Prisonisierung

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Prisonisierung bezeichnet den Prozess einer allmählichen Anpassung von Gefangenen an die Gefängniskultur, also an die im Gefängnis geltenden Normen und Wertvorstellungen. Der Begriff stammt aus der amerikanischen kriminologischen Gefängnisforschung und steht im Zusammenhang mit Theorien der Subkultur. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Prisonisierung begann 1937 mit einer Arbeit von Hans Reimer über Socialition in Prison. Sie wurde einflussreich 1940 von Donald Clemmer mit The Prison Community[1] und 1958 von Gresham M. Sykes mit The Society of Captives fortgesetzt.

Zwei Erklärungsansätze[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der Prisonisierungstheorie gibt es zwei Erklärungsrichtungen. Das sogenannte Deprivationsmodell bezieht sich auf die klassische Gefängnisforschung (insbesondere die von Donald Clemmer und Stanton Wheeler), die den Prozess der Anpassung von Inhaftierten an eine resozialisierungsfeindliche Subkultur in amerikanischen Gefängnissen der 1930er und 1950er Jahren beschrieben hatte. Laut dem Deprivationsmodell bilden sich Insassenkultur und die Anpassung an sie als Reaktion auf die Entbehrungen der Inhaftierung.

Das Importmodell erklärt dagegen die Einstellungen und Werthaltungen der Inhaftierten mit ihrer vorinstitutionellen Biografie (Sozialisation). Nach diesem Erklärungsmodell werden bereits bestehende Verhaltensweisen und Strukturen mit den Straftätern ins Gefängnis geholt, wo sie sich dann weiter ausbilden.

Ergebnisse internationaler empirischer Untersuchungen belegen, dass die Ursachen von Prisonisierung aus einer Kombination beider Erklärungsansätze bestehen, wobei amerikanische Haftbedingungen stärker als europäische zur Ausbildung von Gefangenensubkulturen beitragen.[2]

Ausdruck und Verlauf von Prisonisierung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Mit Beginn der Haftzeit passt sich der Gefangene den offiziellen Regeln der Anstalt an, um nicht aufzufallen und um Sanktionen zu verhindern.[3] Noch wichtiger ist die Anpassung an die Regeln und Umgangsformen der Mitgefangenen, mit denen er die überwiegende Zeit seiner Haftzeit verbringt und auf deren Akzeptanz er dringend angewiesen ist, selbst wenn deren Einstellungen und Verhaltensweisen den eigenen und denen der Gesellschaft widersprechen. Die Prisonisierung umfasst zudem eine passive Lebenshaltung und eine Versorgungserwartung.

Zum Verlauf des Prisonisierungsprozesses gibt es unterschiedliche Einschätzung. Teilweise wird eine lineare Entwicklung und stetige Verstärkung des Prisonisierungsgrades im Verlauf der Haftzeit angenommen. Andererseits wird davon ausgegangen, dass der Verlauf eher einer U-Kurve entspricht: Bei Haftantritt besteht eine weitgehende Übereinstimmung mit den Normen der Außenwelt, die im Laufe der Haftzeit kontinuierlich abnimmt bei gleichzeitiger Übernahme subkultureller Normen. Gegen Ende der Haftzeit verstärkt sich dann wieder die Konformität mit den Normen der Gesellschaft, in die sich der Gefangene nach Entlassung wieder eingliedern muss.

Teilweise wird der Prozess der Prisonisierung auch als nützliche Strategie zur Vermeidung von Schäden durch die Institutionalisierung beschrieben. Überwiegend wird jedoch die negative Auswirkung auf die Persönlichkeit des Gefangenen betont.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Donald Clemmer: The Prison Community. 2. Aufl., Rinehart, New York 1958 (Erstauflage 1940).
  • Steffen Harbordt: Die Subkultur des Gefängnisses. Eine soziologische Studie zur Resozialisierung. Ferdinand Enke Verlag, 2. Auflage, Stuttgart 1972.
  • Rüdiger Ortmann: Prisonisierung. In: Günther Kaiser, Hans-Jürgen Kerner, Fritz Sack, Hartmut Schellhoss (Hrsg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch. C. F. Müller, 3. Auflage, Heidelberg 1993, S. 402–409.
  • Hans Reimer: Socialition in Prison. Proceedings of the Sixty-Seventh Congress of American Prison Association 1937.
  • Gresham M. Sykes: The Society of Captives: A Study of a Maximum Security: A Study of a Maximum Security Prison. (1958).
  • Hans Toch: Linving in Prison. Chicago 1977 (2. Aufl. 1992)
  • Stanton Wheeler: Socialization in correctional communities. American Sociological Review, Vol 26, 1961, 697–712.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. In dieser Arbeit wurde der Begriff Prisonisierung erstmals verwendet. Vgl. Anna-Sophie Noack: Knast - Macht - Widerstand. Eine machtanalytische Annäherung an die Geschehnisse vom 28. Mai bis 01. Juni 1990 in der JVA Fuhlsbüttel. Lit Verlag, Münster 2016, ISBN 978-3-643-13506-3, S. 7.
  2. Frieder Dünkel, International vergleichende Strafvollzugsforschung. In: Hans Joachim Schneider (Hrsg.), Internationales Handbuch der Kriminologie. Band 2, de Gruyter, Berlin 2009, ISBN 978-3-89949-131-9, S. 145–226, hier S. 163.
  3. Die folgende Darstellung beruht auf: Günther Kaiser, Heinz Schöch, Strafvollzug. Eine Einführung in die Grundlagen. 5., neu bearbeitete Auflage, Müller, Heidelberg 2003, ISBN 3-8252-0706-4, S. 473 f.