Perioperative arterielle Hypotonie

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Von einer perioperativen arteriellen Hypotonie (auch Blutdruckabfall) wird gesprochen, wenn der arterielle Blutdruck im Rahmen eines operativen Eingriffs, also vor (prä-), während (intra-) oder nach (post-) einer Operation abfällt. Das Gegenteil der Hypotonie ist die Hypertonie (auch Bluthochdruck).

Intraoperative Hypotonie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Abb. 1: Risiko für Folgekomplikationen in Abhängigkeit von Dauer und Ausmaß der IOH, basierend auf 42 Studien

Die intraoperative Hypotonie (IOH) ist häufig und outcome-relevant: Je nach Definition erleiden 5 bis 99 % aller operativer Patienten eine IOH[1]. Es besteht eine starke Assoziation zwischen IOH und perioperativen Komplikationen. In Abhängigkeit vom Ausmaß und der Dauer des Blutdruckabfalls steigt das Risiko für Organschäden.[2]

Aktuelle Empfehlungen besagen, dass der mittlere arterielle Druck (MAP) intraoperativ einen unteren Grenzwert von 65 mmHg nicht unterschreiten sollte.[3] So haben Studien gezeigt, dass populationsbasiert ein MAP von ˂65 mmHg bereits nach kurzer Zeitdauer mit einem Anstieg perioperativen Komplikationen einhergeht.[2] Der pragmatische Ansatz diesen Grenzwert als Trigger für Therapiemaßnahmen heranzuziehen ist jedoch nicht unproblematisch, da er zwangsläufig zu einer zeitweisen Unterschreitungen des Grenzwerts führt.[4] Darüber hinaus ist zu beachten, dass sich individuelle Patientinnen und Patienten in Bezug auf den minimal noch akzeptablen Blutdruck von der Gesamtpopulation unterscheiden können.[5][6]

Dass eine an den individuellen Werten des Patienten ausgerichtete Blutdrucktherapie einer Standardtherapie überlegen zu sein scheint, wurde im Rahmen der INPRESS-Studie gezeigt.[7] Diejenigen Patientinnen und Patienten, die ein individualisiertes Blutdruckmanagement erhielten, hatten ein um fast 20 % geringeres Risiko für postoperative Organdysfunktionen im Vergleich zu denen mit Standardtherapie.[7]

Eine IOH kann in verschiedenen Phasen des operativen Eingriffs auftreten.[8] Eine Hypotonie, die im Rahmen der Narkoseeinleitung auftritt, wird anästhesiebedingte Hypotonie genannt. Die Ursache einer anästhesiebedingten Hypotonie sind in der Regel die blutdrucksenkenden Effekte der eingesetzten Anästhetika. Blutdruckabfälle, die nach dem Hautschnitt auftreten, können unterschiedliche Ursachen haben.

Abb. 2: IOH-Endotypen und deren relative Häufigkeiten (prozentualer Anteil Episoden) modifiziert nach Kouz et al. 2023. Bei 82 Patientinnen und Patienten wurden insgesamt 615 IOH-Episoden identifiziert.

In einer in 2023 publizierten Studie wurden 6 therapeutisch relevante IOH-Endotypen beschrieben (Abb. 2): Myokarddepression (41 %), Bradykardie (21 %), Vasodilatation mit Anstieg des Herzindex (10 %), Vasodilatation ohne Anstieg des Herzindex (10 %), Hypovolämie (8 %) und gemischter Typ (10 %).[9]

Zu den Risikofaktoren für eine IOH zählen u. a.:

  • Längere Dauer der Operation[10]
  • Basis-MAP < 70 mmHg[11]

Postoperative Hypotonie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auch nach der Operation, d. h. im Aufwachraum, auf der Normalstation oder auf der Intensivstation können behandlungsbedürftige Hypotonie auftreten. Man spricht von postoperativen Hypotonien.[12][13][14][15]

Physiologische Aspekte der perioperativen Hypotonie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Abb. 3: Determinanten des Sauerstoffangebots

Der arterielle Blutdruck (RR) hängt vom Herzzeitvolumen (HVZ) und vom peripheren Gefäßwiderstand (TPR) ab (RR=HZV*TPR). Bei einer arteriellen Hypotonie ist entweder eine oder die Summe beider Determinanten verändert.[5][6]

Im klinischen Umfeld ist der arterielle Blutdruck ein vergleichsweise einfach zu quantifizierender hämodynamischer Parameter und ist ein seit Jahrzehnten unverzichtbarer Basisparameter in der perioperativen Kreislaufüberwachung. Der arterielle Blutdruck ist jedoch nur ein unvollständiger Indikator eines ausreichenden Sauerstoffangebots (DO2, Delivery O2) und lässt, als sogenannter Surrogatmarker, nur bedingt Rückschlüsse auf die Durchblutung der Endorgane zu.[5][6]

