Kommunikativer Konstruktivismus

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Der kommunikative Konstruktivismus ist ein Ansatz in der soziologischen und kommunikations- bzw. medienwissenschaftlichen Forschung (Keller & Knoblauch & Reichertz 2012).[1] Er versteht sich als eine Weiterführung des Sozialkonstruktivismus (Berger & Luckmann 1969). Betont letzterer jedoch vor allem die Bedeutung des Wissens beim gesellschaftlichen Aufbau einer Wirklichkeit, verschiebt der kommunikative Konstruktivismus den Akzent auf die Bedeutung des kommunikativen Handelns beim Aufbau der Wirklichkeit (Knoblauch 1995, 2013, 2017, 2020; Reichertz 2009, 2017, 2019, 2021).

Nähere Bestimmung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Kommunikation wird im kommunikativen Konstruktivismus nicht allein als das Mittel verstanden, mit dem sich Menschen absichtsvoll Botschaften zukommen lassen und versuchen, andere zu steuern. Kommunikation ist die Form sozialen Handelns, in den Subjekte miteinander durch Objektivationen verbunden sind. Auf diese Weise immer auch material, erzeugt das kommunikative Handeln Subjektivität, soziale Beziehungen, Gesellschaft und die materiale und Wirklichkeit (Reichertz 2010; Knoblauch 2017). Macht und Kommunikationsmacht spielen bei jeder Art kommunikativen Handelns (also sowohl face-to-face als auch in Diskursen) eine entscheidende Rolle (Keller 2005 2007, Reichertz 2009, 2019, 2020). Ausgehend von einem solchen handlungstheoretischen Begriff des kommunikativen Handelns (das zu Praktiken routinisiert werden kann) rückt der kommunikative Konstruktivismus den Umstand in den Fokus, dass Prozesse der Kommunikation in erheblichen Teilen medienvermittelt geschehen. Diese "mediatisierte Konstruktion der Wirklichkeit" (Couldry/ Hepp 2016) verändert sich jüngst insbesondere durch die Digitalisierung. Dies betrifft die personale Kommunikation zwischen Menschen („wechselseitige Medienkommunikation“) ebenso wie die Kommunikation mit produzierten Medieninhalten („produzierte Medienkommunikation“) und die Kommunikation in virtualisierten Umgebungen („virtualisierte Medienkommunikation“) (Hepp 2013: 57–62). Indem sie die Verbindung von (digitalisierten) Zeichen und materialen Objekten herstellt, die Handlungen beschleunigt und die Räume refiguriert, führt sie in eine Kommunikationsgesellschaft( Knoblauch 2017).

Ziele[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zum einen geht es dem kommunikativen Konstruktivismus darum, die kommunikativen Prozesse (als direkte oder medial gestützte Kommunikation) der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit zu erfassen und wissenschaftlich zu beschreiben – auch weil diese in der aktuellen Welt vielfältiger und bedeutsamer geworden sind. Zum zweiten geht es dem kommunikativen Konstruktivismus um die Weiterentwicklung und Modifikation der sozialkonstruktivistischen Theorie. Eine solche Weiterentwicklung will der gewachsenen Bedeutung von kommunikativem Handeln, von Diskursen und von kommunikativer Praxis Rechnung tragen (Keller 2005; Reichertz 2017). Neben der herkömmlich beachteten subjektiven Perspektive, der interaktiven und der institutionellen Dimension schließt der kommunikative Konstruktivismus auch die Materialität in den Kommunikationsbegriff mit ein, um damit auch den Folgen der Digitalisierung gerecht werden zu können (Knoblauch 2019).

