Lawrence Abu Hamdan

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Lawrence Abu Hamdan (* 1985 in Amman) ist ein britisch-libanesischer[1] Künstler.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Lawrence Abu Hamdan wurde in der jordanischen Hauptstadt Amman geboren, wuchs aber überwiegend in der englischen Stadt York auf (verschiedentlich wird er auch nur als libanesischer[2][3] oder jordanischer[4][5][6] Künstler bezeichnet). Sein Vater ist Libanese und dessen Familie Angehörige der Drusen; seine Mutter stammte aus Yorkshire. Eigenen Angaben zufolge fühlt sich Abu Hamdan sowohl „britisch“ als auch „sehr arabisch“.[7]

Abu Hamdan tourte eigenen Angaben zufolge früher als Musiker und war ein Unterstützer der DIY-Musikszene in Leeds.[7][8] Er studierte an der Middlesex University in London, die er 2007 mit einem Bachelor of Arts in der Fachrichtung Sonic Arts verließ. 2010 wurde ihm vom Centre for Research Architecture des Goldsmiths College (University of London) der Master of Arts verliehen, 2016 vom selben Fachbereich der PhD.[9]

Von 2015 bis 2017 war Abu Hamdan Fellow am Vera List Centre for Art and Politics der New School in New York City. 2017/18 nahm er am Berliner Künstlerprogramm des DAAD teil. Gegenwärtig ist er Fellow der University of Chicago.[9]

Lawrence Abu Hamdan ist verheiratet und Vater einer Tochter. Er lebt mit seiner libanesischen Ehefrau und Kind in Beirut. Als einen Grund für den Umzug in den Libanon nannte er erlebte Behördenwillkür seitens des britischen Home Office, bei dem er 13 Monate lang versucht hätte, einen Pass für seine Tochter zu beantragen.[7]

Werk[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Abu Hamdan bezeichnet sich selbst als unabhängiger „Audioermittler“ oder auch „Klangdetektiv“[10] (englisch Private Ear[8]), dessen Ausbildung als Musiker ihn für die Arbeit an forensischen Audioermittlungen qualifiziere. Er sieht sich dabei in hybrider „Funktion zwischen Technikspezialist und Künstler“. Abu Hamdan entwickelt und adaptiert seine Werke – visuelle und radiophone Kunstwerke und Installationen – für unterschiedliche Schauplätze, darunter Galerien, Museen sowie für die Anwalts- und Rechtsarbeit. Zahlreiche seiner forensischen Untersuchungen entstanden in Zusammenarbeit mit der unabhängigen Kunst- und Rechercheagentur Forensic Architecture, die ihren Sitz am Goldsmiths College hat, wo Abu Hamdan studierte. Mit Hilfe von Audiosoftware kann er spezifische Frequenzen eines bestimmten Klangs visualisieren.[10]

„Meine Arbeit beschäftigt sich [...] mit Wahrheiten, die sich in voneinander untrennbaren Elementen der Umwelt manifestieren, in der jeder Klang durch die Analyse auch erneut erklingt. Das heißt, ich untersuche akustische Beweise sowohl an sich als auch als Bestandteil der Mittel, durch die sie politisch wahrgenommen werden. Dabei stütze ich mich auf unterschiedliche Disziplinen: auf die forensische Analyse, auf den kritischen Diskurs, auf Jura, Theologie und Philosophie. Eine hybride Beschäftigungsform, die dabei hilft, alternative Möglichkeiten zu entwickeln, mit denen man Verbrechen hören kann. Sie lässt Argumentationsformen zu, die auf unterschiedliche Weise an den Konventionen der forensischen Wahrheitsproduktion festhalten und/oder diese überdenken.“

Lawrence Abu Hamdan[10]

Für Defence for Children International analysierte er zusammen mit Forensic Architecture den Tod zweier palästinensischer Jugendlicher in Baituniya im Jahr 2014, die von israelischen Soldaten erschossen worden waren. Anhand akustischer Analyse konnte er beweisen, dass die Soldaten scharfe Munition und nicht Gummigeschosse verwendet hatten, wie sie und das israelische Militär behauptet hatten. Mit dieser Ermittlung setzte er sich auch künstlerisch in seinem Werk «Earshot» auseinander.[11]

2019 wurde Abu Hamdan für seine Einzelausstellung Earwitness Theatre an der Londoner Chisenhale Gallery, die Video-Installation Walled Unwalled sowie die Performance After SFX an der Tate Modern für den renommierten Turner Prize nominiert. Als Grundlage für die Projekte dienten ihm Interviews, die er mit ehemaligen Häftlingen des syrischen Militärgefängnisses Saidnaya geführte hatte. Diese entstanden im Rahmen einer Audio-Untersuchung für Amnesty International und Forensic Architecture. Mit Hilfe von Soundeffekten half Abu Hamdan den sechs Überlebenden, sich an die Geräuschkulisse des Gefängnisses zu erinnern[12] – beim Verlassen der Zelle waren den Häftlingen stets die Augen verbunden worden, womit sie keine visuelle Orientierung hatten.[6] Dadurch war es ihm möglich, die unbekannte Architektur des Gebäudes abzubilden und zu verstehen, was sich in Saidnaya abspielte.[12]

