Wer ist Jude?

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Die Frage Wer ist Jude? (hebräisch מיהו יהודי mihu jehudi) steht für eine innerjüdische Kontroverse, die besonders in Deutschland und Israel von Bedeutung ist.[1][2]

In Westeuropa war die Untrennbarkeit religiöser und nationaler Komponenten jüdischer Existenz bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein nicht in Frage gestelltes Prinzip. Ab 1770 wurde im Zuge der Haskala und später der jüdischen Emanzipation das Thema zunehmend virulent.[3][4] Juden waren Deutsche jüdischen Glaubens und waren als solche anerkannt.

Die Problematik ist spätestens seit 1962 offensichtlich, als sich mehrere Gerichte in Israel mit der Zugehörigkeit zum Judentum auseinandersetzten, sowie später dann mit der Einwanderungswelle russischer Juden.[5] Das Recht auf Einwanderung nach Israel (Alija) hat jeder, der mindestens einen jüdischen Großelternteil hat. In Russland und der Sowjetunion wurde die jüdische Nationalität in der Regel über den Vater weitergegeben. Nach den staatlich sanktionierten Regeln des orthodoxen Oberrabbinats gilt als Jude im religiösen Sinne aber nur, wer eine jüdische Mutter hat oder nach den orthodoxen Regeln zum Judentum konvertiert ist. Das führt dazu, dass Vaterjuden in Israel verpflichtet sind, ihren dreijährigen Wehrdienst, auch in Kriegszeiten, abzuleisten, aber wenn sie als Soldaten sterben, nicht neben ihren Kameraden nach jüdischem Ritus bestattet werden. Vaterjuden dürfen in Israel auch nicht nach jüdischem Ritus heiraten. Da es in Israel keine Zivilehe gibt, sondern die Ehe jeweils nach dem Familienrecht der Religion geschlossen wird, der die Brautleute angehören, führt das zu großen praktischen Problemen. Nach einer Schätzung aus dem Jahr 2016 können 660.000 Menschen in Israel nicht heiraten.[6]

Betroffen von dieser Diskrepanz sind Vaterjuden wie Theodor W. Adorno, Juden deren Väter Juden sind, während ihre Mütter nach Ansicht orthodoxer Rabbiner dem Judentum nicht angehören, sowie Juden, die bei einem Rabbiner des liberalen Judentums zum Judentum konvertierten.

Wer ist Jude bei lediglich einem jüdischen Elternteil?[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Tanach ist die Abstammung patrilinear, die Rabbinen haben jedoch eine matrilineare Abstammung in der Mischna eingeführt, die seither als halachisch gilt.

Während das orthodoxe und konservative Judentum nur als Juden von Geburt an akzeptiert, wer eine Mutter hat, die zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes halachisch gesehen Jüdin war, wird in Gemeinden des Reformjudentums der Vereinigten Staaten neben der matrilinearen auch die patrilineare Abstammung akzeptiert, vorausgesetzt, das Kind wird jüdisch erzogen.

Im karaitischen Judentum und in der karaitischen Halacha, obgleich es auch dort unterschiedliche Auslegungen gibt, spielt es keine Rolle, ob Vater oder Mutter des Kindes jüdisch sind. Ist ein Elternteil nach karaitischer Halacha jüdisch, ganz gleich ob konvertiert (karaitisch oder rabbinisch) oder geboren, tritt das Kind durch die Beschneidung (hebräisch בְּרִית מִילָה Brīt Mīlah), in den Bund ein. Die Rabbinische Halacha hat unter karaitischen Juden keine Autorität.

Konversions-Debatte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der Konversions-Debatte geht es um die Frage, in welchen Fällen ein Giur (hebräisch גיור) als gültig zu erachten sei. Dabei nahmen die Vertreter der orthodoxen Position den Standpunkt ein, dass nur eine Aufnahme in das Judentum gültig sei, die von einem orthodoxen Rabbinatsgericht bestätigt worden sei, während die liberale Position dies auch bei einer Aufnahme durch einen liberalen Rabbiner für gültig hält.

1958 spitzte sich eine Kontroverse im israelischen Kabinett unter Premierminister David Ben-Gurion zu, wie dieser Terminus zu handhaben sei: im Sinne einer Identifikation mit dem Staat Israel oder im Sinne des halachischen Rechts. Ben-Gurion ließ Gutachten von jüdischen Gelehrten einholen, deren Mehrheit sich dafür aussprach, der halachischen Definition zu folgen.[7]

Im Jahr 2008 flammte in Israel die Debatte mit besonderer Schärfe auf, nachdem das Oberste Rabbinatsgericht die Entscheidung des lokalen Rabbinatsgerichtes (Beth Din) von Aschdod bestätigte, wonach die Konversion einer Frau, die durch den Siedlerrabbiner Chaim Druckman durchgeführt wurde, für ungültig zu erklären sei. Diesem wurde vorgeworfen, die Halacha willentlich und wissentlich gebrochen sowie Dokumente gefälscht zu haben. Damit standen aber weitere tausende von Konversionen infrage. Hintergrund dieser Auseinandersetzung ist ein politischer Konflikt zwischen nationalreligiös gesinnten und ultraorthodox-nichtzionistischen Rabbinern. Als Folge dieser Schwierigkeiten wurde auch die Diskussion über ein weltweit anerkanntes Rabbinergremium aufgegriffen.