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der kommunikative Konstruktivismus lässt sich bis zu den Anfängen der phänomenologischen Sozialforschung rückverfolgen.[2] Beispielsweise diskutierte bereits Alfred Schütz in seiner Publikation zum “Sinnhaften Aufbau der sozialem Welt” (1974 [1932]) die Rolle von Kommunikation für die Sozialbeziehungen in der sozialen Welt (S. 252–261). Dabei thematisierte er bereits den Stellenwert nicht nur des Briefs, sondern auch des damals noch wenig verbreiteten Mediums Telefon für die “Mittelbarkeit” von Sozialbeziehungen. Auch in der späteren Veröffentlichung von Peter L. Berger und Thomas Luckmann zur “Sozialen Konstruktion vom Wirklichkeit” (1969) hat Kommunikation einen großen Stellenwert. So wird Sprache von den beiden Autoren als herausgehobene “Objektivation” des Sozialen begriffen (S. 72–76). Sie beschreiben das Alltagsleben als “Rattern einer Konversationsmaschine” (S. 163), die das “notwendigste Vehikel der Wirklichkeitserhaltung” ist. Mit Sprache als zentraler Instanz der Herstellung des Sozialen setzte sich Thomas Luckmann auch in späteren Publikationen auseinander. Stimuliert durch konversationsanalytische Forschungen (Knoblauch 1995) entwickelte er eine kommunikationstheoretische Zugangsweise, die über eine reine Sprachsoziologie hinausgeht und die er später selbst im Begriff der kommunikativen Konstruktion reflektiert (Luckmann 2006). Die vielschichtige Rolle von Medien für die Prozesse der kommunikativen Konstruktion waren dabei aber ebenso wenig Gegenstand wie die Analyse komplexer diskursiver Muster. In dieser Entwicklung ist der kommunikative Konstruktivismus vom “radikalen Konstruktivismus” in der Kommunikations- und Medienwissenschaft abzugrenzen (u. a. S. J. Schmidt 1994). Gemeinsam teilen sie eine konstruktivistische Grundannahme, d. h. ein Verständnis, dass menschliche Wirklichkeit nicht gegeben ist, sondern in einem Prozess des (kommunikativen) Handelns bzw. der (kommunikativen) Praxis “hergestellt” wird. Der Hauptunterschied besteht darin, dass der “radikale Konstruktivismus” ausgehend von der Annahme argumentiert, der Mensch sei ein kognitiv (also in seiner Wahrnehmung) geschlossenes System. Entsprechend hat man es mit je subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen zu tun, die allerdings zur weiteren (sozialen) Umwelt viabel (“passend”) sind und entsprechend ein soziales Handeln ermöglichen. Im Zentrum des kommunikativen Konstruktivismus steht hingegen die Herstellung sozialer Wirklichkeit, was als ein subjektiver wie auch intersubjektiver Prozess begriffen wird.

Aktuelle Entwicklungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der kommunikative Konstruktivismus wird zurzeit vor allem in der wissenssoziologischen Theoriediskussion (z. B. Herbrik 2011, Knoblauch 2017, siehe auch die Sammelbände Keller/Knoblauch/Reichertz 2012, Christmann 2016 und Reichertz/Tuma 2017, Reichertz/Bettmann 2018, Reichertz 2020) und in der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschung zu Medienwandel bzw. Mediatisierung aufgegriffen und weitergeführt (Krotz/Hepp 2012, Hepp 2013: VIIIff, Couldry/Hepp 2017, Hasebrink/Hepp/Loosen/Reichertz 2017). Die Wissenssoziologie bemüht sich hierbei insbesondere um die Weiterentwicklung des Sozialkonstruktivismus durch den kommunikativen Konstruktivismus (kritisch dazu Kieserling 2018, Kotthaus 2019). In der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Diskussion geht es vor allem um die Frage, wie sich Prozesse der kommunikativen Konstruktion ändern, wenn diese medienvermittelt erfolgt. Für ein solches Unterfangen steht u. a. die Forschung zu den sich mit dem Medienwandel verändernden “kommunikativen Figurationen” (Hepp/Hasebrink 2014) heutiger Gesellschaften und Kulturen.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Fischer, Frankfurt am Main 1969.
