Klinische Zooanthropie

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Klassifikation nach ICD-11
6E8Y Sonstige näher bezeichnete psychische Störungen, Verhaltensstörungen oder neuronale Entwicklungsstörungen [Zooanthropie]
MB26.0Y Sonstiger näher bezeichneter Wahn [Zooanthropie]
ICD-11: EnglischDeutsch (Entwurf)

Klinische Zooanthropie (auch Zoanthropie oder Zooanthropismus, abgeleitet von altgr. ζῷον zōon „Tier“ und ἄνθρωπος ánthrōpos „Mensch“,[1] oder Klinische Therianthropie) bezeichnet die Wahn­vorstellung eines Menschen, in ein Tier verwandelt zu sein oder zu werden. Sie ist ein seltenes Phänomen. Gemäß dem AMDP-System handelt es sich bei der klinischen Zooanthropie um „andere Wahninhalte“ (in Abgrenzung zu häufigeren Wahninhalten wie Verfolgungs- oder Größenwahn).[2] Klinische Zooanthropie ist ein Symptom, kein Syndrom.[3]

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Beschreibungen klinischer Zooanthropie gibt es bereits in der antiken Literatur, zum Beispiel sollen die Töchter des Proitos aufgrund göttlichen Zorns von der Wahnvorstellung ergriffen worden sein, sie wären Kühe.[4] Ein frühes Beispiel aus der medizinischen Literatur ist in den Schriften des Paulos von Aigina enthalten.[5] Aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit sind auch weitere Berichte bekannt.[6]

In ethnologischen Beschreibungen treten entsprechende Wahnvorstellungen unter anderem in Zusammenhang mit ritueller Drogeneinnahme auf.[7]

Eine Übersichtsstudie erfasste 56 Fälle klinischer Zooanthropie in der medizinischen Literatur ab 1850.[8]

Unterscheidung nach Tierart[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eine Unterform der (klinischen) Zooanthropie ist die (klinische) Lykanthropie. Damit ist die Wahnvorstellung gemeint, in einen Wolf verwandelt zu sein oder zu werden. Bisweilen wird die Bezeichnung Lykanthropie verallgemeinernd im Sinne von Zooanthropie verwendet.[9]

Weitere bekannte Formen der Zooanthropie sind die Verwandlung in einen Hund (Kynanthropie),[10] in ein Rind (Boanthropie) oder in eine Katze (Ailuranthropie oder Galeanthropie); zudem wurden Nashorn, Vogel, Pferd, Wüstenrennmaus, Gans, Frosch, Biene, Wildschwein und Schlange[11] sowie Huhn[12] in einzelnen Fällen dokumentiert. 2017 wurde der Fall einer Patientin veröffentlicht, die wahnhaft davon überzeugt war, eine Kaulquappe zu sein.[2]

Meist umfasst die Zooanthropie nur die Verwandlung in eine Tierart; seltener sind Mehrfachverwandlungen, auch multiple klinische Zooanthropie genannt.[13] Welche Tiere vorkommen, hängt davon ab, ob ihnen in der jeweiligen Kultur Bedeutung zugesprochen wird.[14][15]

Hintergrund und Behandlung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die klinische Zooanthropie kann als sekundäres Wahnsymptom bei affektiven Störungen, Schizophrenie und Demenz auftreten, seltener bei Persönlichkeitsstörungen oder substanzinduzierten Erkrankungen. Meist ist sie von kurzer Dauer und hält nur einige Stunden oder Tage an, es sind aber auch längere Verläufe bekannt.[16] Die Therapie setzt bei der Behandlung der Grunderkrankung an.[17]

Die Vorstellung, ein Tier zu sein, kommt bei Kindern als normales Entwicklungsphänomen vor.[18]