Die Determinanten des Sauerstoffangebots sind der Sauerstoffgehalt des Bluts (CaO2 =Hb*SaO2*1,34) und die Menge an Blut, die pro Zeitspanne vom Herz in die Gewebe gepumpt wird (HZV).[5][6]

Perioperative Herz-Kreislaufüberwachung: S1-Leitlinie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das übergeordnete Ziel der perioperativen Überwachung und Therapie der Herz-Kreislauffunktion ist die Aufrechterhaltung der Organfunktionen durch die Sicherstellung von adäquatem Perfusionsdruck, Blutfluss und Sauerstoffangebot und die Vermeidung von Komplikationen. Im September 2023 wurde in Deutschland erstmals eine S1-Leitlinie zur „Intraoperativen klinischen Anwendung von hämodynamischem Monitoring bei nicht-kardiochirurgischen Patient:innen“ veröffentlicht.[4][16]

Therapie der perioperativen Hypotonie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Abb. 4: Hämodynamische Effekte der in Deutschland gebräuchlichen Antihypotonika, mod. nach 16

Ein großer Anteil der perioperativen arteriellen Hypotonien wird medikamentös behandelt.[17] In Deutschland gebräuchliche Medikamente sind Cafedrin/Theodrenalin (Akrinor®), sowie Ephedrin, Noradrenalin und Phenylephrin. Die dem Blutdruckanstieg zugrundeliegenden hämodynamischen Effekte der Medikamente sind verschieden.[17]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Bijker Jilles B., Wilton A. van Klei, Teus H. Kappen, Leo van Wolfswinkel, Karel G. M. Moons, Cor J. Kalkman: Incidence of Intraoperative Hypotension as a Function of the Chosen Definition: Literature Definitions Applied to a Retrospective Cohort Using Automated Data Collection. In: Anesthesiology. Anesthesiology, August 2007, abgerufen am 8. April 2024 (englisch).
  2. a b E.M. Wesselink, T.H. Kappen, H.M. Torn, A.J.C. Slooter, W.A. van Klei: Intraoperative hypotension and the risk of postoperative adverse outcomes: a systematic review. In: British Journal of Anaesthesia. Band 121, Nr. 4, Oktober 2018, S. 706–721, doi:10.1016/j.bja.2018.04.036 (elsevier.com [abgerufen am 8. April 2024]).
  3. Bernd Saugel, Thorsten Annecke, Berthold Bein, Moritz Flick, Matthias Goepfert, Matthias Gruenewald, Marit Habicher, Bettina Jungwirth, Tilo Koch, Karim Kouz, Agnes S Meidert, Gunther Pestel, Jochen Renner, Samir G Sakka, Michael Sander, Sascha Treskatsch, Amelie Zitzmann, Daniel A Reuter: Intraoperative haemodynamic monitoring and management of adults having non-cardiac surgery: Guidelines of the German Society of Anaesthesiology and Intensive Care Medicine in collaboration with the German Association of the Scientific Medical Societies. In: Journal of Clinical Monitoring and Computing. 21. Februar 2024, ISSN 1387-1307, doi:10.1007/s10877-024-01132-7 (springer.com [abgerufen am 8. April 2024]).
  4. a b A. Meidert: „Under pressure“ – Hypotonie vermeiden. In: Der Anaesthesist. Band 69, Nr. 9, 1. September 2020, ISSN 1432-055X, S. 609–610, doi:10.1007/s00101-020-00838-y (doi.org [abgerufen am 8. April 2024]).
  5. a b c d Malte Book, Florian Jelschen, Andreas Weyland: Intraoperative Hypotonie: Pathophysiologie und klinische Relevanz. In: AINS - Anästhesiologie · Intensivmedizin · Notfallmedizin · Schmerztherapie. Band 52, Nr. 01, 11. Januar 2017, ISSN 0939-2661, S. 16–27, doi:10.1055/s-0042-106052 (thieme-connect.de [abgerufen am 8. April 2024]).
  6. a b c d M. Welte, B. Saugel, D. A. Reuter: Perioperatives Blutdruckmanagement: Was ist der optimale Druck? In: Der Anaesthesist. Band 69, Nr. 9, September 2020, ISSN 0003-2417, S. 611–622, doi:10.1007/s00101-020-00767-w (springer.com [abgerufen am 8. April 2024]).
  7. a b Emmanuel Futier, Jean-Yves Lefrant, Pierre-Gregoire Guinot, Thomas Godet, Emmanuel Lorne, Philippe Cuvillon, Sebastien Bertran, Marc Leone, Bruno Pastene, Vincent Piriou, Serge Molliex, Jacques Albanese, Jean-Michel Julia, Benoit Tavernier, Etienne Imhoff, Jean-Etienne Bazin, Jean-Michel Constantin, Bruno Pereira, Samir Jaber, for the INPRESS Study Group: Effect of Individualized vs Standard Blood Pressure Management Strategies on Postoperative Organ Dysfunction Among High-Risk Patients Undergoing Major Surgery: A Randomized Clinical Trial. In: JAMA. Band 318, Nr. 14, 10. Oktober 2017, ISSN 0098-7484, S. 1346, doi:10.1001/jama.2017.14172 (jamanetwork.com [abgerufen am 8. April 2024]).