  • Oliver Bidlo (2019): Die kommunikative Konstruktion von Kriminalitätsfurcht. In: Klukkert, Astrid, Feltes, Thomas, Reichertz, Jo (Hrsg.): Torn between Two targets: Polizeiforschung zwischen Theorie und Praxis. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt/Main, S. 205-221. 2019.
  • Gabriela B. Christmann (Hrsg.): Zur Kommunikativen Konstruktion von Räumen: Theoretische Konzepte und empirische Analysen. VS-Verlag, Wiesbaden 2016.
  • Nick Couldry: Media, society, world: Social theory and digital media practice. Polity Press, Cambridge, Oxford 2012.
  • Nick Couldry, Andreas Hepp: Conceptualising mediatization: Contexts, traditions, arguments. In: Communication Theory. 23(3), 2013, S. 191–202.
  • Couldry, Nick / Hepp, Andreas: The Mediated Construction of Reality. Cambridge: Polity Press. 2016.
  • Uwe Hasebrink / Hepp, Andreas/ Loosen, Wiebke/Reichertz, Jo (Hrsg.): Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft. Themenheft der Zeitschrift Medien & Kommunikationswissenschaft. Baden-Baden: Nomos. 2017.
  • Andreas Hepp: Medienkultur. Die Kultur mediatisierter Welten. VS Verlag, Wiesbaden 2013.
  • Andreas Hepp, Uwe Hasebrink: Kommunikative Figurationen – ein Ansatz zur Analyse der Transformation mediatisierter Gesellschaften und Kulturen. In: Nikolaus Jackob, Oliver Quiring, Birgit Stark (Hrsg.): Von der Gutenberg-Galaxis zur Google-Galaxis. Alte und neue Grenzvermessungen nach 50 Jahren DGPuK. UVK, Konstanz 2014, S. 343–360.
  • Andreas Hepp, Friedrich Krotz: Mediatisierte Welten. Forschungsfelder und Beschreibungsansätze – Zur Einleitung. In: Friedrich Krotz, Andreas Hepp (Hrsg.): Mediatisierte Welten. Forschungsfelder und Beschreibungsansätze. VS Verlag, Wiesbaden 2012, S. 7–23.
  • Regine Herbrik: Die kommunikative Konstruktion imaginärer Welten. VS Verlag, Wiesbaden 2011.
  • Regine Herbrik & Heike Kanter: Gespräche über Nachhaltigkeit – nachhaltige Gespräche? Die kommunikative Konstruktion der sozialen Fiktion Nachhaltigkeit [60 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 20(1), Art. 5, doi:10.17169/fqs-20.1.2825, 2019.
  • Reiner Keller: Wissenssoziologische Diskursanalyse. VS Verlag, Wiesbaden 2005.
  • Reiner Keller: Diskursforschung. VS Verlag, Wiesbaden 2007.
  • Reiner Keller, Hubert Knoblauch, Jo Reichertz (Hrsg.): Kommunikativer Konstruktivismus. Springer, Wiesbaden 2012. (Abstract)
  • Andre Kieserling: Von der Gesellschaftlichen zur Kommunikativen Konstruktion der Wirklichkeit. Ein Gespräch zwischen André Kieserling und Hubert Knoblauch. In: Wissensrelationen. Beiträge und Debatten zum 2. Sektionskongress der Wissenssoziologie. Angelika Poferl, Michaela Pfadenhauer (Eds.); Weinheim Basel: Beltz Juventa: 166-183. 2018.
  • Hubert Knoblauch: Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. de Gruyter, Berlin 1995.
  • Hubert Knoblauch: Wissenssoziologie. UVK, Konstanz 2005.
  • Hubert Knoblauch: Communicative constructivism and mediatization. In: Communication Theory. 23(3), 2013, S. 297–315.
  • Hubert Knoblauch: Die Kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit. Wiesbaden: Springer VS. 2017.
  • Hubert Knoblauch: Kommunikativer Konstruktivismus und die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Qualitative Forschung 20,1 (2019), 111-126.
  • Hubert Knoblauch: The Communicative Construction of Reality. London/ New York: Routledge 2020.
