Paul Paillole

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Paul Paillole (* 18. November 1905 in Rennes, Bretagne, Frankreich; † 15. Oktober 2002 im Bishat-Hospital in Paris) war ein französischer Geheimdienstoffizier, der hauptsächlich wegen seiner Rolle bei der Verhaftung deutscher Geheimdienstagenten nach der französischen Niederlage 1940 bekannt wurde und seitdem Gegenstand kontroverser Diskussionen ist.[1]

Familiärer Hintergrund[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Pailloles Vater starb 1918 als Soldat während des Ersten Weltkrieges. Dieser persönliche Verlust scheint Pailloles starken Patriotismus entfacht zu haben, den sowohl seine Bewunderer, wie seine Kritiker anerkennen. Nach dem Tode seines Vaters übernahm seine Mutter die Stelle einer Lehrerin in Marseille. Hier besuchte er das Lycée Saint Charles. Als leidenschaftlicher Sportler beanspruchte er später, im berühmten Fußballclub Olympique Marseille gespielt zu haben, obwohl er keine Spuren in den offiziellen Aufzeichnungen dieses Vereins hinterlassen hat.[2]

Militärkarriere[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Angetrieben sowohl von seinem Patriotismus, wie seiner Liebe zu physischen Aktivitäten trat Paillole 1925 der französischen Armee bei und wurde bereits 1929 zum Leutnant befördert. 1935 wurde er zum Nachrichtendienst versetzt. Anfangs stand er seiner Versetzung zurückhaltend gegenüber, weil er diese Verwendung als einseitige Schreibtischarbeit ansah und seine neue Aufgabe mit geringen Kenntnissen antrat. Aber schnell erwarb er sich den Ruf exzellenter professioneller Kompetenz.[3] Bei Ausbruch des Krieges war Paillole ein prominentes Mitglied der aktiven Spionageabwehr-Abteilung, dem Quinzième Bureau.

Im Zweiten Weltkrieg[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach dem Waffenstillstand von Compiègne im Juni 1940 entschied das Vichy-Regime, die Aufklärung und Spionageabwehr neu zu organisieren. Paillole übernahm die Leitung einer geheimen Spionageabwehr, die von Marseille aus unter der Tarnung als Abteilung Travaux Ruraux (TR; dt. Landarbeiten) des Landwirtschaftsministeriums operierte.

Jüngste Forschung des britischen Historikers Simon Kitson zeigte, das im Gegensatz zu den seitens der Geheimdienstveteranen präsentierten Version dieses Agentennetzwerk nicht in Opposition zum Vichy-Regime arbeitete.[4] Amtsträger des Vichy-Regimes waren seit November 1940 über die Lage des Hauptquartiers dieses Agentennetzwerks mit seinem tonnenschweren Archiv in der Villa Eole in Marseille und die Verhaftung deutscher Geheimdienstagenten informiert, die offizielle Strukturen des Regimes, wie Polizei, Gefängnisse, Gerichte und Waffenstillstandskommissionen aktiv unterstützten. Obwohl das Regime extensiv mit den deutschen Besatzungstruppen in Nordfrankreich kollaborierte, waren die Vichy-Verantwortlichen sehr darauf erpicht, ihre Autonomie zu unterstreichen und die Kollaboration zu zentralisieren. Die Arbeit von Pailloles Dienst diente der Verteidigung dieser „Souveränität“ und sollte die individuelle, nicht autorisierte Kollaboration einfacher französischer Staatsangehöriger verhindern.

