungsmächtiger werden will, wird sich schon auf einen gemeinsamen Forderungs- und Handlungskorridor verständigen müssen.“[19]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bücher

  • Ulrich Brand, Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. oekom, München 2017, ISBN 978-3-86581-843-0. (oekom.de)
    • englische Übersetzung: The Imperial Mode of Living. Everyday Life and the Ecological Crisis of Capitalism, Verso, London 2021, ISBN 978-1-78873-912-2.
  • Alexander Behr: Globale Solidarität. Wie wir die imperiale Lebensweise überwinden und die sozial-ökologische Transformation umsetzen. oekom, München 2022, ISBN 978-3-96238-370-1. (oekom.de)
  • Josef Mühlbauer, Leo Xavier (Hrsg.): Zur Imperialen Lebensweise. mandelbaum verlag, Wien 2022, ISBN 978-3-85476-945-3. (mandelbaum.at)
  • I.L.A. Kollektiv (Hrsg.): Auf Kosten Anderer? Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert. oekom, München 2017, ISBN 978-3-96006-025-3. (oekom.de)
  • I.L.A. Kollektiv (Hrsg.): Das Gute Leben für Alle. Wege in die solidarische Lebensweise. oekom, München 2019, ISBN 978-3-96238-095-3. (oekom.de)
  • I.L.A. Kollektiv, Periskop (Hrsg.): Von A wie Arbeit bis Z wie Zukunft. Arbeiten und Wirtschaften in der Klimakrise. Wien 2019. (kollektiv-periskop.org)
  • I.L.A. Kollektiv (Hrsg.): Die Welt auf den Kopf stellen. Strategien für radikale Transformation. oekom, München 2022, ISBN 978-3-96238-405-0. (oekom.de)

Weitere Publikationen

  • Ulrich Brand, Markus Wissen: Sozial-ökologische Krise und imperiale Lebensweise. Zu Krise und Kontinuität kapitalistischer Naturverhältnisse. In: A. Demirovic, J. Dück, F. Becker, P. Bader (Hrsg.): VielfachKrise im finanzdominierten Kapitalismus. Hamburg 2011, ISBN 978-3-89965-404-2, S. 79–94.
  • Ulrich Brand, Markus Wissen: Imperiale Lebensweise! Modernisierung oder Überwindung von Herrschaft? Replik auf Dieter Boris und Eröffnung einer Debatte. In: Sozialismus.de, Nr. 12–2017, S. 63–67. (sozialismus.de)
  • Ulrich Brand, Markus Wissen: „Nichts zu verlieren als ihre Ketten?“. Neue Klassenpolitik und imperiale Lebensweise. In: Luxemburg. Nr. 1/2018, S. 104–111. (zeitschrift-luxemburg.de)
  • J. Korn: Bedingungsloses Grundeinkommen. Ein politisches Instrument zur Überwindung oder Aufrechterhaltung imperialer Lebensweisen? Masterarbeit an der Leuphana Universität, Lüneburg 2019. (pub-data.leuphana.de)

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Ulrich Brand, Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus. (Englische Übersetzung: The Imperial Mode of Living. Everyday Life and the Ecological Crisis of Capitalism. Verso, London 2021, ISBN 978-1-78873-912-2.). Oekom, München 2017, ISBN 978-3-96006-843-3.
  2. Karl Georg Zinn: Überbevölkerung unter Verschweigegebot? Klimawandel, demografische Entwicklung und "imperiale Lebensweise". In: sozialismus.de. Nr. 2, 2019, S. 62.
  3. Ulrich Brand (2009): Schillernd und technokratisch. Grüner New Deal als magic bullet in der Krise des neoliberal-imperialen Kapitalismus? In: PROKLA. Nr. 156, S. 475–481.
  4. Markus Wissen: Klimawandel, Geopolitik und "imperiale Lebensweise". Das Scheitern von "Kopenhagen" und die strukturelle Überforderung internationaler Umweltpolitik. In: Kurswechsel. Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen. Nr. 2, 2010, S. 30–38.
  5. Ulrich Brand, Markus Wissen: Sozial-ökologische Krise und imperiale Lebensweise. Zu Krise und Kontinuität kapitalistischer Naturverhältnisse. In: Alex Demirović, Julia Dück, Florian Becker, Pauline Bader (Hrsg.): VielfachKrise im finanzdominierten Kapitalismus. Hamburg 2011, ISBN 978-3-89965-404-2, S. 79–94.
  6. Ulrich Brand: Gegenhegemonie unter „post-neoliberalen“ Bedingungen. Anmerkungen zum Verhältnis von Theorie, Strategie und Praxis. In: Christoph Butterwegge, Bettina Lösch, Ralf Ptak (Hrsg.): Neoliberalismus. Analysen und Alternativen. Wiesbaden 2008, S. 318–334.
  7. Christoph Görg: Ökologischer Imperialismus. Ressourcenkonflikte und ökologische Abhängigkeiten in der neoliberalen Globalisierung. In: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik. Band 24, Heft 47, 2004, S. 95–107.
  8. Christoph Görg: Ökologischer Imperialismus. Ressourcenkonflikte und ökologische Abhängigkeiten in der neoliberalen Globalisierung. In: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik. Band 24, Heft 47, 2004, S. 100, 104.
  9. Christoph Görg: Ökologischer Imperialismus. Ressourcenkonflikte und ökologische Abhängigkeiten in der neoliberalen Globalisierung. In: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik. Band 24, Heft 47, 2004, S. 106.
  10. Ulrich Brand, Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. oekom, München 2017, ISBN 978-3-86581-843-0.
  11. I.L.A. Kollektiv (Hrsg.): Das Gute Leben für Alle. Wege in die solidarische Lebensweise. oekom, München 2019, ISBN 978-3-96238-095-3.
  12. I.L.A. Kollektiv, Periskop (Hrsg.): Von A wie Arbeit bis Z wie Zukunft. Arbeiten und Wirtschaften in der Klimakrise. Wien, 2019.
  13. Ulrich Brand: In der Wachstumsfalle. Die Gewerkschaften und der Klimawandel. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Heft 7, 2019, S. 79–88.
  14. Anna Landherr, Jakob Graf: Territoriale Macht und periphere imperiale Lebensweise – Internalisierungsmechanismen in der chilenischen Bergbaustadt Tierra Amarilla. In: Journal für Entwicklungspolitik (= Journal für Entwicklungspolitik). Band 37, Nr. 4, 2022, S. 44–69.
  15. Ulrich Brand, Markus Wissen: Imperiale Lebensweise! Modernisierung oder Überwindung von Herrschaft? Replik auf Dieter Boris und Eröffnung einer Debatte. In: Sozialismus.de. Nr. 12. VSA, Hamburg 2017, S. 64.
  16. Ulrich Brand: Internationale Politik Forschungsschwerpunkte. Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, Fachbereich Internationale Politik, abgerufen am 26. Juli 2022.
  17. a b Klaus Dörre: Imperiale Lebensweise – eine hoffentlich konstruktive Kritik. In: sozialismus.de. Heft 6. Hamburg 2018, S. 10–11.
  18. Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Hanser Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-446-25295-0, S. 110.
  19. Hans Günter Bell, Paul Schäfer: Imperiale Lebensweise: Kritische Anmerkungen und Debattenvorschläge. In: Sozialistisches Forum Rheinland (Hrsg.): Schriftenreihe. Köln 2018, S. 2–9.