  8. K. Maheshwari, A. Turan, G. Mao, D. Yang, A. K. Niazi, D. Agarwal, D. I. Sessler, A. Kurz: The association of hypotension during non‐cardiac surgery, before and after skin incision, with postoperative acute kidney injury: a retrospective cohort analysis. In: Anaesthesia. Band 73, Nr. 10, Oktober 2018, ISSN 0003-2409, S. 1223–1228, doi:10.1111/anae.14416 (wiley.com [abgerufen am 8. April 2024]).
  9. Karim Kouz, Lennart Brockmann, Lea Malin Timmermann, Alina Bergholz, Moritz Flick, Kamal Maheshwari, Daniel I. Sessler, Linda Krause, Bernd Saugel: Endotypes of intraoperative hypotension during major abdominal surgery: a retrospective machine learning analysis of an observational cohort study. In: British Journal of Anaesthesia. Band 130, Nr. 3, März 2023, S. 253–261, doi:10.1016/j.bja.2022.07.056 (elsevier.com [abgerufen am 8. April 2024]).
  10. a b c d P. Taffé, N. Sicard, V. Pittet, S. Pichard, B. Burnand, for the ADS study group: The occurrence of intra‐operative hypotension varies between hospitals: observational analysis of more than 147,000 anaesthesia. In: Acta Anaesthesiologica Scandinavica. Band 53, Nr. 8, September 2009, ISSN 0001-5172, S. 995–1005, doi:10.1111/j.1399-6576.2009.02032.x (wiley.com [abgerufen am 8. April 2024]).
  11. a b c d e David L. Reich, Sabera Hossain, Marina Krol, Bernard Baez, Puja Patel, Ariel Bernstein, Carol A. Bodian: Predictors of Hypotension After Induction of General Anesthesia:. In: Anesthesia & Analgesia. Band 101, Nr. 3, September 2005, ISSN 0003-2999, S. 622–628, doi:10.1213/01.ANE.0000175214.38450.91 (lww.com [abgerufen am 8. April 2024]).
  12. Ashish K. Khanna, Nathaniel S. O’Connell, Sanchit Ahuja, Amit K. Saha, Lynnette Harris, Bruce D. Cusson, Ann Faris, Carolyn S. Huffman, Saraschandra Vallabhajosyula, Clancy J. Clark, Scott Segal, Brian J. Wells, Eric S. Kirkendall, Daniel I. Sessler: Incidence, severity and detection of blood pressure and heart rate perturbations in postoperative ward patients after noncardiac surgery. In: Journal of Clinical Anesthesia. Band 89, Oktober 2023, S. 111159, doi:10.1016/j.jclinane.2023.111159 (elsevier.com [abgerufen am 8. April 2024]).
  13. F. van Lier, F.H.I.M. Wesdorp, V.G.B. Liem, J.W. Potters, F. Grüne, H. Boersma, R.J. Stolker, S.E. Hoeks: Association between postoperative mean arterial blood pressure and myocardial injury after noncardiac surgery. In: British Journal of Anaesthesia. Band 120, Nr. 1, Januar 2018, S. 77–83, doi:10.1016/j.bja.2017.11.002 (elsevier.com [abgerufen am 8. April 2024]).
  14. Alparslan Turan, Christine Chang, Barak Cohen, Wael Saasouh, Hani Essber, Dongsheng Yang, Chao Ma, Karen Hovsepyan, Ashish K. Khanna, Joseph Vitale, Ami Shah, Kurt Ruetzler, Kamal Maheshwari, Daniel I. Sessler: Incidence, Severity, and Detection of Blood Pressure Perturbations after Abdominal Surgery. In: Anesthesiology. Band 130, Nr. 4, 1. April 2019, ISSN 0003-3022, S. 550–559, doi:10.1097/ALN.0000000000002626 (asahq.org [abgerufen am 8. April 2024]).
  15. Daniel I. Sessler, Ashish K. Khanna: Perioperative myocardial injury and the contribution of hypotension. In: Intensive Care Medicine. Band 44, Nr. 6, Juni 2018, ISSN 0342-4642, S. 811–822, doi:10.1007/s00134-018-5224-7 (springer.com [abgerufen am 8. April 2024]).
  16. S1-Leitlinie Intraoperative klinische Anwendung von hämodynamischem Monitoring bei nicht-kardiochirurgischen Patient:innen der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. In: AWMF online (Stand September 2023)
  17. a b Leopold Eberhart, Berthold Bein: Intraoperative Hypotonie: Therapie. In: AINS - Anästhesiologie · Intensivmedizin · Notfallmedizin · Schmerztherapie. Band 52, Nr. 01, 11. Januar 2017, ISSN 0939-2661, S. 45–54, doi:10.1055/s-0042-106074 (thieme-connect.de [abgerufen am 8. April 2024]).