Abu Hamdan galt als Geheimfavorit auf den Turner Prize.[6] Umso überraschender war die Verkündung der Jury, den Preis erstmals zu gleichen Teilen an alle vier nominierten Künstler zu verleihen. Abu Hamdan, Helen Cammock, Oscar Murillo und Tai Shani hatten diesen Plan bei ihrem ersten gemeinsamen Zusammentreffen in der Turner Contemporary beschlossen und die Jury aufgefordert,[13] sie als „heterogenes Künstlergespann mit viel Migrationshintergrund“ gemeinsam auszuzeichnen, „das das Verbindende und die Gemeinschaft betonen“ wollte.[6] Die Jury kam dieser Aufforderung schließlich nach und das Preisgeld von 40.000 £ wurde gerecht auf die vier Künstler aufgeteilt. Abu Hamdan gab an, dass das Jahr 2019 ein „spezifisches“ Ereignis gewesen sei, da sich alle Künstler auf einem ähnlichen sozialen und politischen Weg befunden hätten. „Dieses Mal schien es mehr einen Zusammenhalt um einen politischen Ansatz als um eine ästhetische Praxis zu geben“, so Abu Hamdan.[13] Bei der Preisverleihung trug Helen Cammock eine gemeinsam vorbereitete, ausgesprochen politische Erklärung vor: „Der Turner-Preis wird an britische Künstler vergeben oder an Künstler, die in Großbritannien leben. In diesem Jahr – wie so häufig in der Vergangenheit – erweitert der Preis wohl, was als britisch definiert wird“, so Cammock. „Wir finden das bedeutsam in einer Zeit, die durch ein Erstarken der Rechten und durch eine Erneuerung des Faschismus in einem konservativen, feindseligen Umfeld geprägt ist – wodurch wir mit unseren Freunden und Familien in Großbritannien wieder zunehmend unwillkommen sind“. Auch verwies Cammock auf die bevorstehende Unterhauswahl, bei der man dies ändern könne.[6]

Gegenwärtig beschäftigt sich Abu Hamdan mit dem Thema Reinkarnation, das auch in der Religion der Drusen eine Rolle spielt. Dafür filmte er u. a. ein Interview mit einem 31-jährigen Drusen, der glaubt, die Reinkarnation eines 17-jährigen Jungen zu sein, der 1984 im libanesischen Bürgerkrieg getötet wurde.[7]

2020 nahm Abu Hamdan am Steirischen Herbst teil; er installierte sein Soundpiece A Convention of Tiny Movements – Eurospar in den Regalen von Supermärkten.[14]

Abu Hamdans Arbeiten wurden in die Kollektionen des Museum of Modern Art, Guggenheim Museums, Van Abbemuseum, Centre Pompidou und der Tate Modern aufgenommen.[9]

Ausstellungen (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelausstellungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auszeichnungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Lawrence Abu Hamdan: (Inaudible) : a politics of listening in 4 acts. Berlin : Sternberg Press, 2016. ISBN 978-3-95679-241-0 (Ausstellungskatalog).
  • Lawrence Abu Hamdan: Hear, Hear. In: Texte zur Kunst, Nr. 108, Dezember 2017, S. 79–86.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Maria Anna Tappeiner: Lawrence Abu Hamdan. In: kunstforum.de (abgerufen am 2. Dezember 2019).
  2. Abu Hamdan, Lawrence. In: berliner-kuenstlerprogramm.de (abgerufen am 2. Dezember 2019).
  3. Tomasz Kurianowicz: Kulturtipps. In: rbb-online.de, 2. November 2019 (abgerufen am 2. Dezember 2019).
  4. Lawrence Abu Hamdan. In: kunsthaus-bregenz.at (abgerufen am 2. Dezember 2019).
  5. Utta Raifer: Der Künstler Lawrence Abu Hamdan ist ein Detektiv der Klänge. In: morgenpost.de, 6. November 2019 (abgerufen am 2. Dezember 2019).
  6. a b c d e Sensation in der britischen Kunstwelt. In: tagesschau.de, 4. Dezember 2019 (abgerufen am 4. Dezember 2019).
  7. a b c d Charlotte Higgins: Silence or death: Turner finalist Lawrence Abu Hamdan on recreating a horrific Syrian jail. In: theguardian.com, 1. Oktober 2019 (abgerufen am 2. Dezember 2019).
  8. a b Biography. In: lawrenceabuhamdan.com (abgerufen am 2. Dezember 2019).
  9. a b c Lawrence Abu Hamdan (Memento des Originals vom 2. Dezember 2019 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.sfeir-semler.com. In: sfeir-semler.com (englisch, abgerufen am 2. Dezember 2019).
  10. a b c Lawrence Abu Hamdan: Hear, Hear. In: Texte zur Kunst, Nr. 108, Dezember 2017, S. 79–86 (abgerufen am 2. Dezember 2019).
  11. Hannah El-Hitami: Stille ist eine Form der Misshandlung. Frankfurter Rundschau, 6. Mai 2021, S. 19.
  12. a b Turner Prize 2019: Lawrence Abu Hamdan. In: tate.org.uk (abgerufen am 2. Dezember 2019).
  13. a b Mark Brown: Turner prize awarded four ways after artists' plea to judges. In: theguardian.com, 3. Dezember 2019 (abgerufen am 4. Dezember 2019).
  14. Catrin Lorch: Steirischer Herbst. Abgerufen am 11. Oktober 2020.