Vaterjude

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Vaterjude (auch Vater-Jude) ist der Terminus für eine Person, die einen jüdischen Vater und eine nichtjüdische Mutter hat. Den Begriff prägte 1995 die niederländische Schriftstellerin Catharina Irma Dessaur (Andreas Burnier).[1] Nach den Vorgaben der Halacha, des jüdischen Religionsgesetzes, wird die Zugehörigkeit zum Judentum durch die Mutter weitergegeben. „Vaterjuden“ gelten in dieser Sichtweise nicht als jüdisch. Dieser Regel folgt auch der Zentralrat der Juden in Deutschland. Einer der Unterschiede zwischen orthodoxen und nicht-orthodoxen Gemeinden besteht in der Anerkennung von Vaterjuden als „Samen Israels“.

Die Soziologin Ruth Zeifert ermittelte aus den Daten des statistischen Bundesamts bis 2010, dass etwa ein Drittel der in Deutschland von einem Juden gezeugten Kinder nicht von einer jüdischen Mutter geboren wurde.[2] Die meisten von ihnen sind laut Meron Mendel Nachkommen von Kontingentflüchtlingen.[3]

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In biblischer Zeit bis in das 2. Jahrhundert wurde die Zugehörigkeit zum Volk Israel noch durch den Vater vermittelt. In rabbinischer Zeit rückte aber die mütterliche Abstammung in den Fokus, da die Mutter immer fest steht: Mater semper certa est.[1][4][5] Seit der Rückkehr aus dem persischen Exil um 445 v. Chr. waren Priester, Leviten und Männer aus dem gewöhnlichen Volk Ehen mit Frauen aus heidnischen Völkern eingegangen. Deshalb forderte Esra nach dem Gesetz Dtn 7,1–5 EU die Auflösung dieser Ehen. Forscher der Reformbewegung führen diese Festlegung auf die Matrilinearität zur Zeit Esras und Nehemjas zurück.[6]

Die Familienabstammung setzt sich über die männliche Linie fort. Die männliche Linie war bei der Thronfolge und der Nachfolge der Priester und Leviten ausschlaggebend. Laut Halacha, dem jüdischen Gesetz, ist Jude, wer Kind einer jüdischen Mutter oder vor einem Rabbinatsgericht zum Judentum konvertiert ist.[7] Im Tanach ist die Abstammung patrilinear, die Rabbinen haben jedoch eine matrilineare Abstammung in der Mischna eingeführt, die seither als halachisch gilt.

Offizielle Positionen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vor allem das Konservative Judentum betrachtet Vaterjuden als Nichtjuden, jedoch wurde und wird weltweit bis heute das Levitentum und die Zugehörigkeit zu den Kohanim über den Vater weitergegeben. Die meisten orthodoxen Rabbiner sind der Ansicht, dass nur Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat.

„Für die Allgemeine Rabbinerkonferenz Deutschlands (ARK) ist klar, dass auch die Kinder jüdischer Väter sera jisrael (Same Israels) sind und in das Judentum eingebunden werden müssen. Anders als die jüdische Reformbewegung in Nordamerika, die seit 1983 die väterliche Herkunft als gleichberechtigtes Merkmal jüdischer Identität anerkennt, können jedoch auch in den nicht-orthodoxen Gemeinden in Deutschland nur Personen Mitglied werden, die Juden gemäß der Halacha sind. Das Rabbinergericht der ARK ist aber darauf bedacht, Kindern jüdischer Väter den jüdischen Status und damit den Eintritt in die jüdische Gemeinschaft zu ermöglichen.“

Andreas Nachama, Walter Homolka, Hartmut Bomhoff (2015)[8]

Seit 1983 erkennt das Reformjudentum in den USA Kinder jüdischer Väter als jüdisch an, wenn sie sich mit dem Judentum identifizieren.[9]

