Lie-Integration

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Die Lie-Integration (nach Sophus Lie) ist ein Verfahren zur numerischen Integration von Differentialgleichungen. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Verfahren können die Gleichungen hier durch Differenzieren anstatt durch Integration gelöst werden.

Grundlagen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Lie-Operator[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Lie-Operator D ist ein linearer Differentialoperator: Sei ein Gebiet und (hierbei sei sowie ) von der Gestalt

Die Funktionen sind holomorph (d. h. sie können in eine konvergierende Potenzreihe entwickelt werden).

Lie-Reihen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Lie-Operator kann auf eine Funktion (die in der gleichen Region holomorph ist wie ) angewandt werden:

Die Lie-Reihe L wird nun folgendermaßen definiert:

wobei die zweifache Anwendung des Lie-Operators auf bedeutet, und so weiter. Da die Taylor-Reihe der Exponentialfunktion durch

gegeben ist, kann die Lie-Reihe symbolisch in folgender Form geschrieben werden:

.

Vertauschungssatz[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Für die Lie-Reihe gilt ein Vertauschungssatz: Es sei  eine holomorphe Funktion und die in  entwickelte Potenzreihe von  konvergiere im Punkt  mit . Dann gilt

,

was auch in der Form

geschrieben werden kann. Die letzte Darstellung motiviert die Bezeichnung Vertauschungssatz: Man kann die Anwendungsreihenfolge von  und  vertauschen.

Die Methode[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Lösung einer Differentialgleichung durch Lie-Integration funktioniert folgendermaßen. Gegeben sei ein System von Differentialgleichungen erster Ordnung:

,

Dann können die Lösungen der Gleichungen durch eine Lie-Reihe beschrieben werden:

wobei hier die Anfangsbedingungen sind. Zum Beweis wird zuerst nach der Zeit abgeleitet:

.

Der Vertauschungsatz ergibt dann und aus der Definition des Lie-Operators folgt

und damit der Beweis der Aussage:

.

Beispiel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Demonstration des Verfahrens wird hier die Bewegungsgleichung des harmonischen Oszillators mittels Lie-Integration gelöst. Die Bewegung des Oszillators kann durch eine Differentialgleichung zweiter Ordnung beschrieben werden:

.

Zuerst wird diese Gleichung in ein System zweier Differentialgleichungen erster Ordnung umgewandelt:

,
.

Die Anfangsbedingungen werden als und bezeichnet. Damit hat der Lie-Operator folgende Form:

.

Die Lösungen der Differentialgleichungen sind nun durch die Lie-Reihen gegeben:

wobei hier den Zeitschritt der Integration darstellt. Um die Lösung explizit darzustellen, wird nun die Lie-Reihe in ihrer entwickelten Form dargestellt:

Nun werden die einzelnen Terme der Reihe berechnet:

Allgemein lässt sich zeigen, dass in diesem Fall gilt:

Nun können die einzelnen Terme in die Lie-Reihe eingesetzt werden:

Nach einer Faktorisierung von und ergibt sich schließlich

Bei den beiden Reihen in den Klammern handelt es sich um die Potenzreihe der Kosinus- bzw. Sinus-Funktion. Damit folgt nun die Lösung der Bewegungsgleichung des harmonischen Oszillators:

.

Bemerkungen zur Lie-Integration[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Da die Lösungen bei der Lie-Integration als Potenzreihe in der unabhängigen Variable (hier ) gegeben ist, ist es sehr einfach, einen Integrations-Algorithmus mit Schrittweitensteuerung anzugeben.
  • Das Verfahren ist bei der numerischen Lösung von Differentialgleichungen sehr exakt. Durch Auswahl des Zeitschritts und der Anzahl der Terme der Lie-Reihe, die für die Lösung berechnet werden, lässt sich die Genauigkeit steuern: je mehr Lie-Terme berechnet werden, desto größer kann der Zeitschritt sein (und umgekehrt).
  • Für viele Differentialgleichungen kann die Berechnung der Terme der Lie-Reihe rekursiv erfolgen. Damit wird das Integrationsverfahren sehr schnell.
  • Zur Lösung einer Differentialgleichung mittels Lie-Integration ist nur Kenntnis über die Ableitungen der Gleichungen notwendig. Diese können aber immer, bis zu einer beliebig hohen Ordnung, bestimmt werden. Außerdem ist die Differentiation von Gleichungen im Gegensatz zur Integration mittels Computeralgebrasystemen (wie z. B. Mathematica oder Maple) komplett automatisierbar.

Aus den oben genannten Gründen wird die Lie-Integration besonders in der Himmelsmechanik zur numerischen Integration der Planetenbewegung verwendet, da hier Schnelligkeit und Genauigkeit von großer Bedeutung sind (siehe Lie-Integrator).

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Wolfgang Gröbner: Die Lie-Reihen und ihre Anwendungen. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1960, DNB 451675177.
  • Rudolf Dvorak, Florian Freistetter, J. Kurths: Chaos and Stability in Planetary Systems. Springer, 2005, ISBN 3-540-28208-4.
  • N. Asghari u. a.: Stability of terrestrial planets in the habitable zone of Gl 777 A, HD 72659, Gl 614, 47 Uma and HD 4208. In: Astronomy & Astrophysics. 426/2004, S. 353–365 ISSN 0004-6361.