Es gibt keinen Zweifel, das Pailloles MA 3, wie die Abteilung intern hieß, ihre Rolle als Spionageabwehr ernst nahm. Kitson schätzt, das ca. 2.000 Personen durch den französischen Kollaborationsstaat festgenommen wurden unter dem Vorwurf, für Vichys diplomatischen Partner, Hitlerdeutschland zu spionieren. Aus Sicht der Alliierten war die Position dieses Nachrichtendienstes zwischen 1940 und 1942 ziemlich doppelbödig. In der Nachkriegszeit präsentierten sich die Veteranen dieses Geheimdienstes als fest an der Seite der Alliierten und seit Anbeginn auf Seiten der Résistance engagiert.[5]

Jüngere Historiker haben ein komplizierteres Bild ausgegraben, bei dem Paillole aktiv an der Verhaftung Résistants und Alliierter Agenten beteiligt war. Er versorgte Vichy mit Informationen über Jean Moulin, den ehemaligen Präfekten des Départements Eure-et-Loir, der nach Installation des Vichy-Regimes im Geheimen die Résistance zu organisieren und zu einen suchte. Pailloles Dokumentation ermöglichte der Vichy-Polizei die Zerstörung des Azur-Résistance-Netzwerks in Marseille im Oktober 1941.[6]

Kitson präsentierte ferner Dokumente, die belegen, dass Paillole seinen Vertrauten 1942 gegenüber die Ansicht vertrat, dass, obwohl Deutschland Feind Nummer eins sei, Großbritannien Feind Nummer zwei bleibe.[7] Als Marschall Henri Philippe Pétain im August 1942 das TR offiziell auflöste, wurden das ausgedehnte Archiv rechtzeitig mit den Funkgeräten und Enigma-Maschinen der Aufklärung nach Algier verlegt, um es dem nach Beginn der Alliierten Landung in Nordafrika einsetzenden Unternehmen Anton, dem Einrücken der Wehrmacht in die französische Südzone, zu entziehen. Nach offizieller Auflösung des TR wurde Paillole an die Spitze einer neuen, geheimen Spionageabwehrinstitution berufen, dem Service de Sécurité Militaire (SSM), die von Ministerpräsident Pierre Laval und Admiral François Darlan im August 1942 gegründet wurde. Während der gleichen zwei Jahre 1940 – 1942 gab Paillole eine begrenzte Zahl von Informationen an die Alliierten weiter und bot ihm persönlich bekannten Résistants, wie Henri Frenay, Hilfe an.

Als die Wehrmacht die zuvor unbesetzte Südzone Frankreichs im November 1942 besetzte (Unternehmen Anton), sah sich Paillole zur Flucht in das von den Alliierten kontrollierten Französisch-Nordafrika gezwungen. Danach nahm er einen weitaus entschiedeneren Standpunkt zugunsten der Alliierten ein, was ihm in der Nachkriegszeit Verdienstmedaillen und Anerkennungen seines Widerstandes durch Briten, US-Amerikaner und Polen einbrachte. Dennoch schnitt er seine vorherigen Verbindungen zum Vichy-Regime nicht völlig ab. Statt sich ab dem November 1942 für General Charles de Gaulle zu entscheiden, optierte er für dessen von den Alliierten anfangs geförderten Rivalen General Henri Giraud. Girauds Haltung zu innenpolitischen Themen war von seiner Bewunderung für den diktatorisch regierenden Pétain bestimmt. Einem Bericht des britischen auswärtigen Dienstes zufolge war Paillole angeblich im November 1943 an einer Intrige beteiligt, die es Marschall Pétain ermöglichen sollte, aus Frankreich zu fliehen und sich an die Spitze der Freien Französischen Streitkräfte im Exil zu stellen. Von de Gaulle wurde gesagt, er sei so erzürnt gewesen, dass er die vorbehaltslose Unterstellung von Pailloles Abwehr unter das Bureau Central de Renseignements et d’Action (BCRA) André Dewavrins verlangt habe.[8]

Nachkriegskarriere[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach dem Krieg verwendete Paillole viel Energie auf die Verteidigung des Rufes seines Geheimdienstes, wobei er zu beweisen versuchte, dass dieser von Beginn an auf Seiten der Alliierte gearbeitet und sich unzweideutig für die Résistance engagiert habe.

