Ursprünge der Viren

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Im Gegensatz zu den drei Domänen der zellulären OrganismenArchaea, Bacteria und Eukarya (Archaeen, Bakterien und Eukaryoten – komplex-zellulären Organismen), die einen gemeinsamen Vorfahren (Urvorfahren) haben, besteht zwischen den Virus-Realms im Allgemeinen keine genetische Beziehung, die auf gemeinsamer Abstammung beruht. Selbst innerhalb der einzelnen Realms stammen die Mitglieder nicht unbedingt von einem gemeinsamen Vorfahren ab. Die Realms sind so definiert (charakterisiert), dass sie Gruppen von Viren auf der Grundlage hochkonservierter Merkmale zusammenfassen, d. h. nicht auf der Grundlage einer gemeinsamen Abstammung, wie sie als Grundlage für die Taxonomie des zellulären Lebens dient. Jeder Realm der Viren stellt daher mindestens eine Instanz der Entstehung von Viren dar.[1] Im einzelnen:

Adnaviria[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Ursprung der Archaeen parasitierenden Adnaviria ist unbekannt (Stand 2020). Es wird aber vermutet, dass Vertreter der Adnaviria schon seit langer Zeit existieren, und dass sie bereits den letzten gemeinsamen Vorfahren der (heutigen) Archaeen (englisch last archaeal common ancestor, LACA) infiziert haben könnten.[2]

Duplodnaviria[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Realm Duplodnaviria ist entweder monophyletisch oder polyphyletisch. Er geht möglicherweise sogar dem letzten „universellen“ gemeinsamen Ahn der heutigen zellulären Organismen (englisch last universal common ancestor, LUCA, auch most recent common ancestor, MRCA) voraus. Der genaue Ursprung des Realms ist nicht bekannt. Von allen Mitgliedern wird ein Hauptkapsidprotein (MCP) mit einer Faltung wie bei Escherichia-Virus HK97 (wissenschaftlich Byrnievirus HK97) kodiert und daher als HK97-MCP bezeichnet. Diese Proteinfaltung kommt außerhalb des Realms nur bei der Proteinfamilie der Encapsuline bei Bakterien und Archaeen vor, wie es Nanokompartimente ausbildet, die Ferritin-artige Proteine und Peroxidasen einkapseln, die vor oxidativem Stress schützen.[3][4] Die Beziehung zwischen den Duplodnaviria und diesen Nanokompartimenten ist noch nicht vollständig verstanden (Stand 2020).[5][6][2]

Monodnaviria[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Realm Monodnaviria ist polyphyletisch, er scheint sich mehrfach aus zirkulären Plasmiden von Bakterien und Archaeen entwickelt zu haben. Das sind DNA-Moleküle außerhalb des Archaeen- bzw. Bakterienchromosoms, die sich im Innern dieser Archaeen bzw. Bakterien selbst replizieren.[7][8]

Riboviria[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Realm Riboviria ist entweder monophyletisch oder polyphyletisch.

Die Reverse Transkriptase (RT) im Virusreich Pararnavirae hat sich wahrscheinlich bei einer einzigen Gelegenheit aus einem Retrotransposon entwickelt (einer Art von selbstreplizierendem DNA-Molekül, das sich durch reverse Transkription repliziert).

Der Ursprung der RNA-abhängigen RNA-Polymerase (RdRp) im Virusreich Orthornavirae ist weniger sicher. Es wurde einerseits vermutet, dass die RdRP entweder von einem bakteriellen Intron der Gruppe II abstammen, das für Reverse Transkriptase (RT) kodiert. Sie könnte aber auch bereits vor dem letzten „universellen“ gemeinsamen Ahn der heutigen zellulären Organismen (LUCA) entstanden sein, wenn dieser Nachkomme von Ribozyten einer urzeitlichen RNA-Welt war. Die Orthornavirae könnten dann den RT des heutigen zellulären Lebens mit DNA-Genom vorausgehen.[9][10][2] Eine größere Studie aus dem Jahr 2022, in der neue Viren-Phyla beschrieben wurden, legt die Annahme nahe, dass RNA-Viren von der RNA-Welt abstammen. Die Retroelemente der heutigen zellulären Organismen könnten dann von einem Vorfahren abstammen, der mit dem Phylum Lenarviricota verwandt ist; Mitglieder eines neu entdeckten Orthornavirae-Phylums (vorgeschlagene Bezeichnung „Taraviricota“) sollten danach die Vorfahren aller RNA-Viren sein.[11]