  • Hubert Knoblauch, Bernt Schnettler: Vom sinnhaften Aufbau zur kommunikativen Konstruktion. In: Michael Gabriel (Hrsg.): Paradigmen der akteurszentrierten Soziologie. VS Verlag, Wiesbaden 2004, S. 121–138.
  • Jochem Kotthaus: Der Exorzismus der „Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“. In: Zeitschrift für qualitative Forschung. 20. Jg. Heft 2. S. 305-320. 2019. * Friedrich Krotz, Andreas Hepp (Hrsg.): Mediatisierte Welten. Forschungsfelder und Beschreibungsansätze. VS Verlag, Wiesbaden 2012.
  • Thomas Luckmann: Wissen und Gesellschaft. UVK, Konstanz 2002.
  • Thomas Luckmann: Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit. In: D. Tänzler, Hubert Knoblauch, Hans-Georg Soeffner (Hrsg.): Neue Perspektiven der Wissenssoziologie. UVK, Konstanz 2006, S. 15–26.
  • Pfadenhauer, Michaela, Tilo Grenz: Von Objekten zu Objektivierung. Zum Ort technischer Materialität im Kommunikativen Konstruktivismus. In: Soziale Welt. 68(2-3), 2018, S. 225–242.
  • Jo Reichertz: Die Macht der Worte und der Medien. VS Verlag, Wiesbaden 2007.
  • Jo Reichertz: Kommunikationsmacht. Was ist Kommunikation und was vermag sie? Und weshalb vermag sie das. VS Verlag, Wiesbaden 2010.
  • Jo Reichertz: Die Bedeutung des kommunikativen Handelns und der Medien im Kommunikativen Konstruktivismus. In: Themenheft der Zeitschrift Medien & Kommunikationswissenschaft. 2017. Baden-Baden: Nomos. S. 252–274.
  • Jo Reichertz, René Tuma (Hrsg.): Der Kommunikative Konstruktivismus bei der Arbeit Weinheim: Juventa. 2017
  • Jo Reichertz, Richard Bettmann (Hrsg.): Braucht die Mediatisierungsforschung den Kommunikativen Konstruktivismus? Wiesbaden: VS Springer. 2018.
  • Jo Reichertz (Hrsg.): Grenzen der Kommunikation – Kommunikation an den Grenzen. Weilerswist: Velbrück. 2020
  • Jo Reichertz: From understanding to impact: communicative power. In: Michaela Pfadenhauer & Hubert Knoblauch (Eds.): Social Constructivsm as Paradigm. London: Routledge. S. 292-310. 2019.
  • Jo Reichertz: Kommunikationsmacht, soziale Macht, Körpermacht. In: Schröer, Norbert/ Bidlo, Oliver/ Keysers, Verena/ Roslon, Michael (Hrsg.): Facetten der Kommunikationsmacht. Weinheim: Juventa: 289-331. 2021.
  • Siegfried J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994.
  • Boris Traue: Relationale Sozialtheorie und die Materialität des Sozialen. ‚Kontaktmedien‘ als Vermittlungsinstanz zwischen Infrastruktur und Lebenswelt. Soziale Welt 68, 4, 2017, S. 243–260. 
  • Bernt Schnettler: Thomas Luckmann. UVK, Konstanz 2006.
  • Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. [orig. 1932]. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Eine frühere Verwendung des Begriffs findet sich bei: Markus Costazza: Die Abkehr vom Wahrheitsparadigma in der Wissenschaftsphilosophie. In: Roland Fischer, Markus Costazza, Ada Pellert (Hrsg.): Argumentation und Entscheidung : zur Idee und Organisation von Wissenschaft. Profil, Wien 1993, S. 193–242; zudem bei Thomas Luckmann: Wissen und Gesellschaft. UVK, Konstanz 2002, S. 207ff.
  2. Zur Tradition und Geschichte des kommunikativen Konstruktivismus siehe auch http://soziologie.de/blog/?p=2941 und auch Schnettler 2006.