1953 gründete er eine Vereinigung von Geheimdienstveteranen, den Amicale des Anciens des Services Spéciaux de la Défense Nationale (dt. Freunde des früheren nationalen Verteidigungsnachrichtendienstes), die ein regelmäßig erscheinendes Mitteilungsblatt publizierten, das sich Heldenakten der Abwehr während der Besatzungszeit widmete. Paillole stiftete dem Service Historique de l’armée de terre (SHAT, dt. Historischer Dienst des Heeres)[9] eine persönliche Sammlung von Archivmaterial, von der Kitson annimmt, das diese Sammlung von allen Hinweisen auf Aktivitäten seines Abwehrdienstes gegen die Alliierte gereinigt wurde.[10]

Aufgrund der Tatsache, dass andere Archivquellen sehr wenig über diese Phase hergeben, wurde Pailloles Präsentation der Ereignisse ungefragt von einigen Historikern übernommen. Der Historiker Philip John Stead, dessen Darstellung der Spionageabwehr während der Besatzungszeit Paillole einiges schuldete, machte aus der Stiftung eines Anteils am Erlös seines Buches an Pailloles Veteranenorganisation eine Tugend.[11] Seit die Archive dieser Epoche zugänglicher wurden, richtete sich ein kritischeres Auge auf Pailloles Version. Die Veröffentlichung von Pailloles Memoiren 1975 erzürnte einige Résistants, wie Toussaint Raffini erheblich, der dank der Informationen des TR-Netzwerks an die Vichy-Polizei Haft erleiden musste.[12]

Paillole zog sich in den Pariser Vorort La Queue-lez-Yvelines zurück, wo er zwischen 1965 und 1983 als Bürgermeister tätig war.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Miller, Robert L., and Paxton, Robert O. A Patriot for Pétain?, The New York Times, v. 55 n. 5 April 3, 2008, example of controversy
  2. Zum Hintergrund von Pailloles Jugend siehe insbesondere: Paul Paillole, L’homme des services secrets : Entretiens avec Alain-Gilles Minella, Paris, Éditions Julliard, 1995
  3. Zum Hintergrund von Pailloles Militärkarriere in der Vorkriegszeit siehe insbesondere: Paul Paillole, Services Spéciaux (1935-1945), Paris, Éditions Robert Laffont, 1975
  4. Quellen:
    • Simon Kitson, Vichy et la chasse aux espions Nazis, Paris, Autrement, 2005
    • Simon Kitson, The Hunt for Nazi Spies, Fighting Espionage in Vichy France, Chicago & London, University of Chicago Press, 2008
  5. Siehe zum Beispiel: *Michel Garder, La Guerre Secrète des Services Spéciaux Français, 1935-1945, Paris, Plon, 1967
    • Pierre Nord, Mes Camarades Sont Morts, Geneva, de Crémille, 3 volumes, 1970
  6. Quellen:
    • Henri Noguères, Histoire de la Résistance en France, tome 2 : juillet 1941-octobre 1942, Robert Laffont, appendix VII (report of commissaire principal Léonard dated 31 October 1941)
    • François Broche, Georges Caïtucoli, Jean-François Muracciole, La France au combat, de l'Appel du 18 juin à la victoire, Paris, éditions Perrin/SCÉRÉN-CNDP, 2007
    • Robert Belot, La Résistance sans de Gaulle, Paris, Fayard, 2006, pp 277-279.
  7. Simon Kitson, The Hunt for Nazi Spies, Fighting Espionage in Vichy France, Chicago & London, University of Chicago Press, 2008, p 69
  8. National Archives [Public Records Office, Londres], Document FO 660 149, Office of the British Representative with French Committee of National Liberation, Alger, 19 janvier 1944
  9. Fonds privé colonel Paillole, Service historique de l'armée de terre, cote 1 K 545
  10. Siehe die Einführung von Simon Kitson's Vichy et la chasse aux espions Nazis, Paris, Autrement, 2005
  11. Philip John Stead, Second Bureau, London, Evans Brothers, 1959
  12. Robert Belot, La Résistance sans de Gaulle, Paris, Fayard, 2006, pp 277-279