Kreuzmotiv

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Die Tonfolge B-A-C-H (Hörbeispiel/?) als Kreuzmotiv: Beim Verbinden der beiden äußeren und der beiden inneren Noten ergibt sich ein Kreuz.

Als Kreuzmotiv (seltener Chiasmus genannt) wird manchmal eine Folge von vier Tönen bezeichnet, die so aufeinander folgen, dass man beim Verbinden der Noten für die Außen- und die Innentöne ein Kreuz erhält. Mit der Bezeichnung Kreuzmotiv wird zumeist unterstellt, dass diese Kreuzform einen Symbolgehalt hat und vom Komponisten deshalb so realisiert wurde.

Beispiele[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Johann Sebastian Bach verwendete Kreuzmotive in verschiedenen Werken.[1] In Franz Schuberts Es-Dur-Messe kommen laut einem pädagogischen Text Kreuzmotive in den Sätzen Gloria und Agnus Dei vor.[2] Der dritte Satz der 9. Sinfonie von Anton Bruckner soll ein Kreuzmotiv enthalten, das in Takt 14 beginnt.[3]

B-A-C-H als Kreuzmotiv[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das bekannte musikalische Motiv B-A-C-H wird manchmal als Kreuzmotiv bezeichnet (siehe Grafik). Es steht für den Familiennamen von Johann Sebastian Bach.

Entstehung und Rezeption der Kreuzmotiv-Theorie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Philipp Spitta erwähnt das Kreuzmotiv, ohne es so zu nennen, in einer längeren Fußnote in Band II (1880) seines Werks Johann Sebastian Bach. Zu einem Chorsatz in Bachs Matthäus-Passion, in der die Menge der Verfolger Christi hasserfüllt dessen Kreuzigung fordert, merkte Spitta zunächst an, dass unter anderem „die Kreuzungen der Stimmen“ einen „malerischen Zweck“ haben dürften, was schon lange vermutet worden sei. Dann schrieb er:

„Die Neigung zur Tonmalerei äußerte sich in jener Zeit zuweilen auch in einer Art von Augenmusik […] Der Haupttheil des Bachschen Kreuzigungsthemas: …“ [hier folgt in Notenschrift das aus vier Tönen bestehende Motiv in zwei Versionen] „… bildet, wenn man die äußersten und mittleren Noten durch Linien verbindet, das Zeichen des Kreuzes.“[4]

Spitta bewertete anschließend die symbolische Darstellung des Kreuzes im Notenbild als „Spielerei“, die aber nichts Verletzendes habe, „da sie von einem bedeutenden musikalischen Gedanken getragen wird“.[4]

Arnold Schering deutete diese „kreuzförmigen“ Tonfolgen in seinem Werk Das Symbol in der Musik (1941) als Symbole für das Leiden Christi am Kreuz und als Beispiele für die „übergeordnete Sinnbeziehung eines Elementarsymbols“.[5]

Laut Wolfgang Kostujak galten insbesondere Kreuzsymbole in Johann Sebastians Bachs Musik gegen Ende des 20. Jahrhunderts „als probatestes Erkennungszeichen für theologisch intendierte Verweise eines Komponisten auf Christus oder das ‚Leiden am Kreuz‘“. Kostujak spricht selbst nicht von Kreuzmotiven, sondern verwendet den Begriff Chiasmus, der zuvor von Friedrich Smend für eine ganz andere Art von Kreuzfigur verwendet wurde.[6]

Das Konzept des Kreuzmotivs wird in MGG Online nicht besprochen. Grove Music Online, das andere der beiden führenden Musiklexika, gibt im Artikel über Augenmusik an: „Es gibt mehr als ein Beispiel dafür, dass die Symbolik der Kreuzigung durch eine Gruppe von Noten in der Form eines Kreuzes dargestellt wird.“[7]

Kritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wolfgang Kostujak bewertete 2007 das Konzept des Kreuzmotivs als unwissenschaftliche Spekulation. Er argumentiert, dass diese musikalische Figur den Musikern des Barockzeitalters nicht bekannt gewesen sei.[6]

Kreuzsymbolik in der Musik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Kreuzmotiv aus vier Tönen ist nur ein Beispiel für Kreuzsymbolik in der Musik. Die meisten Formen der musikalischen Kreuzsymbolik, darunter auch das Kreuzmotiv, gehören in den Bereich der Augenmusik, das heißt, das Kreuz ist nicht als solches hörbar, es ist nur im Notenbild zu erkennen.[8] Im Artikel Augenmusik des Brockhaus Musik (2001) heißt es dazu: „Das Wort ‚Kreuz‘ kann durch Kreuzvorzeichnung oder – so häufig bei Bach – durch Stimmkreuzung, Kreuzmotiv einer Stimme oder Kreuzform des Partiturbildes symbolisiert werden.“[1] Grove Music Online erwähnt „eine Gruppe von Noten in der Form eines Kreuzes“ als Beispiel für Augenmusik,[7] macht aber keine nähere Angabe zur Anzahl der Noten und zu ihrer Anordnung. Deshalb könnten hier neben dem Kreuzmotiv aus vier Noten auch andere Notenkonstellationen gemeint sein.