Darstellung in den Medien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Verhalten des titelgebenden Protagonisten von Birdy (Romanverfilmung 1984) erinnert an eine klinische Zooanthropie.[19]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Otto Dornblüth: Zoanthropie, Zooanthropie. In: Klinisches Wörterbuch. 13./14. Auflage. Leipzig 1927 (online).
  2. a b Vgl. J. Kräenbring, N. Zellner und J. Warninghoff: Seltener Wahninhalt Zooanthropie. In: Nervenarzt. Band 89, 2018, S. 92–93, doi:10.1007/s00115-017-0285-3.
  3. P. Garlipp, T. Gödecke-Koch, H. Haltenhof und D. E. Dietrich: Lykanthropie/Zooanthropismus – Erörterung eines psychopathologischen Phänomens. In: Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie. Band 69, Nr. 5, 2001, S. 219, doi:10.1055/s-2001-13929.
  4. Vgl. Wilhelm Heinrich Roscher: Das von der „Kynanthropie“ handelnde Fragment des Marcellus von Side. Leipzig 1896, S. 13–14 (digitalisiert auf archive.org).
  5. Vgl. P. G. Coll, G. O’Sullivan und P. J. Browne: Lycanthropy lives on. In: British Journal of Psychiatry. Band 147, 1985, S. 201, doi:10.1192/bjp.147.2.201 (englisch).
  6. Vgl. Wilhelm Heinrich Roscher: Das von der „Kynanthropie“ handelnde Fragment des Marcellus von Side. Leipzig 1896, S. 20 (digitalisiert auf archive.org).
  7. P. Garlipp, T. Gödecke-Koch, H. Haltenhof und D. E. Dietrich: Lykanthropie/Zooanthropismus – Erörterung eines psychopathologischen Phänomens. In: Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie. Band 69, Nr. 5, 2001, S. 217, doi:10.1055/s-2001-13929.
  8. Jan Dirk Blom: When doctors cry wolf: a systematic review of the literature on clinical lycanthropy. In: History of Psychiatry. Band 25, Nr. 1, 2014, S. 87–102, doi:10.1177/0957154X13512192 (englisch).
  9. Vor allem im amerikanischen Englisch werden die Begriffe lycanthropy und zoanthropy oft synonym verwendet, vgl. J. Kräenbring, N. Zellner und J. Warninghoff: Seltener Wahninhalt Zooanthropie. In: Nervenarzt. Band 89, 2018, S. 92, doi:10.1007/s00115-017-0285-3.
    P. Garlipp, T. Gödecke-Koch, H. Haltenhof und D. E. Dietrich: Lykanthropie/Zooanthropismus – Erörterung eines psychopathologischen Phänomens. In: Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie. Band 69, Nr. 5, 2001, S. 215, doi:10.1055/s-2001-13929.
  10. Andreas Marneros: Außergewöhnliche Syndrome kurzgefasst: Lykanthropie. In: Die Psychiatrie. Band 8, Nr. 2, 2011, S. 126, doi:10.1055/s-0038-1671883.
  11. Vgl. Jan Dirk Blom: When doctors cry wolf: a systematic review of the literature on clinical lycanthropy. In: History of Psychiatry. Band 25, Nr. 1, 2014, S. 87–102, doi:10.1177/0957154X13512192 (englisch).
  12. Vgl. A. Beckers, R. van Buggenhout und E. Vrieze: Klinische zoantropie; een vrouw met de zeldzame waan een dier te zijn. In: Tijdschrift voor Psychiatrie. Band 62, Nr. 7, 2020, S. 582–586 (niederländisch, PDF).
  13. Vgl. Petra Garlipp, Detlef E. Dietrich und Horst Haltenhof: Lykanthropie. In: Petra Garlipp und Horst Haltenhof (Hrsg.): Seltene Wahnstörungen. Psychopathologie – Diagnostik – Therapie. Steinkopff, Berlin 2010, S. 23, doi:10.1007/978-3-7985-1877-3_3.
    Jan Dirk Blom: When doctors cry wolf: a systematic review of the literature on clinical lycanthropy. In: History of Psychiatry. Band 25, Nr. 1, 2014, S. 87–102, doi:10.1177/0957154X13512192 (englisch).
  14. Vgl. Petra Garlipp, Detlef E. Dietrich und Horst Haltenhof: Lykanthropie. In: Petra Garlipp und Horst Haltenhof (Hrsg.): Seltene Wahnstörungen. Psychopathologie – Diagnostik – Therapie. Steinkopff, Berlin 2010, S. 22, doi:10.1007/978-3-7985-1877-3_3.
    P. Garlipp, T. Gödecke-Koch, H. Haltenhof und D. E. Dietrich: Lykanthropie/Zooanthropismus – Erörterung eines psychopathologischen Phänomens. In: Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie. Band 69, Nr. 5, 2001, S. 216, doi:10.1055/s-2001-13929.
  15. Ein Zusammenhang mit religiösen Assoziationen wurde bereits im 19. Jahrhundert vermutet, vgl. J. G. Frazer (Hrsg.): Pausanias's Description of Greece. Volume V. London 1898, S. 383 (englisch, digitalisiert).
  16. Petra Garlipp, Detlef E. Dietrich und Horst Haltenhof: Lykanthropie. In: Petra Garlipp und Horst Haltenhof (Hrsg.): Seltene Wahnstörungen. Psychopathologie – Diagnostik – Therapie. Steinkopff, Berlin 2010, S. 23–24, doi:10.1007/978-3-7985-1877-3_3.
  17. Petra Garlipp, Detlef E. Dietrich und Horst Haltenhof: Lykanthropie. In: Petra Garlipp und Horst Haltenhof (Hrsg.): Seltene Wahnstörungen. Psychopathologie – Diagnostik – Therapie. Steinkopff, Berlin 2010, S. 25, doi:10.1007/978-3-7985-1877-3_3.
  18. Petra Garlipp, Detlef E. Dietrich und Horst Haltenhof: Lykanthropie. In: Petra Garlipp und Horst Haltenhof (Hrsg.): Seltene Wahnstörungen. Psychopathologie – Diagnostik – Therapie. Steinkopff, Berlin 2010, S. 22, doi:10.1007/978-3-7985-1877-3_3.
  19. Vgl. P. Garlipp, T. Gödecke-Koch, H. Haltenhof und D. E. Dietrich: Lykanthropie/Zooanthropismus – Erörterung eines psychopathologischen Phänomens. In: Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie. Band 69, Nr. 5, 2001, S. 216, doi:10.1055/s-2001-13929.