In orthodoxen Gemeinden findet nur Aufnahme, wer die jüdische Mutter vorweisen kann oder orthodox konvertiert ist. Die Allgemeine Rabbinerkonferenz Deutschland erlaubt für Vaterjuden eine vereinfachte Konversion, da sie bereits mehr oder weniger im jüdischen Leben verwurzelt sind. Es ist aber jeweils ein individuelles Verfahren notwendig. Die Orthodoxe Rabbinerkonferenz besteht hingegen auf einer vollumfängliche Konversion, ähnlich wie sie, was das Verfahren, die Auflagen und die dadurch bedingte Dauer betrifft, von den Rabbinen für andersgläubige Konvertiten vorgeschrieben ist. Einige Gemeinden des liberalen Judentums bieten Vaterjuden eine Fördermitgliedschaft an.[10] Dies wird von einigen Vaterjuden als Diskriminierung empfunden. Laut dem israelischen Rückkehrgesetz genügt zur „Rückkehr“ nach Israel und dem Erwerb der israelischen Staatsbürgerschaft jedoch ein jüdischer Großelternteil oder der Übertritt zum Judentum.

Identitätsfragen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Unter Vaterjuden, die sich als jüdisch begreifen, sind:

Jüdische Realität ist nach Ansicht vieler Betroffener keine Frage orthodoxer Religiosität, sondern verbindet sich mit jüdischer Familie, jüdischen Ahnen, Ermordeten der Schoah oder traumatisierten Überlebenden, mit stalinistischen Säuberungen, familiären Traditionen, Sprache, Literatur, Musik, Kultur und transgenerationalen Vermächtnissen. Der religiöse Zugang zu orthodox geführten Kultusgemeinden wird von vielen Juden nicht mit jüdischem Leben und Überleben gleichgesetzt. Der Zentralrat der Juden in Deutschland jedoch folgt der Ansicht der orthodoxen Rabbiner.[11]

Öffentliche Kontroversen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der im englischen Sprachraum anzutreffende Ausdruck part-Jewish traf im deutschen Sprachraum aufgrund der NS-Rassengesetzgebung auf Ablehnung:

„Ich stelle dann die bescheidene Frage, welcher Teil von ihnen Jude sei, die untere oder die obere Hälfte oder ob es bei ihnen senkrecht gehe. Keiner kommt auf die Idee, von sich zu behaupten, er sei halbkatholisch, wenn er aus einer katholisch-protestantischen Familie stammt.“

Ignatz Bubis (1999)[12]

Der Schriftsteller Maxim Biller bezeichnete Max Czollek, dessen Großvater Walter Czollek während der Zeit des Nationalsozialismus als Jude verfolgt wurde, in seiner Zeit-Kolumne im August 2021 als „Faschings- und Meinungsjuden“ und löste damit eine Debatte um die Frage aus, wer im öffentlichen Diskurs eine jüdische Sprecherposition einnehmen dürfe. Zahlreiche jüdische Personen des öffentlichen Lebens meldeten sich anschließend zu Wort. In einem offenen Brief solidarisierten sich 278 Unterzeichner und Unterzeichnerinnen mit Czollek.[13] Die Debatte habe sich mittlerweile in die nichtjüdische Öffentlichkeit ausgedehnt und verberge, worum es eigentlich gehe, sagte Hanno Loewy, Leiter des Jüdischen Museums Hohenems.[14][15]

Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Kontingentflüchtlinge und ihre Nachkommen bilden in Deutschland derzeit die Mehrheit sowohl in den jüdischen Gemeinden als auch in der jüdischen Bevölkerung. Ab 1991 hatten Juden aus der Sowjetunion und Menschen mit jüdischen Vorfahren aus deren Nachfolgestaaten die Möglichkeit, als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland einzureisen. In den Melderegistern der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten ist Jüdisch eine Nationalität, die gewöhnlich vom Vater übernommen wird. Jüdische Kontingentflüchtlinge wurden in ihren Heimatländern nach diesem Merkmal ausgewählt. Im Falle einer gemischtreligiösen Ehe waren Personen laut ihren amtlichen Dokumenten Juden und waren gleichberechtigte Mitglieder in den jüdischen Gemeinden in der Sowjetunion. Sie hatten auch unter dem Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft zu leiden. Josef Schuster, Präsident des Zentralrat der Juden in Deutschland, spricht in der Jüdischen Allgemeine von einem „Modetrend“.[16] Erica Zingher bezeichnete die Frage in der taz als einen „verschleppten Konflikt“.[17]