In der Debatte der Lebensumstände geht es um die Frage, in welcher Weise Handlungen – wie zum Beispiel die Konversion zu einer anderen Religion – oder Lebensumstände – wie beispielsweise Unkenntnis über eine jüdische Abstammung – die Identität eines Menschen als Jude berühren.

Der Fall Kaniuk und die Folgen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als prominenter Israeli hat Yoram Kaniuk 2011 gerichtlich durchgesetzt, dass in seinem Pass in der Rubrik Religion „ohne Religion“ anstatt „jüdisch“ steht. (Vor ihm hatte bereits 1977 Johanna Shelah, Ehefrau des Dichters und Aktivisten Yonatan Ratosh, des Anführers der Bewegung des Kanaanismus, dasselbe durchgesetzt.) Hunderte andere Israelis folgten ihm darin mittlerweile, und sogar ein neues Verb wurde im Hebräischen für diesen Vorgang gebildet: lehitkaniuk. Der Versuch, als Nationalität anstelle von Jüdisch „Hebräisch“ (hebrew) einzutragen, wurde allerdings abgelehnt. In einem späteren Fall lehnte das Oberste Gericht auch einen Antrag des Linguisten Uzzi Ornan ab, in seinen Pass als Nationalität israelisch, anstelle von jüdisch, eintragen zu lassen.[8]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Judah David Bleich: The Conversion Crisis: A Halakhic Analysis. In: Tradition: A Journal of Orthodox Jewish Thought 11/4 (1971), S. 16–42.
  • Judah David Bleich: Contemporary Halakhic Problems. Band 1. Ktav, New York 1977, Kap. 13 (The Conversion Crisis) und Band 2, 1983, Kap. 4 (Marriage, Divorce and Personal Status), S. 103–107.
  • Simon N. Herman: Jewish identity. A social psychological perspective. 2. Auflage. Transaction Publishers, New Brunswick 1989, ISBN 0-88738-256-8.
  • Avraham Korman: Yehudi: Mi-hu U’ma-hu. 3. Auflage. Safriyati, Tel Aviv 1979.
  • B. Litvin, S.B. Hoenig (Hrsg.): Jewish Identity. Modern Responses and Opinions on the Registration of Children of Mixed Marriages. Feldheim, New York 1965.
  • Pnina Lahav: Judgment in Jerusalem: Chief Justice Simon Agranat and the Zionist Century. University of California Press, Berkeley 1997, Kap. 12: Who is a Jew? Mit weiterer Literatur
  • Salcia Landmann: Wer sind die Juden? Geschichte und Anthropologie eines Volkes. Dtv, München 1982, ISBN 3-423-00913-6.
  • Aaron Lubling: Conversion in Jewish Law. In: Journal of Halacha and Contemporary Society. Band 11, 1985.
  • Raphael Posner: Jew. Halakhic Definition, Artikel in: Encyclopaedia Judaica. 2. Auflage, Macmillan 2007, Band 11, S. 254f.
  • Avner H. Shaki: Mihu Yehudi Bedinei Medinat Yisrael. 2 Bände, Publications of the Faculty of Law, University of Tel Aviv 16 / Machon Lecheker Hamishpachah, Tel Aviv 1977.
  • Michael Stanislawski: A Jewish Monk? A Legal and Ideological Analysis of the Origins of the ‘Who Is a Jew’ Controversy in Israel. In: Eli Lederhendler, Jack Wertheimer (Hrsg.): Text and Context: Essays in Modern Jewish History and Historiography in Honor of Ismar Schorsch. Jewish Theological Seminary, New York 2005, S. 548–577.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Wer gilt als Jude und wer darf als solcher reden? Deutschlandfunk Kultur. Abgerufen am 1. September 2021.
  2. S. Zalman Abramov: Perpetual dilemma. Jewish religion in the Jewish State. Associated University Press, Cranbury NJ 1976, Kap. 9: Who is a Jew, S. 270 ff: „One of the many contoversities periodically agitating public opinion in Israel, none is more acute and more fraught with emotion than the legal, religious, and historical definition of a Jew. No other issue has engendered so much dissension and public debate as this one.“
  3. S. Zalman Abramov: Perpetual dilemma. Jewish religion in the Jewish State. Associated University Press, Cranbury NJ 1976, Kap. 9: Who is a Jew, S. 271
  4. Lawrence H. Schiffman: Who was a Jew? – Rabbinic and Halakhic perspectives on the Jewish-Christian Schism. Ktav Publishing House, 1985, Vorwort, S. IX
  5. Vgl. z. B. Ephraim Tabory: The Israel Reform and Conservative Movements and the Market for Liberal Judaism. In: Uzi Rebhun, Chaim Isaac Waxman (Hrsg.): Jews in Israel. Contemporary Social and Cultural Pattern. 2. Auflage. University Press of New England, Brandeis / Lebanon NH 2004, S. 285–314, hier S. 296 ff.
  6. Heiraten in Israel - Die Macht des Oberrabinats. Abgerufen am 5. September 2021 (deutsch).
  7. Vgl. die Dokumentation in Sidney B. Hoenig, Baruch Litvin (Hrsg.): Jewish Identity: Modern Responsa and Opinions on The Registration of Children of Mixed Marriages – David Ben-Gurion’s Query to Leaders of World Jewry. Philip Feldheim, New York 1965.
  8. Constitutional Law: Ornan v. Ministry of the Interior. Case number CA 8573/08, 2. Oktober 2013