Ribozyviria[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Ursprung des realms Ribozyviria ist unbekannt. Es wurde vorgeschlagen, dass sie sich von Retrozymen (einer Familie von Retrotransposons[12]) oder einem viroidähnlichen Element (d. h. einem Viroid oder Satellit) durch Einfang eines Kapsidprotein ableiten könnten.[13]

Varidnaviria[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Realm Varidnaviria ist entweder monophyletisch oder polyphyletisch und geht möglicherweise (ebenfalls) dem letzten universellen gemeinsamen Ahn (LUCA) der heutigen zellulären Organismen voraus. Das Virenreich Bamfordvirae ist wahrscheinlich aus dem anderen Reich Helvetiavirae durch Verschmelzung zweier Hauptkapsidproteine (MCPs) entstanden, so dass es als Ergebnis nun ein einziges MCP mit zwei Jelly-Roll-Faltungen (double jelly-roll, DJR[14]) anstelle von einer gibt. Die (vermutlich ursprünglichen) MCPs der Helvetiavirae mit einer einzigen Jelly-Roll-Faltung (single jelly-roll, SJR) stehen in Beziehung zu einer Gruppe von Proteinen, die die ebenfalls SJR-Faltungen enthalten, darunter die Cupin-Superfamilie[15] und die Nukleoplasmine.[16]

Die Archaeen parasitierenden dsDNA-Viren der Familie Portogloboviridae (bisher keinem Realm sicher zugeordnet) enthalten nur ein vertikales SJR-MCP, das bei den Halopanivirales (Helvetiavirae) anscheinend verdoppelt wurde, so dass das MCP der Portogloboviridae wahrscheinlich eine frühere Stufe in der Evolutionsgeschichte der Varidnaviria-MCPs darstellt.[17][6][2]

Später (2021/2022) wurde jedoch ein anderes Szenario vorgeschlagen, bei dem die beiden Reiche Bamfordvirae und Helvetiavirae unabhängig voneinander entstanden sind. Dies wird unterstützt durch die Beobachtung, dass das DJR-MCP-Protein der Bamfordvirae mit dem bakteriellen Protein DUF 2961.[18][19] verwandt ist, was zu einer Reorganisation des Reiches Varidnaviria führen könnte. Eine molekularphylogenetische Analyse legt nahe, dass die Helvetiavirae nicht an der Entstehung des DJR-MCP der Bamfordvirae beteiligt waren und dass sie wahrscheinlich aus der Klasse Tectiliviricetes (Phylum Preplasmiviricota der Bamfordvirae) stammen.[20]

Es ist also möglich, dass sich das DJR-MCP der Bamfordvirae unabhängig von diesem Protein entwickelt hat, aber die Entstehung des DJR-MCP durch Duplikation des SJR-MCP der Helvetiavirae kann derzeit (2022) noch nicht ausgeschlossen werden.[14]

Genetische Beziehungen zwischen den Virus-Realms[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Obwohl die Realms im Allgemeinen keine genetische Beziehung zueinander haben, gibt es einige Ausnahmen:

Es kam also immer wieder in der Virus-Evolution zu Horizontalem Gentransfer zwischen den verschiedenen Realms (ebenso wie zwischen den Viren und ihren zellulären Wirten).