Der Theologe Friedrich Smend stellte zahlreiche symmetrische Strukturen in Bachs Werken fest, die er als „Symbol des Kreuzes Christi“ deutete.[9] In seinen Erläuterungen zu Bachs Kirchenkantaten (Erstauflage 1947/48) führte er dafür den Begriff Chiasmus ein[10] – entsprechend der rhetorischen Figur, die in der Sprachwissenschaft bereits als Chiasmus bekannt war. Chiasmus, abgeleitet vom griechischen Buchstaben Chi (X), bedeutet „kreuzförmige Struktur“ oder „Kreuzform“. Der von Friedrich Smend auf die Kreuzigung bezogene Begriff „Chiasmus“ kommt laut Wolfgang Kostujak in der Figurenlehre des 17. und 18. Jahrhunderts nicht vor.[6]

John Eliot Gardiner weist auf die zahlreichen „Kreuzfiguren“ (englisch cross figures) der Gambenstimme in der Arie „Komm, süßes Kreuz“ in Bachs Matthäus-Passion hin. Die Kreuzfiguren der siebensaitigen Viola da Gamba sind Ketten von abwechselnd hohen und tiefen Tönen, die den Gambisten zu aufeinanderfolgenden ausladenden Saitenwechseln (string crossings) zwingen.[11]

Andere Wortbedeutung im Bereich Musik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Kreuzmotiv bezeichnete Franz Liszt ein Motiv, das er unter anderem in seinem Oratorium Die Legende von der Heiligen Elisabeth verwendet, das zuerst einen Ganzton, dann eine kleine Terz nach oben führt.[12]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b Brockhaus Musik (2001), Artikel Augenmusik, siehe Ausschnitt bei Google Books.
  2. Musikbeispiele zum Buch Schubert hören. Eine Anleitung von Michael Wersin, reclam.de, siehe NB 13 und NB 14.
  3. Peter Rinderle: Musik, Emotionen und Ethik. Verlag Karl Alber, 2014, Abschnitt 4.4: Musik und religiöse Emotionen, S. 220–233, hier S. 231.
  4. a b Philipp Spitta: Johann Sebastian Bach. Band II, Breitkopf & Härtel, Leipzig 1880, S. 379, Fußnote 100.
  5. Arnold Schering: Das Symbol in der Musik. Leipzig 1941, S. 129 f. Zitiert nach Wolfgang Kostujak: flaschenpost aus dem meer der geschichte? DIE BACH-REZEPTION AUF HOHER SEE. In: Neue Zeitschrift für Musik (1991-), Band 168/6, 2007, S. 58–61, hier S. 61.
  6. a b c Wolfgang Kostujak: flaschenpost aus dem meer der geschichte? DIE BACH-REZEPTION AUF HOHER SEE. In: Neue Zeitschrift für Musik (1991-), Band 168/6, 2007, S. 58–61, hier S. 61.
  7. a b Thurston Dart: Eye music (Ger. Augenmusik). In: Grove Music Online, 2001. Zitat: “There is more than one instance of the symbolism of the Crucifixion illustrated by means of a set of notes in the form of a cross.”
  8. Vgl. Thurston Dart: Eye music (Ger. Augenmusik). In: Grove Music Online, 2001. Augenmusik wird dort wie folgt definiert: “Musical notation with a symbolic meaning that is apparent to the eye but not to the ear” (sinngemäß: „Musikalische Notation mit einer symbolischen Bedeutung, die mit dem Auge, aber nicht mit dem Ohr wahrnehmbar ist“).
  9. Vgl. John Eliot Gardiner: BACH - Musik für die Himmelsburg. München 2016, ISBN 978-3-534-26475-9, S. 466 f.
  10. Friedrich Smend: Johann Sebastian Bach: Kirchen-Kantaten, Band IV. 3. Auflage, Berlin 1966, S. 49 f. Zitiert nach Wolfgang Kostujak: flaschenpost aus dem meer der geschichte? DIE BACH-REZEPTION AUF HOHER SEE. In: Neue Zeitschrift für Musik (1991-), Band 168/6, 2007, S. 58–61, hier S. 61.
  11. BACH - Musik für die Himmelsburg. München 2016, ISBN 978-3-534-26475-9, S. 517. Vgl. die Passage in der englischen Originalfassung online bei Google Books.
  12. Artikel Liszt, Franz in Grove Music Online.