Verfolgte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Nationalsozialismus in Deutschland unterschied nicht zwischen „Vaterjuden“ und Juden. Sie wurden genauso verfolgt und ermordet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie zwischen 1948 und 1953 als „wurzellose Kosmopoliten“ sowie 1952 im Zuge der angeblichen „Ärzteverschwörung“ von Josef Stalin verfolgt.

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b Alina Gromova: Von Vaterjuden und anderen Bezeichnungen, auf die wir gut verzichten können. Deutscher Kulturrat, 29. März 2021, abgerufen am 16. April 2021.
  2. Ruth Zeifert: Nicht ganz koscher: Vaterjuden in Deutschland. Hentrich und Hentrich Verlag, Berlin, ISBN 978-3-95565-208-1, S. 32.
  3. Meron Mendel: Juden zweiter Klasse. In: Die Zeit. 18. August 2021, abgerufen am 9. September 2021.
  4. Stefanie Oswalt: Nicht ganz koscher? – "Vaterjuden" in Deutschland. In: Deutschlandfunk Kultur. 12. Mai 2017, abgerufen am 16. April 2021.
  5. Lea Wohl Haselberg, Rabbiner Arie Folger: Mehr Rechte für »Vaterjuden«? 26. Juni 2017, abgerufen am 16. April 2021.
  6. Frau und Mann. In: Jüdische Allgemeine.
  7. Ruth Zeifert: Spannungsfeld Identitätskonflikt: Patrilinear jüdisch. In: Aleksandra Lewicki (Hrsg.): Religiöse Gegenwartskultur zwischen Integration und Abgrenzung, Lit Verlag, Münster/Berlin 2012, ISBN 978-3-643-10496-0, S. 245
  8. Andreas Nachama, Walter Homolka, Hartmut Bomhoff: Basiswissen Judentum. Freiburg: Herder, 2015, S. 23
  9. Jessica Donath: Angela Buchdahl. Buddhistische Wurzeln, Jüdische Allgemeine, 3. Juni 2021
  10. Über uns – Beth Shalom – Liberale jüdische Gemeinde München Beth Shalom e.V. Abgerufen am 16. April 2021.
  11. Josef Schuster: Nach den Regeln der Religion. In: juedische-allgemeine.de. Jüdische Allgemeine, 24. August 2021, abgerufen am 6. September 2021.
  12. Ignatz Bubis, in: Kai Hafez, Udo Steinbach (Hrsg.): Juden und Muslime in Deutschland. Minderheitendialog als Zukunftsaufgabe. Hamburg: Deutsches Orient-Institut, 1999, ISBN 3-89173-054-3. Quellenangabe unvollständig!
  13. Spiegel: Viele Kulturschaffende unterstützen Lyriker Max Czollek, abgerufen am 14. September 2021
  14. Streit um jüdische Identität „Ausgesprochen unappetitliches Medienecho“ Deutschlandfunk Kultur, abgerufen am 15. September 2021.
  15. Streit ums Judentum Wer gilt als Jude und wer darf als solcher reden? Deutschlandfunk Kultur, abgerufen am 14. September 2021
  16. Josef Schuster: Nach den Regeln der Religion. In: juedische-allgemeine.de. Jüdische Allgemeine, 24. August 2021, abgerufen am 6. September 2021.
  17. Erica Zingher: Debatte um „Vaterjuden“: Verschleppter Konflikt. In: Die Tageszeitung: taz. 15. September 2021, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 17. September 2021]).