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. International Committee on Taxonomy of Viruses Executive Committee: The New Scope of Virus Taxonomy: Partitioning the Virosphere Into 15 Hierarchical Ranks. In: Nat Microbiol. 5. Jahrgang, Nr. 5, 27. April 2020, S. 668–674, doi:10.1038/s41564-020-0709-x, PMID 32341570, PMC 7186216 (freier Volltext) – (englisch).
  2. a b c d Mart Krupovic, Valerian V. Dolja, Eugene V. Koonin: The LUCA and its complex virome. In: Nature Reviews Microbiology. 18. Jahrgang, Nr. 11, 4. Juli 2020, ResearchGate:342933582, S. 661–670, doi:10.1038/s41579-020-0408-x, PMID 32665595 (englisch).
  3. Colleen A. McHugh, Juan Fontana, Daniel Nemecek, Naiqian Cheng, Anastasia A. Aksyuk, J. Bernard Heymann, Dennis C. Winkler, Alan S. Lam, Joseph S. Wall, Alasdair C. Steven, Egbert Hoiczyk: A virus capsid-like nanocompartment that stores iron and protects bacteria from oxidative stress. In: The EMBO Journal. 33. Jahrgang, Nr. 17, 14. Juli 2014, S. 1896–911, doi:10.15252/embj.201488566, PMID 25024436, PMC 4195785 (freier Volltext) – (englisch).
  4. Pfam PF04454 Encapsulating protein for peroxidase: Linocin_M18.
  5. Eugene V. Koonin, Valerian V. Dolja, Mart Krupovic, Arvind Varsani, Yuri I. Wolf, M. Zerbini, Jens H. Kuhn: Create a megataxonomic framework, filling all principal/primary taxonomic ranks, for dsDNA viruses encoding HK97-type major capsid proteins. (zip:docx) In: International Committee on Taxonomy of Viruses (ICTV). 18. Oktober 2019, abgerufen am 13. August 2020 (englisch).
  6. a b c Mart Krupovic, Eugene V. Koonin: Multiple origins of viral capsid proteins from cellular ancestors. In: PNAS. 114. Jahrgang, Nr. 12, 21. März 2017, S. E2401–E2410, doi:10.1073/pnas.1621061114, PMID 28265094, PMC 5373398 (freier Volltext) – (englisch).
  7. a b Eugene V. Koonin, Valerian V. Dolja, Mart Krupovic, Arvind Varsani, Yuri I. Wolf, M. Zerbini, Jens H. Kuhn H: Create a megataxonomic framework, filling all principal taxonomic ranks, for ssDNA viruses. (zip:docx) In: International Committee on Taxonomy of Viruses (ICTV). 18. Oktober 2019, abgerufen am 13. August 2020 (englisch).
  8. Darius Kazlauskas, Arvind Varsani, Eugene V. Koonin, Mart Krupovic: Multiple Origins of Prokaryotic and Eukaryotic Single-Stranded DNA Viruses From Bacterial and Archaeal Plasmids. In: Nature Communications. 10. Jahrgang, Nr. 1, 31. Juli 2019, S. 3425, doi:10.1038/s41467-019-11433-0, PMID 31366885, PMC 6668415 (freier Volltext), bibcode:2019NatCo..10.3425K (englisch).
  9. Eugene V. Koonin, Valerian V. Dolja, Mart Krupovic, Arvind Varsani, Yuri I. Wolf, M. Zerbini, Jens H. Kuhn: Create a megataxonomic framework, filling all principal taxonomic ranks, for realm Riboviria. (zip:docx) In: International Committee on Taxonomy of Viruses (ICTV). 18. Oktober 2019, abgerufen am 13. August 2020 (englisch).
  10. Yuri I. Wolf, Darius Kazlauskas, Jaime Iranzo, Adriana Lucía-Sanz, Jens H. Kuhn, Mart Krupovic, Valerian V. Dolja, Eugene V. Koonin: Origins and Evolution of the Global RNA Virome. In: mBio. 9. Jahrgang, Nr. 6, 27. November 2018, S. e02329–18, doi:10.1128/mBio.02329-18, PMID 30482837, PMC 6282212 (freier Volltext) – (englisch).
  11. Ahmed A. Zayed, James M. Wainaina, Guillermo Dominguez-Huerta, Eric Pelletier, Jiarong Guo, Mohamed Mohssen, Funing Tian, Akbar Adjie Pratama, Benjamin Bolduc, Olivier Zablocki, Dylan Cronin, Lindsey Solden, Erwan Delage, Adriana Alberti, Jean-Marc Aury, Quentin Carradec, Corinne Da Silva, Karine Labadie, Julie Poulain, Hans-Joachim Ruscheweyh, Guillem Salazar, Elan Shatoff, Ralf Bundschuh, Kurt Fredrick, Laura S. Kubatko, Samuel Chaffron, Alexander I. Culley, Shinichi Sunagawa, Jens H. Kuhn, Patrick Wincker: Cryptic and abundant marine viruses at the evolutionary origins of Earth's RNA virome. In: Science. 376. Jahrgang, Nr. 6589, 8. April 2022, ResearchGate:359802266, S. 156–162, doi:10.1126/science.abm5847, PMID 35389782, bibcode:2022Sci...376..156Z (englisch). Siehe insbes. Fig. 3. Dazu:
  12. Amelia Cervera, Denisse Urbina, Marcos de la Peña: Retrozymes are a unique family of non-autonomous retrotransposons with hammerhead ribozymes that propagate in plants through circular RNAs. In: Genome Biology. 17. Jahrgang, Nr. 1, 23. Juni 2016, ISSN 1474-760X, S. 135, doi:10.1186/s13059-016-1002-4, PMID 27339130, PMC 4918200 (freier Volltext) – (englisch).
  13. Benjamin D. Lee, Eugene V. Koonin: Viroids and Viroid-like Circular RNAs: Do They Descend from Primordial Replicators? In: MDPI: Life. 12. Jahrgang, Nr. 1, 12. Januar 2022, ISSN 2075-1729, S. 103, doi:10.3390/life12010103, PMID 35054497, PMC 8781251 (freier Volltext) – (englisch).
  14. a b Mart Krupovic, Kira S. Makarova, Eugene V. Koonin: Cellular homologs of the double jelly-roll major capsid proteins clarify the origins of an ancient virus kingdom. In: PNAS. 119. Jahrgang, Nr. 5, 1. Februar 2022, ResearchGate:358114247, doi:10.1073/pnas.2120620119, PMID 35078938, PMC 8812541 (freier Volltext) – (englisch).
  15. Pfam PF00190 Cupin.
  16. InterPro: F IPR004301 Nucleoplasmin family.
  17. Eugene V. Koonin, Valerian V. Dolja, Mart Krupovic, Arvind Varsani, Yuri I. Wolf, M. Zerbini, Jens H. Kuhn: Create a megataxonomic framework, filling all principal taxonomic ranks, for realm Riboviria. (zip:docx) In: International Committee on Taxonomy of Viruses (ICTV). 18. Oktober 2019, abgerufen am 13. August 2020 (englisch).
  18. DUF2961 domain-containing protein. Auf: PropLec.
  19. NCBI Protein: DUF2961 domain-containing protein [Catellatospora sichuanensis] NCBI Reference Sequence: WP_144127294.1.
  20. Anthony C. Woo, Morgan Gaia, Julien Guglielmini, Violette Da Cunha, Patrick Forterre: Phylogeny of the Varidnaviria Morphogenesis Module: Congruence and Incongruence with the Tree of Life and Viral Taxonomy. In: Frontiers in Microbiology, Band 12, 16. Juli 2021, S. 704052, doi:10.3389/fmicb.2021.704052, PMID 34349745, PMC 8328091 (freier Volltext), ResearchGate:353314165 (englisch).
  21. Mart Krupovic, Eugene V. Koonin: Polintons: a hotbed of eukaryotic virus, transposon and plasmid evolution. In: Nature Reviews Microbiology. 13. Jahrgang, Nr. 2, Februar 2015, S. 105–115, doi:10.1038/nrmicro3389, PMID 25534808, PMC 5898198 (freier Volltext) – (englisch).
  22. Mart Krupovic, Eugene V. Koonin: Evolution of eukaryotic single-stranded DNA viruses of the Bidnaviridae family from genes of four other groups of widely different viruses. In: Scientific Reports. 4. Jahrgang, 18. Juni 2014, S. 5347, doi:10.1038/srep05347, PMID 24939392, PMC 4061559 (freier Volltext), bibcode:2014NatSR...4E5347K (englisch).